T. Bergmann u.a. (Hgg.): Geschichte wird gemacht

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Titel
Geschichte wird gemacht. Soziale Triebkräfte und internationale Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert


Herausgeber
Bergmann, Theodor; Haible, Wolfgang; Schäfer, Gert
Erschienen
Hamburg 2002: VSA Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Klein, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Eine internationale Konferenz marxistischer Sozialwissenschaftler gehört heute keineswegs mehr zu den alltäglichen Begebenheiten. Doch seit 1988 fanden regelmäßig solche Treffen statt. Sie befassten sich anfangs folgerichtig mit den „Lehren der Vergangenheit“, um dann in letzter Zeit endlich dem Schnellzug rasanter kapitalistischer Globalisierung hinterher zu interpretieren und die parallele Krise der organisierten Arbeiterbewegung zu analysieren. Die letzte Konferenz hat im Frühjahr 2001 in Thüringen stattgefunden und wird nun mittels eines Auswahlbandes der wichtigsten Beiträge dokumentiert. Das Konferenzthema: „Sozialer Fortschritt und Sozialismus – soziale und politische Triebkräfte“. Doch der optimistisch klingende Titel täuscht: Als sich in Elgersburg Teilnehmer aus Süd- und Ostasien sowie aus acht kapitalistischen Metropolen trafen, so geschah dies gemäß dem Befund der Herausgeber zu Zeiten einer Kapitaloffensive verbündeter oder konkurrierender Mächte – einig nur in ihrem gemeinsamen Interesse an der Beseitigung der im 20. Jahrhundert von der Arbeiterbewegung erkämpften sozialen Errungenschaften.

Der vorausgegangene politische Bankrott und die ökonomische Niederlage nominalsozialistischer Regime im Systemwettbewerb gehören ebenso zu den begünstigenden Randbedingungen dieses Angriffs wie die intensive Teilhabe der Sozialdemokratie an Organisation und Umsetzung flächendeckenden Sozialabbaus. Der Synthese von mächtigen Interessen nationaler und internationaler Wirtschaftsassoziationen zur Verbesserung ihrer Kapitalverwertungsbedingungen sowie einer systemkonformen nationalstaatlichen Beihilfe zur Rahmensetzung verschärfter Umverteilung von unten nach oben haben jedoch die gebeutelten Lohnabhängigen nach Meinung der Tagungsteilnehmer nicht mehr viel entgegenzusetzen: Infolge des historischen Bankrotts von Stalinismus und Reformismus sowie wegen des Niedergangs der traditionellen Arbeiterbewegung sind deren Gewerkschaften und politische Organisationspotentiale geschwächt sowie rückständig.

Ausgehend von diesem deprimierenden Befund machten sich nun insbesondere die Teilnehmer aus den Metropolen daran, den weltweiten Wandel sozialer Struktur- und Lebensbedingungen, Fragen der theoretischen Erneuerung der sozialistischen Bewegung (auch ihrer ökonomischen Theorie) und das Problem eines den Globalisierungsfolgen wirksam entgegentretenden neuen Internationalismus zu diskutieren. Auch die Möglichkeiten der gegenseitigen Bezugnahme neuer sozialer Bewegungen und der Arbeiterbewegung wurden einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen. Schließlich finden sich in den Diskussionsbeiträgen Überlegungen zum Wandel der Sozialstaatsfunktion im modernen Kapitalismus.

Die Tagungsteilnehmer der „Peripherie“ kamen aus nur drei asiatischen Entwicklungsländern, wobei der Weg Chinas in sechs Konferenzbeiträgen (nicht nur der chinesischen Teilnehmer) gegenüber allen anderen Regionen überproportioniert thematisiert wurde und – worauf auch die Herausgeber in ihrem Vorwort selbstkritisch verweisen – Afrika und Lateinamerika vollständig ausgespart blieben. Unabhängig von der „Botschaft“ der sehr differenziert zu bewertenden Beiträge erfährt der Leser nicht nur zu China, sondern auch aus den beiden Vorträgen über Indien vieles, was hinsichtlich der Wahrnehmungstiefe dortiger Widersprüche wohl nur im marxistischen Diskurs kenntlich wird.

Auf dieser Tagung wurden thematisch tatsächlich alle brennenden Fragen des globalisierten Kapitalismus angesprochen. Die Antworten, welche die organisierte internationale Arbeiterbewegung im Falle ihres Wiedererstarkens geben könnte, bleiben unscharf – eine realistische Abbildung der nach wie vor unterentwickelten „Problemlösungskapazität“ ihrer Organisationen und deren Praxis sowie der zeitgenössischen marxistischen Theorie. Doch nach wie vor scheint dieses Umfeld ein gewichtiger Ort des Problembewusstseins von einer ökonomisch, politisch und militärisch sich immer gewalttätiger entwickelnden kapitalistischen „Weltgemeinschaft“ zu sein. John Neelsen aus Tübingen charakterisiert in seinem Beitrag nicht nur die gewaltige Machtstellung allein der 2000 größten von insgesamt 63.000 transnationalen Konzernen (TNK) - z.B. beträgt ihr Umsatz 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts -, sondern erläutert auch die Auswirkungen des Umstands, dass die Profitraten der TNK nicht mehr an den Nationalstaat als Wirtschaftsraum mit Durchschnitts- bzw. Monopolprofitraten nationaler Kapitale gebunden sind. Das Agieren dieser Konzerne bewirkt, dass nur noch ein Drittel des Welthandels nach den Regeln des „freien Marktes“ erfolgt.

Neelsen verweist aber ebenso darauf, dass der vermeintlich globalen ökonomischen Integration keine politische entspricht. Allein der Ausschluss der Arbeitsmärkte aus der Globalisierung bedingt, dass der Weltmarkt kein weltweiter Binnenmarkt ist und er deshalb diversifizierter politischer, mit Sanktionsgewalt ausgestatteter Regelungsinstanzen bedarf, damit er der profitorientierten Ausnutzung durch die TNK unterworfen bleibt. Der Doppelstruktur globaler ökonomischer Integration und politischer Fragmentierung entspricht heute deshalb kein „Weltstaat“ mit Weltregierung. Vielmehr stehen den konkurrierenden Integrationsversuchen bestehender Staaten (ASEAN, EU) destruierende Zerfallstendenzen in der Dritten Welt und den Transformationsländen gegenüber, die bereits staatliche Ordnungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß an den Rand des Zusammenbruchs führten. Von Neelsen wird dieser Vorgang konsequent als Teil des imperialistischen Projekts der Kompradorisierung abhängiger Länder zugunsten ihrer Unterwerfung unter die Profitinteressen des transnationalen metropolitanen Kapitals bezeichnet: Der Ausbau des Weltmonopols der konkurrierenden Triade NAFTA, EU und Japan/Ostasien an Handel, Finanzkapital, Technologie, Massenvernichtungswaffen und Medien steht im Dienst der Neokolonisierung der übrigen Welt. Wie wirksam dies verlief, zeigt das Ausmaß, in dem nicht zuletzt mittels IWF und Weltbank sich in den letzten 35 Jahren die Schere zwischen Reichen und Armen und innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen weiter öffnete: Unter den Ländern wuchs dieser Faktor von 30 auf 74 zu 1. Auch Neelsen bekräftigt, dass trotz der anhaltenden Zerstörungstendenzen des Kapitals und der deshalb ungeheuer ansteigenden Armut in der Peripherie nicht eine Verschärfung des Klassenkonflikts, sondern eher die weitere Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten des Kapitals auf der Tagesordnung steht.

Dem eher ratlosen Text von William E. Pelz über den Beitrag des Konsumbewusstseins zur Bindung der Massen an das System folgt die beeindruckende Studie von Henning Süssner zur Integration aller schwedischer Arbeiterparteien in das Politikmanagement des Sozialabbaus. Sein Bericht über deren Transformation in professionalisierte Kampagnenorganisationen, die sich eher auf externe Experten, Werbeagenturen und Lobbyisten stützen als auf ihre Mitglieder und die Kluft zu außerparlamentarischen Bewegungen stetig vergrößern, klingt wie eine Geschichte aus Deutschland.

John D. Holst macht ausführliche kritische Anmerkungen zur Hypothese einer zivilgesellschaftlichen Alternative in Gestalt der Nicht-Regierungsorganisationen als Substitut der niedergehenden „alten gesellschaftlichen Bewegung“. Die verschwindende Militanz der ausdünnenden industriellen Arbeiterklasse und die Preisgabe des großen „sozialistischen Projekts“ scheint in dem ideologischen Projekt einer „Befreiung der Zivilgesellschaft“ und dem Einsatz der NGO´s (non-governmental organizations) für viele „kleine Utopien“ eine Fortsetzung zu finden. Holst bezweifelt deren Kraft zur Stetigkeit und neigt dem Konzept eines neuen „historischen Blocks“ (Gramsci) zu, der beide Strömungen vereint.

Dem ernüchternden Bericht Bernie Tafts über die zeitgenössische Schwäche der australischen Linken folgen Joachim Heidrichs Ausführungen zu den Ursachen des analytischen Unvermögens, sozialistische Alternativen für die Dritte Welt zu formulieren. Sein Beitrag leitet den Abschnitt zur Lage der Arbeiterklasse in Süd- und Ostasien ein, der sich vorwiegend mit China befasst. Die dortigen Modernisierungsanstrengungen unter dem Paradigma des Übergangs zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Umbruch analysiert Helmut Peters. So ist mit dem Ausscheiden von rund 200 Millionen Arbeitskräften aus der Landwirtschaft der agrarische Beschäftigtenanteil an der Erwerbsbevölkerung auf 50 Prozent gesunken. Den inzwischen über elf Millionen Kleingewerbetreibenden und mehr als eine Million privatkapitalistischen Unternehmern steht nach Peters eine sozial tief differenzierte Arbeiterklasse mit schwacher politischer Organisiertheit und niedrigem Bildungsniveau gegenüber, wobei die Produktionsarbeiter als ein Teil von ihr in eine „gesellschaftliche Schieflage“ geraten seien. Mit unverwüstlichem Optimismus bezeichnet Peters dies als sozialökonomische Struktur, die „typisch für die Übergangsperiode zum Sozialismus“ sei.

Qin Zaidon steigert den affirmativen Gestus der Feier von Chinas „4 Modernisierungen“ und verspricht, dass Chinas „bedächtige Teilnahme an der Globalisierung“ in einem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ enden werde, wenn der Staat zur Sicherung der politischen Stabilität des Landes weiter erstarkt. Xiao Feng schwört darauf, dass der Erfolg sich einstellt, wenn „die Partei streng geführt“ bliebe, äußert aber immerhin die Befürchtung, dass die „sozialistischen Bedingungen durch die Marktwirtschaft untergraben“ werden könnten. Zheng Guangming meint, dass auf dem von ihm begrüßten Weg Chinas in die „profitorientierte Marktwirtschaft“ die politische Strukturreform nachhinke. Allerdings sei die zur Beseitigung von Ineffizienz, Bürokratismus, Machtmissbrauch und Korruption erforderliche umfassende Demokratisierung wegen der „Gleichgültigkeit des Volkes“ und der „Furcht maßgeblicher Kreise“ unmöglich – leider, so der Autor, ein „historisches Dilemma“. Zhang Wencheng verbindet sein Plädoyer für die Marktwirtschaft mit einer plausiblen Darstellung der anwachsenden sozialen Polarisierung in China und der sich in der KPCh häufenden Korruption. Für ihn besteht die Rettung des chinesischen Sozialismus in der Verteidigung der Dominanz des Gemeineigentums gegenüber dem expandierenden privaten Sektor.

Angesichts dieser Beiträge taucht beim Rezensenten die Frage auf, ob die Angst der systemnahen Reformdenker in China eher die vor einer antibürokratischen Revolution oder die vor neuen Klassenkämpfen ist. Erst zum Abschluss der ausgedehnten „chinesischen Sektion“ erfährt der Leser von Wei Xiaoping interessante und konkrete Einzelheiten zu den Hauptlinien, Besonderheiten und Problemen der beiden Reformetappen. Do-Hyun Yoon referiert über den bisherigen Misserfolg der Bildung einer linken Partei in Südkorea – einem Land, in dem erst in jüngster Zeit die Folgen der lang andauernden Militärdiktatur beseitigt werden. In zwei weiteren Beiträgen kann sich der Leser über die aktuellen Aussichten der indischen Linken (Text von Sobhanial Datta Gupta) und ihrer Neuformierung (Aufsatz von Dipak Malik) informieren. Solche Möglichkeiten sind selten, und es darf verdienstvoll genannt werden, bei dieser Gelegenheit auch einen Einblick aus linker Sicht in die jüngere indische Gesellschaftsentwicklung präsentiert zu bekommen.

Der Band enthält schließlich einige Überlegungen Theodor Bergmanns zur Geschichte und zu den Aussichten eines neuen Internationalismus in der Arbeiterbewegung: Der Missbrauch und die stalinistische Instrumentalisierung der untergegangenen internationalistischen Organisationen, der Zerfall der internationalen kommunistischen Bewegung und die erfolgreiche Globalisierungsoffensive des Kapitals machten einen neuen Anfang mit womöglich keineswegs neuen, aber noch nie praktizierten Regeln nötig.

Etwas singulär, aber keineswegs deplaziert, stehen Ralf Kröners Beitrag zur Rolle der Medien in der modernen Gesellschaft und ihrer Bedeutung für den Diskurs politischer Bewegungen und Organisationen sowie Wolfgang Haibles Thesen zur Perspektive der Kultur. Haibles Aufsatz schließt mit einer berühmten Paraphrase, die auch als Motto für das Substrat aller Beiträge dieses Bandes stehen könnte: Was tun? Man kann nicht sagen, dass in ihm die ultimative Antwort zu finden ist. Fündig werden alle Leser, die sich zu verschiedenen Basisprozessen moderner Kapitalismusentwicklungen einen Überblick verschaffen, schwer zugängliche Einblicke in Entwicklungsprozesse der weltweiten Peripherie nehmen wollen oder an Informationen über spezielle Organisationsfragen linker Parteien interessiert sind. So werden viele Leser auf sehr spezifische Weise Nutzen aus dieser Publikation ziehen können, auch und gerade wenn sie souveräne Distanz zu den Auffassungen des einen oder anderen Autors halten wollen. Der Diskurs ist kontrovers und das Buch daher zu empfehlen.

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