H. Berghoff u.a. (Hgg.): The Making of Modern Tourism

Cover
Titel
The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Experience, 1600 -2000


Herausgeber
Berghoff, Hartmut; Korte, Barbara; Schneider, Ralf; Harvie, Christopher
Erschienen
Hampshire 2002: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
£ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Eisenberg, Großbritannien-Zentrum, Humboldt-Universität zu Berlin

Kooperationen zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern sind noch selten. Dieser Sammelband repräsentiert ein solches Beispiel. Er ging aus einer Tagung "The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Experience 1600-2000" hervor, die im Februar 2000 vom Großbritannien-Zentrum am Seminar für Englische Philologie der Universität Tübingen veranstaltet wurde und neben Anglisten und Anglistinnen auch Kunst-, Kultur- und Wirtschaftshistoriker zusammenführte. Die Ziele des Unternehmens umreißen in ihrer gemeinsamen Einleitung die Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte und der Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff: Nicht ein umfassender Überblick über 400 Jahre Reise- und Tourismusgeschichte wird angestrebt, sondern eine gezielte Analyse der Repräsentationen, Images und Symbole des modernen Tourismus. Ihre Herausbildung und Transformation stehen im Mittelpunkt des Interesses. Darüber hinaus sollen die Schnittstellen zwischen Tourismus und nationaler Identität sowie der Beitrag des Tourismus zur Entstehung der modernen Konsumgesellschaft betrachtet werden (S. 7-9).

Zu welchen Ergebnissen hat diese Kooperation geführt? Welches sind die neuen Erkenntnisse für die historische Tourismusforschung, welche Forschungsdesiderate sind geblieben? Um eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten, werden die 14 in dem Band versammelten, chronologisch nach dem Untersuchungszeitraum angeordneten Beiträge neu sortiert und nach Disziplinen gruppiert.

Von Literaturwissenschaftlern und Kulturhistorikern stammt die Mehrzahl der Beiträge. Ihr Interesse richtet sich teils auf die Anfänge des modernen Tourismus im 17. und 18. Jahrhundert, als die Images der Reiseziele und des Touristen erstmals konstruiert wurden, teils auf die Umformung und permanente Neukonstruktion dieser Images seit dem 19. und 20. Jahrhundert, die auf den zuvor gelegten Grundlagen aufbauen konnte. "The Making of Modern Tourism" war, so das Argument dieser Gruppe, ein Langzeitprozess und tief verankert in der kulturellen und intellektuellen, ökonomischen und sozialen Geschichte Europas. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Thema lassen sich innerhalb dieser Gruppe unterscheiden.

Ein erster Ansatz hebt den Beitrag von "travel writing" sowie Texten und Symbolen aller Art zur Herausbildung des "Tourist gaze" (John Urry) hervor. Diese Wahrnehmungsweise werde ganz wesentlich auch dadurch erzeugt, dass die angesteuerten Orte im Allgemeinen bereits zuvor semiotisch markiert gewesen seien – teils durch die europäische Geistesgeschichte, teils durch ältere Reisebeschreibungen. Chloe Chard arbeitet heraus, dass sich viele Touristen in dieser Situation bemüht hätten, die abgenutzten Sprachwendungen der Werbung zu vermeiden, und eine eigene Sprache zur Beschreibung ihrer Eindrücke entwickelt hätten. In dieser Sprache sei die Reise dann oftmals zum "adventure of the self" stilisiert worden (S. 60). Eveline Kilian zeigt am Beispiel Londons, wie Romane und bestimmte Formen des "London writing" diese subjektivierte Wahrnehmung noch unterstützen, indem sie "mental maps" der Stadt erzeugen. Tobias Doering untersucht den sog. "Necro-Tourism" zu Gräbern und Gedenkstätten, die – wie z.B. der berühmte Pariser Friedhof Père Lachaise oder auch Highgate in London – oftmals nicht nur für die Trauernden, sondern von vornherein auch für die Touristen angelegt worden seien. Und Gerhard Stilz analysiert, wie ästhetische Konzepte von Künstlern, die entfernte Länder bereisten und sie durch ihre Werke einem heimischen Publikum bekannt machten, sowohl in die Werbung für Reisen in diese Länder als auch in programmatische Äußerungen der Naturschutzbewegungen eingegangen sind.

Die von Stilz angedeuteten Rückwirkungen des "tourist gaze" auf die britische Herkunftsgesellschaft untersuchen ausführlicher weitere Autoren und Autorinnen, die für einen zweiten Ansatz in der Gruppe der Literaturwissenschaftler stehen. Zu dieser Gruppe gehört Helga Quadflieg, die in ihrem Beitrag herausarbeitet, wie in der Tudor-Zeit die mit Hilfe von "travel writing" erzeugten Vorstellungen der Briten von fremden Völkern zugleich die Konstruktion einer eigenen nationalen Identität mitbestimmt haben: "For all English early modern travellers England was always present as a reference point for descriptions, no matter what they described, and the comparison more often than not was in favour of England." (S. 34) Obwohl kein Literaturwissenschaftler im engeren Sinn, entwickelt der Kulturhistoriker Alexander C.T. Geppert eine vergleichbare Interpretation für die British Imperial Exhibitions zwischen 1880 und 1930. Sie hätten wesentlich dazu beigetragen, dass auch diejenigen, die niemals den Fuß aus London herausgesetzt hätten, eine konkrete Vorstellung vom Britischen Empire erhalten hätten – eine, wie Geppert argumentiert, wichtige Legitimationsleistung für den britischen Imperialismus vor dem Zweiten Weltkrieg.

So anregend sich diese mit literaturwissenschaftlichen Methoden erarbeiteten Beiträge auch lesen – für Historiker bleiben sie unbefriedigend. Denn der immer wieder bemühte Rekurs auf den "tourist gaze" als spezifisch moderne Wahrnehmungsweise vermittelt den Eindruck, die vier Jahrhunderte des Untersuchungszeitraums könnten aus der Perspektive der Tourismusgeschichte als zusammenhängende Periode betrachtet werden. In Barbara Kortes Aufsatz "Tourist identity and conditions of postmodern City. Tourism as metaphor of postmodern conditions" wird dieser Eindruck der 'Zeitlosigkeit' sogar explizit formuliert. Am Beispiel des Romans "England, England" von Julian Barnes, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des "heritage tourism", in dem die Verwandlung der Isle of Wright zu einem Themenpark des historischen England durchgespielt wird, erörtert sie die zeitgenössische Erfahrung des postmodernen Zusammenfließens von touristischer Wahrnehmung und 'richtigem Leben': "[A] tourist version of England has universalized into the thing itself." Das historiographische Problem dieser Interpretation besteht weniger in der Zuspitzung der Aussage als in der Ausblendung der Frage nach den Triebkräften der Entwicklung. Wie kommt die Entwicklungsdynamik des modernen Tourismus zustande? Durch den "tourist gaze" allein? Oder durch seine Einbettung in sich verändernde Kontexte?

Ein zweites Problem der literaturwissenschaftlichen Interpretationen tritt hervor, wenn man sich den Untertitel des Bandes, "The Cultural History of the British Experience, 1600-2000", vergegenwärtigt. Denn die meisten der erwähnten Beiträge beziehen sich nur insofern auf Großbritannien, als sie britische Beispiele für "travel writing" analysieren. Es ist deshalb zu vermuten, dass man für andere europäische Länder, jedenfalls für solche mit einer ähnlich ausgeprägten Tradition des Reisens zum Zweck der Bildung und Erziehung, mit derselben Methode zu ganz ähnlichen Interpretationen kommen würde. Warum wurde dann aber Großbritannien das Geburtsland des modernen Tourismus? Auch diese naheliegende Historikerfrage kann man nur dann beantworten, wenn die literaturwissenschaftliche Tourismusforschung um eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Analyse der Rahmenbedingungen und Institutionenbildungen ergänzt wird.

Die drei Historikerbeiträge in dem Band, die von Hartmut Berghoff, John Walton und John Beckerson stammen, sind durchaus dazu angetan, diese offenen Fragen zu beantworten. Hartmut Berghoffs Artikel "Modern Tourism and the Rise of the Consumer Society", der den "tourist gaze" in den Kontext der entstehenden Konsumgesellschaft einbettet, benennt einen wichtigen dynamisierenden Faktor des modernen Tourismus. Dies gelingt ihm u.a. dadurch, dass er (ebenso wie Walton in seinem Beitrag; vgl. S. 112) einen argumentativen Ausflug in die Disziplin "cultural economics" unternimmt und erläutert, warum der Reisekonsum zu jenen Konsumgütern gehört, nach denen die Nachfrage tendenziell 'unersättlich' ist (S. 169). Allerdings steht dieser konsumgeschichtliche Ansatz letztlich in Konkurrenz zu der skizzierten Interpretation der Literaturwissenschaftler, denn vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kommerzialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft entwickelte sich die moderne Konsumgesellschaft seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert gleichzeitig mit dem "tourist gaze". Die in dieser Beobachtung angelegte Konkurrenz der Argumente wird in dem Band leider nicht ausgetragen.

Auch zur Frage des spezifisch Britischen können die Historikerbeiträge Auskunft geben. Doch auch hier tritt eine Unvereinbarkeit der Argumente hervor. Denn sie beschreiben keineswegs jene Erfolgsgeschichte des britischen Tourismus, die von den Literaturwissenschaftlern bei ihrer Interpretation stillschweigend zugrundegelegt wurde. Zumindest für das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert betonen sie ganz im Gegenteil ein Zurückfallen der Briten: Beckerson beschreibt in seinem Beitrag "Marketing British Tourism" die bemerkenswerte Zurückhaltung der staatlichen Tourismusförderung, die insbesondere im Vergleich mit dem Nachbarland Frankreich auffalle; erst nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die britischen Regierungen die Bedeutung des Tourismus für die Ökonomie erkannt. Und auch John Walton, der Tourismushistoriker überhaupt, weiß einiges an Versäumnissen zu benennen: "Fashionable" Badeorte suche man in seinem Land vergeblich, und wo ehemalige "spas" sich erhalten hätten, seien sie – das beste Beispiel ist Bath - zu vornehmen Rentiersstädten mutiert. Das wirklich spezifisch Britische, genauer: Englische des modernen Tourismus, das auch anderswo nachgeahmt wurde, seien die populären, von der Arbeiterschaft frequentierten "seaside resorts", die indes am Ende des 20. Jahrhunderts dem Wettbewerb sonnigerer Alternativen am Mittelmeer und anderswo auf der Welt nicht mehr standhalten könnten und vielen für Umweltschäden sensiblen Zeitgenossen zusehends unattraktiv erschienen. Der Lake District und andere Nationalparks im Landesinnern wiederum seien erst vergleichsweise spät der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und könnten den Mangel an attraktiven Reisezielen in Großbritannien nicht kompensieren, ebenso wenig wie der vieldiskutierte "heritage tourism". Ins weltweite Tourismusgeschäft seien die Briten trotz Thomas Cook schließlich nie richtig eingestiegen. Die britische Tourismusindustrie sei heute rückständig.

Möglicherweise liegt hier eine Erklärung, warum das Urlaubmachen in Großbritannien insgesamt eine eher unausgeprägte Gewohnheit geblieben ist, fuhren doch 1989 nur 41 % der Briten in die Ferien, wie Berghoff in seinem Beitrag in Erinnerung ruft (S. 165). Anderen, in diesem Band nicht vertretenen Forschungen von Ökonomen zufolge ist es nämlich heute im Wesentlichen die moderne Tourismusindustrie, welche jenen "cultural tourism" stimuliert, der in den vorangehenden Jahrhunderten das entscheidende Vehikel zur Verallgemeinerung des "tourist gaze" gewesen ist. Der Grund für entsprechende Initiativen der Tourismusindustrie liegt in der Diversifizierung des Angebots und dem Bestreben, jene Kunden zu rekrutieren, die bis dahin eher individuell verreist sind.1

Leider wird auch dieser Widerspruch zwischen den Interpretationen der Literaturwissenschaftler und der Historiker in dem Sammelband nicht erörtert oder gar aufgelöst; ein bilanzierendes Nachwort über den Ertrag der interdisziplinären Kooperation fehlt. Die Rezensentin hat den Band dennoch mit Gewinn gelesen. Künftigen Historikern des modernen Tourismus bietet er eine Vielzahl von Anregungen – und die Herausforderung, die widersprüchlichen Interpretationen in einer Synthese zu überwinden.

Anmerkung:
1 Vgl. Bonet, Lluís, Cultural Tourism, in: Towse, Ruth, A Handbook of Cultural Economics, Cheltenham 2003, S. 187-193, hier S. 189.

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