K. Platt (Hg.): Genozid und Gedächtnis

Titel
Reden von Gewalt.


Herausgeber
Platt, Kristin
Reihe
Genozid und Gedächtnis
Erschienen
Paderborn 2002: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Großmaß, Universität Bielefeld

Wenn Gewalt stattfindet, ist nicht von Gewalt die Rede - die Opfer physischer Gewalt sprechen nicht, weil das Erleben von Ohnmacht, Schmerz, Verletzung und Sterben keine Sprache hat; die Täter sprechen vielleicht, nicht aber von der Gewalt. „Reden von Gewalt“ geht der Gewalt vorher oder folgt ihr nach. Es gibt immer schon Täter und Opfer, bevor das Reden beginnt. Dies gilt für Gewalttaten zwischen individuellen Personen, dies gilt auch für die kollektiven Gewalthandlungen: Krieg, Verfolgung und Genozid. Kein Reden über Gewalt, so die Konsequenz kann sich einer Positionierung entziehen.

Der vorliegende Reader stellt sich der Herausforderung, die sich daraus auch für die wissenschaftliche Analyse des Sprechens über Gewalt ergibt: Auch das wissenschaftlich erklärende Sprechen über Gewalt steht immer im möglichen Zusammenhang mit der Vorbereitung von Gewalttaten oder gehört in den Kontext der Aufarbeitung geschehener Gewalt. Die Rede von Gewalt muss daher auf ihre Verbindung zu legitimierenden Diskursen hin befragt werden, sie ist immer darauf zu überprüfen, was ausgegrenzt und dem Vergessen anheim gegeben wird.

Verlassen wird mit diesem Ansatz eine einflussreiche europäische Tradition der Reflexion über Gewalt, die Gewalt in Form einer ahistorisch-allgemein gefassten Kategorie in die Geschichtsphilosophie und Anthropologie einführt und ihr gesellschaftskonstituierende Funktionen zuspricht – wie in dem bekannten und in vielen Varianten immer noch verwendeten Konstrukt von Gesellschaft, das einem Gesellschaftsvertrag die Aufgabe zuspricht, das Anthropologikum Aggression/Gewalt zu bannen. Die Beiträge dieses Bandes grenzen sich explizit von solchen Modellen ab, ebenso von den Wegen René Girards oder von neueren kulturphilosophischen Ansätzen. Analysen, die wie die hier vorgelegten Sinn gebende Legitimierung vermeiden wollen, können im Gegensatz zu den kritisierten Positionen nicht abstrakt bleiben, sondern müssen sich auf konkrete historische Ereignisse beziehen lassen. Sie müssen zudem – dies formuliert die Einleitung Kristin Platts in den Reader sehr deutlich – auch der Tatsache Rechnung tragen, dass Täter- und Opferperspektive unüberbrückbar verschiedene bleiben. Beides gilt sowohl für historische Kontexte wie für aktuelle zeitpolitische Fragen.

Die Aufsatzsammlung versucht dem damit formulierten Anspruch nachzukommen, indem ein sehr breites Spektrum kritischer Positionen und Sichtweisen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen aufgenommen wurde. Vorgestellt werden Annäherungen aus der Geschichts- und Literaturwissenschaften, aus Mentalitätsgeschichte und Sozialgeschichte, aus Sozialpsychologie und Psychoanalyse sowie aus Diskursanalyse und Medienanalyse. Überraschenderweise erscheint der Band trotzdem nicht inhomogen. Vielleicht bis auf die beiden philosophischen Perspektivierungen von Kurt Röttgers (hier wird eine sozialphilosophisch fundierte Begriffsklärung vorgenommen) und Burkhard Liebsch (hier geht es um die Gewaltsamkeit einer Sprache, die geschehene und mögliche Gewalt mittransportiert) lassen sich die Erörterungen unter zwei konsequent in jedem Beitrag wieder aufgenommenen Schwerpunktfragen zusammenschließen: wie wird Gewalt denkbar und welche institutionalisierten Diskurse und sozialen Strukturen lassen sich hinter den Bedeutungszuschreibungen an Gewalt erkennen? Ein wichtiger Aspekt, der von mehreren Autoren verfolgt wird, ist das Aufdecken der Spuren von Gewalt im »Wissen« von Alltag und Wissenschaft. So analysiert Robert Hettlage soziale Ritualisierungen (z.B. die »Blutfehde«) in traditionalen Gesellschaften und Peter Gendolla mediale Folien für Mord und Massenmord.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung – der Band erschien in der Publikationsreihe »Genozid und Gedächtnis« des Wilhelm Fink Verlags – mit dem Nationalsozialismus, einerseits unter einer Fokussierung von Diskursen der Ermöglichung (Beiträge von Claus-Ekkehard Bärsch, Medardus Brehl, Peter Longerich), ferner unter Erörterung von Repräsentationen in Öffentlichkeit, Sozialisation, Erinnerung (in den Beiträgen von Stefan Hesper und Liliane Weissberg aus literaturwissenschaftlicher, Kurt Grünberg und Jürgen Straub aus psychoanalytischer und sozialpsychologischer Sicht). Dabei ist anzumerken, dass in der Mehrzahl der Artikel nicht nur neue Ansätze vorgestellt werden, sondern auch kritisch bestimmte Wissenstheorien aufgebrochen und interdisziplinäre Perspektiven aufgenommen werden: so konzipiert Peter Longerich in seiner historischen Analyse eine soziopolitische Figur von »Öffentlichkeit«, Wolfgang Müller-Funk überführt kulturphänomenologische Annäherungen ihren anthropologischen Spuren, Claus-E. Bärsch, Medardus Brehl und Peter Gendolla widerlegen grundsätzlich Vorstellungen von Propaganda und Manipulation, um die soziale und politische Meinungsbildung als Anschluss an Modellen oder Diskursen zu erörtern.

Insgesamt stellt der Band eine Einladung zur kritischen Reflexion dar, die gerade durch die Vielfalt der Zugangsweisen geeignet ist, feste Interpretationsschemata und Einordnungen aufzubrechen, auf die gerade die Geschichtswissenschaften in Einzelanalysen und historischen Deutungen häufig zurückgreifen.

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