N. Vittinghoff: Die Anfänge des Journalismus in China

Cover
Titel
Die Anfänge des Journalismus in China (1860 –1911).


Autor(en)
Vittinghoff, Natascha
Reihe
opera sinologica 9
Erschienen
Wiesbaden 2002: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Kühner, Seminar für Sinologie, Humboldt- Universität zu Berlin

In der Folge der Überlegungen von Jürgen Habermas zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit und der Untersuchungen von Benedict Anderson und anderen zur Bedeutung der Presse für die Bildung nationaler Identitäten 1 hat sich der Blick von Historikern und Sozialwissenschaftlern zunehmend auf das Thema der Funktion der öffentlichen Sphäre bei der Entstehung moderner Staaten und Gesellschaften gerichtet. So zeichnet sich auch die Untersuchung von Natascha Vittinghoff gegenüber früheren westlichen und chinesischen Arbeiten über die chinesische Presse unter anderem dadurch aus, dass sie diese neueren theoretischen Ansätze aufnimmt und anwendet. Diese Studie, die wie einige andere Monografien im Zusammenhang mit dem Heidelberger Projekt „Die Shanghaier chinesisch-sprachige Presse in ausländischem Besitz und die Transformation der öffentlichen Sphäre in China 1870-1917“ entstanden ist 2, beansprucht daher mehr als frühere Arbeiten fortzuführen und zu ergänzen.3 Vielmehr will sie eine Antwort auf die Frage geben, welche Bedeutung und Funktion die frühe Presse für die Bildung einer neuen Form von Öffentlichkeit um die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte. Im Anschluss an die Thesen der wichtigsten Vertreter der modernen Nationalismustheorie (Hobsbawm, Gellner, Anderson) 4 stellt sie schließlich die Frage, welche Rolle die Presse bei der Entstehung oder Erfindung des modernen chinesischen Nationalismus spielte. Gleichzeitig sollen die Ergebnisse früherer Arbeiten zur chinesischen Pressegeschichte grundlegend in Frage gestellt werden. Verbreitete (Vor)Urteile wie die Behauptungen, dass die frühen chinesischen Zeitungen „voll von Trivialitäten [...] gewesen seien, dass die [Verlags-, der Rezensent] Häuser vor allem aus kommerziellem Interesse betrieben worden wären und daher politisch keine Bedeutung gehabt hätten, und dass die Produzenten dieser Blätter gescheiterte Existenzen gewesen seien [...]“, sollen revidiert werden (S. 14). Das konventionelle Bild der Geschichte der chinesischen Presse, das, so N. Vittinghoff, monopolistisch von Liang Qichao und seiner Schule bestimmt wurde, soll grundlegend korrigiert werden. Nicht erst mit der um die Jahrhundertwende erscheinenden Qingyi bao von Liang Qichao, sondern schon mit den früheren, oft als „Kompradorenzeitungen“ bezeichneten Presseorganen habe seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine chinesische Presse existiert, die als Plattform für die Diskurse einer neuen Elite diente. Schon im 19. Jahrhundert sei die Presse zum „Verhandlungsort der zentralen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen der späten Qing-Zeit“ geworden (S. 1).

Neben der Darstellung und Kritik der bisherigen Forschungen und ihrer Vorurteile in den Kapiteln I, V und IX bietet das Buch im Einzelnen eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Institutionen der frühen Presse (die, wie N. Vittinghoff betont, nicht ausschließlich westlicher Import ist, sondern sich auch auf die Tradition der chinesischen Beamtenzeitungen stützen konnte und sich mit dieser Tradition auseinandersetzen musste) in Kapitel II, eine eindrucksvolle und viele interessante Erkenntnisse ergebende Analyse der Akteure (Produzenten und Leser) in Kapitel III, eine Beschreibung der ökonomischen und technischen Produktionsbedingungen in Kapitel IV, Textprofile der einzelnen Zeitungen mit Beispielen in Kapitel VI, die Beschreibung der programmatischen und politischen Positionierung der Zeitungen im politischen Umfeld in Kapitel VII, schließlich die Darstellung der Entwicklung zu einer zunehmenden Professionalisierung des Journalismus in Kapitel VIII. Ergänzt werden diese Abschnitte durch einen umfangreichen und informativen Anhang, mit einer Dokumentation aufschlussreicher Zeitungstexte und Korrespondenzen, biografischen und finanziellen Daten etc.

Besonders wertvoll und aufschlussreich ist die Studie von N. Vittinghoff durch die intensive Auswertung zahlloser Quellen zur chinesischen Pressegeschichte, die bisher nicht zugänglich waren oder nicht berücksichtigt wurden: Es sind zum einen die Zeitungstexte selbst, aber auch die Erinnerungen der Akteure und andere Schriften, ebenso Texte aus westlichen und chinesischen Archiven sowie schließlich die neuere chinesischsprachige Forschung. Auf der Grundlage dieser Texte entsteht tatsächlich ein neues Bild der journalistischen Szene in Hongkong und Shanghai, wobei der Schwerpunkt auf den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts liegt. Des Weiteren ist eine Konzentration auf die zwei bedeutendsten unabhängigen Zeitungen dieser Epoche festzustellen, nämlich die von Wang Tao 1874 in Hongkong gegründete und von ihm geleitete Xunhuan Ribao und die 1872 von John Major in Shanghai gegründete Shenbao. Aber auch die bisher kaum beachteten halboffiziellen „Beamtenzeitungen“ wie Huibao, Yibao oder Xinbao werden in dem Maß vorgestellt wie die lückenhafte Quellenlage es erlaubt.

Eine stilistische Eigenheit dieses Buches, die stellenweise störend wirkt, will ich nur deshalb hier erwähnen, weil sie sich immer weiter zu verbreiten und in sozialwissenschaftlichen Texten die deutsche Sprache zu verdrängen droht. Es ist die Tendenz zu überflüssigen Anglizismen und falschen direkten „Übersetzungen“ aus dem Englischen: So ist der britische „Minister“ in Peking (S. 89 und öfter) im Deutschen kein „Minister“, sondern ein Gesandter; ein englischer „editor“ ist im Deutschen kein „Editor“ (S. 102 und öfter), und „partiell“ ist nicht immer das deutsche Äquivalent von „partial“, sondern kann (und sollte an dieser Stelle, S. 234) auch „parteiisch“ bedeuten. Ob sprachliche Innovationen wie „emulierte“ (S. 111) seinem ästhetischen Empfinden entsprechen, werden die Leser selbst entscheiden müssen.

Das Buch von N. Vittinghoff zeichnet sich durch viele Qualitäten aus, und es sind ihm viele Leser auch aus anderen Disziplinen und Regionalwissenschaften zu wünschen, denn die Lektüre erlaubt es, interessante Vergleiche mit der Rolle und Entwicklung der Presse in anderen kolonialen, halbkolonialen oder postkolonialen Staaten zu ziehen. Das gründliche Studium der enorm zahlreichen Quellen, die neuen Daten über die Produktionsbedingungen der frühen Presse und die Informationen über die Akteure und Institutionen, ebenso die Ausführungen über die Presse als zentraler Ort der kulturellen und politischen Diskurse einer verunsicherten Elite sind beeindruckend und in weiten Teilen überzeugend. Auf jeden Fall ist es Natascha Vittinghoff gelungen, viele der oben zitierten Vorurteile zu widerlegen oder zumindest zu relativieren. Waren früher viele der Auffassung, es lohne sich nicht, sich die frühe „Kompradorenpresse“ genau anzusehen, zeigt diese Arbeit, dass die frühe chinesische Tagespresse eine wichtige Rolle für die Entstehung einer neuen Form von Öffentlichkeit in China gespielt hat, an der sich auch neue oder bisher in der Öffentlichkeit nicht repräsentierte gesellschaftliche Kreise und Schichten beteiligten. Erfolgreich widerlegt wird nicht zuletzt auch der verbreitete Eindruck, in der frühen Presse habe in kultureller Hinsicht der westliche Einfluss dominiert. Die Arbeit von N. Vittinghoff stellt damit zweifellos ein Standardwerk zur chinesischen Presse des späten 19. Jahrhunderts (insbesondere der Zeit von 1870 bis 1890) dar, und es ist zu hoffen, dass es auch international zur Kenntnis genommen wird.

Anmerkungen:
1 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied am Rhein 1962; Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1988.
2 Janku, Andrea, Nur leere Reden. Politischer Diskurs und die Shanghaier Presse im China des späten 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Mittler, Barbara, A Newspaper for China? Power, Identity, and Change in Shanghai’s News Media, 1872 - 1912, Cambridge (Mass.), erscheint Dez. 2003.
3 Hier sollten erwähnt werden: Yutang, Lin, A History of the Press and Public Opinion in China, Shanghai 1936; Mohr, Wolfgang, Die chinesische Tagespresse. Ihre Entwicklung in Tafeln und Dokumenten, Wiesbaden 1976; Heck, Ewald, Wang Kangnian (1860-1911) und die Shiwubao, Sankt Augustin 2000.
4 Anderson, op. cit.; Hobsbawm, Eric J., Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990; Gellner, Ernest, Nation and Nationalism, Ithaca 1983.

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