H. Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung

Cover
Titel
Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung Band 1. Vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Schleier, Hans
Reihe
Wissen und Kritik 24/ 1
Erschienen
Waltrop 2003: Hartmut Spenner
Anzahl Seiten
X, 1191 S. in 2 Bd.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Deile, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena

‚Kultur’ ist seit etwa 10 Jahren das geisteswissenschaftliche Schlagwort schlechthin. Einerseits avancierte ‚Kulturgeschichte’ zum Verkaufsschlager in Buchhandlungen. Andererseits werden theoretische, methodische und praktische Probleme der Geschichtswissenschaft zunehmend unter dem Paradigma der ‚Kulturgeschichte’ verhandelt. Diese beiden Entwicklungen haben miteinander zu tun, behindern sich aber auch immer wieder gegenseitig. Zur Befriedigung des nach wie vor hohen Bedarfes an kritischer Reflexion gehört sowohl eine lebendige Theoriediskussion des Konzeptes ‚Kultur’ in der Gegenwart, als auch eine Aufarbeitung der Traditionen des zugleich alten wie neuen Fachbereiches Kulturgeschichte. Seit Stefan Haas’ Pionierstudie zur Historischen Kulturforschung zwischen 1880-1930 1 drängt es nach mehr Geschichte der Kulturgeschichte.

Von Hans Schleier war eine solche Arbeit nach einschlägigen Artikeln in den 1990er Jahren 2 zu erwarten. Jetzt liegt er vor, der ‚Schleier’. Schwergewichtig. Auf 1191 Seiten wird ein Panorama der Kulturgeschichtsschreibung seit der Aufklärung entfaltet, in der Breite der Perspektive bisher einzigartig.

Schleier hat zweifelsohne ein Lebenswerk vorgelegt. Er hat Autoren ausgegraben, die trotz historischer Bedeutung im Zitations- und Reflexionskanon bisher nicht vorkamen. Er hat ihre Werke studiert, tiefgründig und umfänglich. So ergeben sich bisher noch nicht erlebte Einblicke in die reichhaltige Tradition der Kulturgeschichte. Der Leser gewinnt aber auch Einsichten in die Problemkontinuitäten des Faches: Nichtverankerung an den Akademien, Dilettantismus und Relevanzproblem. Kulturgeschichte erscheint als Problem aber auch gerade als Bereicherung und als Alternative zur kanonisierten universitären Geschichtswissenschaft. Diese ambivalente Fülle hat in ihrer Vielfalt noch niemand so gut vorgeführt wie Schleier.

Sein Zugriff ist klassisch. Er geht von den Protagonisten aus, von deren Leben und Werk. Insgesamt widmet sich Schleier im biografischen Zugang etwa 150 verschiedenen Autoren. Jeder Abschnitt ist gleich aufgebaut. Nach einem Abriss des Lebenslaufes beschreibt Schleier die jeweiligen Hauptwerke der Autoren.

Diese Einzelbiografien hat Schleier versucht zu arrangieren. Er fasst sie zu 5 Großabschnitten zusammen. Umklammert werden diese Ausführungen von einer Einleitung zum kulturgeschichtlichen Interesse der Gegenwart und einem synthetisierend angelegten Kapitel zum Kulturbegriff. Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung der Kulturgeschichte als universale Menschheitsgeschichte im Gegensatz zur vorherrschenden Legitimationsgeschichte von Kirche und Hof Ende des 18. Jahrhunderts thematisiert. Die Kulturgeschichte des „Vormärz“ ist nach Schleier vom Sammeln geprägt (Kap. 3) - eine Zeit der großen Museumsgründungen (Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg) und der Bewahrungsversuche in einer Zeit der Verluste traditioneller Lebensweisen. Neben dieser konservativen Richtung sieht Schleier aber auch eine Richtung entstehen, die als „Gesellschaftsgeschichte und Geschichte der Zivilisation in Reaktion auf den Modernisierungsprozeß“ (S. 399) versuchte, durch Positivismus (Buckle) und Naturwissenschaft (Hehn) die eigene Gegenwart zu verstehen (Kap. 4). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien Kulturgeschichte dann vor allem als Oppositionswissenschaft - im politischen Bereich (etwa bei Biedermann oder Scherr), im Gegensatz zur etablierten universitären Politikgeschichte (Henne am Rhyn, Steinhausen) aber auch als alternative Form der Darstellung (Freytag, Steinhausens Monografien).

Diese Gliederung des Stoffes in verschiedene Phasen wird, bis auf einen vorgeschalteten hervorragenden Abschnitt (S. 18-26), allerdings nicht interpretatorisch fruchtbar gemacht. Fast nie werden die einzelnen Autoren in Zusammenhänge eingeordnet und miteinander in Beziehung gebracht. Kulturgeschichte bleibt als kultureller Prozess, als Auseinandersetzung einzelner Individuen mit ihrer Umwelt in bestimmten symbolischen Formen, unerklärt. Inwiefern Steinhausen beispielsweise von Hehn oder Comte gelernt hat, die er in seiner Autobiografie explizit nennt,3 wird von Schleier nicht analysiert obwohl diese Verweise seiner intensiven Lektüre sicher nicht entgangen sind. Wie Kulturgeschichte wahrgenommen wurde und wie sie sich wahrgenommen hat – all das erfährt der Leser nicht. Vielleicht auch deshalb nicht, weil Schleier ‚Kultur’ als Synthesegrundlage verwirft (S. 11, 1092), vorschnell und etwas unreflektiert, wie ich meine. Denn der Arbeit liegt sowohl ein explizit propagierter weiter Kulturbegriff zugrunde (S. 8); andererseits kann nur ein sehr enger, normativer Kulturbegriff zu Kritik an „kulturnihilistische[n] Sprachpanscher[n, die heutzutage] immer blödsinniger in ein Schimpansen-Denglisch verfallen“ (S. 858) führen. Schleier will keine Kulturgeschichte der Kulturgeschichte. Ausdrücklich bekennt er sich stattdessen zur beschreibenden Präsentation des Stoffes: „Ich halte es mit G. G. Gervinus [...]: ‚Es hätte sich leicht mit etwas mehr Systematik alles durchsichtiger darstellen lassen, allein es kommt in der Geschichte darauf an, daß man die Sache selbst auch im Vortrage treu abbildet [...]“ (S. 37). Für die Breite dieser Beschreibung aber hat Schleier mit der Monografie eine ungünstige Form gewählt. Ein Lexikon, eine Enzyklopädie hätte meines Erachtens nach den besseren Zugang geboten, hätte das „Nachschlagen“ (S. 37) tatsächlich erleichtert.

Als biografische Enzyklopädie hätte der Zugang zur Geschichte der Kulturgeschichte über Leben und Werk einzelner Autoren seine Berechtigung gehabt. In der vorliegenden Form aber wird man Schleier vorwerfen können, er sei der biografischen Illusion 4 auf den Leim gegangen. Hilft es, die Geschichte der Kulturgeschichte zu verstehen, wenn man weiß, dass Riehl der „Sohn eines Tapezierers“ war und Biedermann der uneheliche Sohn einer Pfarrerstochter (S. 559). Jedes dieser Einzelleben war an sich komplex und Kulturgeschichte war nur jeweils ein Teil dieser Leben und nicht der alles umklammernde Endzweck. Der biografische Zugang bräuchte jeweils Einzelstudien, die diese Leben in ihrer Komplexität ernst nehmen könnten. Geht es allein um die Entwicklung der Kulturgeschichte im hier angestrebten universalen Sinne, dann scheint mir der biografische Zugang nicht der Königsweg zu sein, weil er verkürzt und gleichzeitig schlüssige Ganzheit suggeriert.

Dass eine Geschichte der Kulturgeschichte gerade jetzt erscheint, ist kein Zufall sondern durch gegenwärtiges Interesse motiviert. Insofern sind Gegenwart und Vergangenheit eng miteinander verbunden. Ansonsten liegen mitunter Welten zwischen der heutigen Kulturgeschichte und einzelner ihrer Entwicklungsphasen im Verlauf der letzten 300 Jahre. Für die Darstellung dieser Unterschiede bietet sich grammatisch eine der drei Vergangenheitszeitformen an. ‚Präsens historicum’ sollte ein rhetorisches Stilmittel des Außergewöhnlichen bleiben. Es ist verwirrend, dass bei Schleier Vergangenheit und Gegenwart grammatisch gleichermaßen präsentisch erscheinen.

Schleier präferiert den gesellschaftsgeschichtlichen Zugriff auf Vergangenheit als den sinnvolleren (S. 11). Diese Voraussetzung bewahrt das Werk davor, nur Propagandaschrift, nur Identitätsarbeit eines Kulturhistorikers zu sein. Schleier widersteht aber auch gänzlich der Versuchung, eine Geschichte der Kulturgeschichte als Beweis für deren Unzulänglichkeit zu schreiben. Das Werk ist im ganzen historistisch angemessen, sehr detailreich, sehr belesen, und sehr umfangreich. Es ist vorerst DIE Geschichte der Kulturgeschichtsschreibung in Deutschland – bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Wir warten gespannt auf Band II, für den die Besprechung brisanter Autoren wie Gothein, Burckhardt und Lamprecht angekündigt ist. Der ‚Schleier’ regt, trotz unübersehbarer Mängel, die Diskussion des Faches an und kann vorerst als Standardwerk gelten.

Anmerkungen:
1 Haas, Stefan, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln 1994.
2 Schleier, Hans, Deutsche Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts. Über Gegenstand und Aufgaben der Kulturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 70-98. Schleier, Hans, Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert. Oppositionswissenschaft, Modernisierungsgeschichte, Geistesgeschichte, spezialisierte Sammlungsbewegung, in: Küttler, Wolfgang; Rüsen, Jörn; Schulin, Ernst (Hgg.), Geschichtsdiskurs 3, Die Epoche der Historisierung, Frankfurt am Main 1997; S. 424-446.
3 Steinhausen, Georg, [Selbstdarstellung, in: Steinberg, Siegfried (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1., Leipzig 1925; S. 233-274, hier S. 236.
4 Bourdieu, Pierre, Die Illusion der Biographie. Über die Herstellung von Lebensgeschichten, in: BIOS 3 (1990), S. 75-81; Passeron, Jean-Claude, Le scénario et le corpus. Biographies, flux, itinéraires, trajectoires, in: ders., Le raisonnement sociologique. l'espace non-poppérien du raisonnement naturel, Paris 1991, S. 185-206.

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