G. Stötzel u.a. (Hg.): Zeitgesch. Wörterbuch der dt. Gegenwartsprache

Cover
Titel
Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache.


Herausgeber
Stötzel, Georg; Eitz, Thorsten
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Dipper, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Nachschlagewerke haben Konjunktur, und es wäre interessant, etwas über deren Gründe zu erfahren. Aber leider gibt es keine Konjunkturgeschichte der Wörterbücher, Hilfsmittel und Bestandsaufnahmen – und wahrscheinlich ist es dafür auch noch zu früh, jedenfalls was die gegenwärtige Konjunktur betrifft.

Der emeritierte Düsseldorfer Linguist Georg Stötzel hat mit Schülern ein Nachschlagewerk erarbeitet, dessen Titel Historiker im ersten Moment in die Irre zu führen vermag. In ihrer „déformation professionelle“ glauben sie nämlich, es handle sich tatsächlich um ein Wörterbuch zur Subdisziplin ‚Zeitgeschichte’, und das wäre um so willkommener, als diese eher theorielose Abteilung dringend eines Anstoßes bedarf, was denn eigentlich ihr Stoff ist und worum es zu gehen hat. Ein Wörterbuch könnte hierzu vielleicht einen Anfang machen. Aber das ist erklärtermaßen nicht sein Ziel (S. 4). Es handelt sich vielmehr laut Untertitel um ein „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“, „das sich“, so der Klappentext, „als an der kommunikativen Praxis orientierte Ergänzung zu den großen Wörterbüchern versteht“. Die Schwelle zur Gegenwart bilde das Jahr 1945 (S. 3), und man wundert sich ein wenig, dass die Sprachgeschichte an einer politisch-institutionellen Zäsur ansetzen soll. Das mag konventionell sein (auch Historiker periodisieren viel zu oft gedankenlos entlang politischer Daten), ein Nachweis wird jedenfalls nicht versucht. Noch nicht einmal die vier, fünf aus der NS-Zeit mit ins Lexikon genommenen Stichworte „Anschluss“, „Doppelverdiener“, „entartete Kunst“, „Konzentrationslager“ und „Mischehe“ belegen das – ja gerade sie nicht. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Was wird man in diesem Wörterbuch finden? Geht es eigentlich um den gegenwärtigen Wortschatz, also den der „Nachwendezeit“ (Fehlanzeige übrigens, trotz „Wende“), oder um den seit 1945 registrierten politisch-sozial-kulturellen Sprachwandel? Aus den einleitenden Erläuterungen lässt sich das nicht mit Sicherheit entnehmen. Dort ist davon die Rede, dass man lediglich das „diskursrelevante Vokabular“ registriere, das sich „seit 1945 als zeitgeschichtlich besonders aufschlussreich“ (S. 3) erwiesen habe. Aber welche Diskurse hier als maßgeblich betrachtet werden, bleibt einigermaßen im Dunkeln. Dass die ‚tabloid press’ nicht dabei ist, merkt man sofort, weil beispielsweise „Luder“ fehlt – sicherlich ein Schlüsselbegriff jener gegenwärtigen Jägersprache, die auch unter „Anstand“ etwas anderes als üblich versteht. Es handelt sich natürlich auch nicht um eine erweiterte Sammlung der ‚Unworte des Jahres’; dafür ist die Gesellschaft für deutsche Sprache zuständig. Trotzdem finden sich auch hier solche Unworte wie beispielsweise „Quothilde“ und „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“. Weil von „fringsen“ nicht die Rede ist, das 1947 wahrscheinlich diskursrelevant war, aber heute vergessen ist, handelt es sich beim Zeitgeschichtlichen Wörterbuch offenbar auch nicht um den Versuch einer bloßen Registratur von Neologismen der politischen Sprache seit 1945.

Um es kurz zu machen: Die Antwort, welche Diskurse hier als maßgeblich betrachtet und entsprechend herangezogen bzw. ausgewertet worden sind, lässt sich nur näherungsweise finden. Die Herausgeber jedenfalls enthalten sie uns vor. Die Kriterien müssen also durch Lektüre erschlossen werden. Unschwer lassen sich fünf Großthemen und ihre Schlüsselwörter erkennen. Es sind dies ‚1968’ und die ‚bleierne Zeit’ (mit Stichworten wie APO, Berufsverbot, Bulle, Establishment, Sexuelle Revolution, Sympathisant, Terrorismus usw.), die Ökologie (Atom-, Grün, Smog, Umwelt, Waldsterben), die Neuen Sozialen Bewegungen (Frauenquote, Homo-Ehe, Hure, Lesbe, Schwul) und die Neue Soziale Frage (Arbeit, Frauenarbeit, Neue Armut, Pflegearbeit, Quotenfrau, Senioren), die Wiedervereinigung und das Thema der deutschen Identität (Anschluss, Beitritt, Doppelpass, Einwanderungsland, Friedliche Revolution, Leitkultur, Mauer, Mitteldeutschland, Reichstag) und schließlich der medizinisch-ethische Komplex, der gegenwärtig in aller Munde ist (Abtreibung, Aids, Beratungsschein, Embryonale Stammzellenforschung, Hirntod, Klonen, Pille). Das Standardrepertoire politisch-verfassungsrechtlicher Termini darf natürlich nicht fehlen (Demokratie, Lauschangriff, Rechter Terrorismus). Es findet sich aber auch Unerwartetes, das in keine der genannten Schubladen passt: „Rechtschreibreform“ etwa oder das ganz gewiss marginale „Vierte Reich“.

Die 64 Artikel beginnen wie beim Duden – und in Anlehnung an ihn – mit sprachlichen und grammatikalischen Hinweisen und einer kurzen Sacherklärung. Im Anschluss daran werden Schlüsselbelege gebracht, die zum besseren Verständnis in ihre historische Umgebung eingebettet sind, so dass sich das Lexikon auch wie eine, allerdings unzusammenhängende und immer neue Anläufe unternehmende Kurzdarstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte – samt der entsprechenden Literatur (ca. 25 Seiten umfasst die Bibliografie) – lesen ließe. Sprachbezogene Reflexionen sucht man allerdings vergebens, wie überhaupt die Artikel, obwohl gezeichnet, so objektiv wie möglich daherzukommen suchen. Aber wer eine Geschichte erzählt, gibt ihr natürlich auch einen Sinn, und so wäre es besser, jedenfalls ehrlicher gewesen, wenn die Autoren sich offen dazu bekannt hätten; vor allem die bilanzierenden Schlusspassagen kommen ohne Sinnstiftung nicht aus. Aber gerade diese gewissermaßen subkutanen Deutungsversuche sind ärgerlich, weil auf der anderen Seite jeder Versuch unterbleibt, die Befunde insgesamt zu bewerten und mit der Geschichte Nachkriegsdeutschlands abzugleichen.

Über Relevanz lässt sich bekanntlich trefflich streiten, und so sei die Frage erlaubt, welche für die Bundesrepublik relevanten Diskurse hier fehlen. Sie ist natürlich niemals eindeutig zu beantworten, aber so viel fällt schon auf den ersten Blick auf: Von der ‚Unwirtlichkeit unserer Städte’ (von „Entmietung“ über „Grünzug“ bis „Technologiepark“ gäbe es manches zu registrieren) ist hier ebensowenig die Rede wie von der Friedensbewegung und ihrem Vokabular („Mutlangen“). Zu kurz kommen auch Bereiche wie Bildung, Konsum und Wirtschaft, wobei letztere immerhin mit Stichworten wie „Gastarbeiter“, „soziale Marktwirtschaft“ und „Standort Deutschland“ vertreten ist. Auch vom gutmütig diskriminierenden „Mitbürger“ wird hier nicht gehandelt. Und was ist eigentlich mit dem „Generationenvertrag“? Völlig ausgeblendet bleibt auch die ‚chronique scandaleuse’ der Bundesrepublik. Hat sie denn keine diskursrelevanten Vokabeln hervorgebracht? Seit 15 Jahren weiß aber doch jeder, was ein „Amigo“ ist.

Gewollt ist die Privilegierung der Gegenwart, ohne dass dies näher begründet wird. Skeptiker würden einwenden, das Wörterbuch veralte umso schneller, je mehr es sich auf die Gegenwart konzentriere, während Historiker sicherlich bedauern, dass die Zeit vor 1970 deutlich unterprivilegiert ist. „Zone“ etwa wurde ebensowenig registriert wie „drüben“, dessen Mehrdimensionalität doch wohl einige Hinweise verdient hätte und jedenfalls zu Zeiten diskursrelevant war. Erstbelege häufen sich auffallend in diesem Lexikon, je näher man unserer eigenen Zeit kommt („Berufsverbot“ 1976, „Grüne“ Ende der 1970er-Jahre, „Hirntod“ seit den 1980ern, „Waldsterben“ 1981, „Doppelpass“ 1993, „Leitkultur“ 1998 usw.). Man könnte meinen, die Lage würde immer kritischer – dabei sorgt nur die Medialisierung für immer schrillere Töne, damit Botschaften (wenn es denn welche sind) überhaupt noch gehört werden. Ein Zeitgeschichtliches Wörterbuch kann natürlich keinen Filter einbauen, aber es müsste auf die sich ändernden Rahmenbedingungen unseres Sprachverhaltens wenigstens hinweisen.

Daraus ergibt sich schließlich die Frage, ob dieses Wörterbuch zur Zeitgeschichte sprachliche Weichenstellungen oder Epochengrenzen aufzuzeigen vermag. Den Historiker interessiert sie vielleicht am meisten. Fast überflüssig zu sagen, dass die Herausgeber auch dazu schweigen. Die von ihnen gewählte Zäsur von 1945 dementiert aber schon ein Kontrollblick auf die wenigen Stichwörter, die sie dem „Dritten Reich“ zuordnen (und gleichwohl hier abhandeln). „Entartete Kunst“ (Erstbeleg 1797) verschwand erst Mitte der 1950er-Jahre, „Doppelverdiener“ verlor ebenso damals seinen diskriminierenden Charakter (der aber bis heute abrufbar bleibt, weil ihm der biologistische Bedeutungsgehalt fehlt, und nur er gilt inzwischen als untragbar). Beide Termini verweisen auf eine Weltanschauung und Lebensform, die tatsächlich nicht schon 1945 verschwunden war, sondern im Gegenteil damals noch einmal restauriert werden sollte und entsprechend beschworen wurde: Sie entstammen in Wahrheit dem bürgerlichen ‚Wertehimmel’ und gingen erst mit dessen Restbeständen unter.

Andere Epochengrenzen sind schwerer auszumachen, doch hat ‚1968’ fraglos sprachschöpferisch gewirkt, auch wenn das nicht jeder als Bereicherung empfand. Vor allem aber hat der gesellschaftliche und kulturelle Wandel, der oft, aber zu Unrecht, mit dieser Jahreszahl assoziiert wird, eine stetige Erweiterung unseres Vokabulars bewirkt. Inwieweit hier bewusste Sprachschöpfung im Spiel war, wird sich nur im Einzelfall entscheiden lassen.

Anders verhält es sich bei der zweiten großen Antriebskraft für sprachlichen Wandel, der aus den USA herübergeschwappten ‚political correctness’. Wenn man ihr nicht schon „Gastarbeiter“ und „Senioren“ zurechnen will, hat sie sich in dem hier registrierten Vokabular so gut wie gar nicht niedergeschlagen. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Sprach- wie jede andere Polizei bei Verboten erfolgreicher ist als bei Geboten. Bei Akten der Sprachschöpfung wetteifern Interessengruppen miteinander mit dem Ergebnis, dass das Wortfeld statt kontrollierbar oft unüberschaubar wird. „Behinderte“ ist so ein Fall: Einerseits ändert die „Aktion Sorgenkind“ 1999 ihren Namen in „Aktion Mensch“, andererseits betreiben Initiativen ‚von unten’ den bewussten Tabubruch und setzen das stigmatisierte „Krüppel“ für ihr Ziele ein (Vergleichbares geschah bei „Hure“ und „Homo“, zwei ebenfalls hier registrierten Vokabeln).

Man liest sich natürlich wie bei jedem Lexikon fest und kommt beim Blättern ins Grübeln, aber was der hier registrierte Wortschatz eigentlich zu bedeuten hat, bleibt unklar. Die Herausgeber verschweigen ihre Kriterien und blenden die sich ändernden Bedingungen politischer Sprache vollständig aus. Aha-Erlebnisse und Frust sind nahe beieinander. Und wenn man über den Index vorgeht, stört dort, dass nicht die Seitenzahlen, sondern die Artikelnummern angegeben sind. Eine Fleißarbeit also, deren Sinn sich, dem Historiker jedenfalls, nicht so recht erschließen will.

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