K. Weinhauer: Schutzpolizei in der Bundesrepublik

Cover
Titel
Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre


Autor(en)
Weinhauer, Klaus
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
417 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sturm, Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster

Schutzpolizei in den „turbulenten“ sechziger Jahren: Wer denkt da nicht an die spektakulären Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Notstandsgesetze oder gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien im Juni 1967? In Westberlin, Hamburg, Frankfurt und München kam es zu zum Teil blutigen Auseinandersetzungen zwischen überwiegend studentischen Protestierenden und der Polizei. Die Literatur, die sich aus wissenschaftlicher, journalistischer oder autobiografischer Perspektive mit den Protagonisten des Protests befasst, ist mittlerweile kaum noch zu bewältigen. Doch wie sieht es mit den Akteuren aus, die damals auf der „anderen Seite der Barrikade“ standen? Von den auf den Fernsehbildern etwas steif wirkenden, mit Tschako und Gummiknüppel ausgerüsteten Polizisten wissen wir fast überhaupt nichts.

Klaus Weinhauer hat in seiner nun veröffentlichten Habilitationsschrift einen genaueren Blick auf die Schutzpolizei in den sechziger Jahren geworfen und damit einen in vielerlei Hinsicht anregenden Beitrag zur Geschichte der Polizei in der Bundesrepublik geliefert, deren Erforschung lange ein Schattendasein führte. In Mittelpunkt rückt erstmals jenes „Scharnierjahrzehnt“ zwischen „der Polizei der 50er Jahre, die stark von Weimarer Polizeitraditionen geprägt war und der modernen Polizei der 70er Jahre, in denen die Fundamente gelegt wurden für eine Polizei, wie wir sie heute kennen“ (S. 19).

Am Beispiel Hamburg und der ländlich-kleinstädtischen Region Ostwestfalen-Lippe in Nordrhein-Westfalen zeichnet Weinhauer zum einen die strukturellen, organisatorischen, personellen und generationellen Umbrüche nach, die das Erscheinungsbild der Polizei, sowie deren Selbst- und Leitbilder allmählich veränderten. Zum anderen geht er auf die sich in den sechziger Jahren wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, innerhalb derer Polizeibeamte ihren Dienst versahen. Erfreulicherweise beschränkt sich Weinhauer nicht darauf, lediglich eine an den „großen Strukturen“ orientierte Verwaltungsgeschichte zu schreiben. Ebensowenig geht es ihm darum, die „Modernisierung“ der Schutzpolizei als eine linear verlaufende „Erfolgsstory“ zu präsentieren. Vielmehr versucht Weinhauer, sich dem Binnenleben der Polizei in den sechziger Jahren zu nähern: Wie sahen die polizeilichen Lebens- und Erfahrungswelten aus? Welche Mythen, Rituale und Symbole waren kennzeichnend für eine damals ausschließlich männlich geprägte Polizeikultur? Wissend um die Grenzen eindimensionaler Modernisierungskonzepte bemüht sich Weinhauer daher um eine geschlechtergeschichtlich fundierte, „kulturhistorisch erweiterte Sozial- und Organisationsgeschichte der Polizei“ (S. 12).

Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Zunächst schildert Weinhauer die organisatorische und personelle Entwicklung der Polizei in Hamburg und Nordrhein-Westfalen bis in die fünfziger Jahre. Sowohl die Hansestadt als auch das 1946/47 neu entstandene Bundesland Nordrhein-Westfalen waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges Teile der britischen Zone. Die britische Militärverwaltung verfolgte konsequent das Ziel einer umfassenden Dezentralisierung, Kommunalisierung und Entmilitarisierung der deutschen Polizeibehörden in ihrem Einflussbereich. Diese Reformen stießen allerdings größtenteils auf Ablehnung, bedeuteten sie doch einen grundlegenden Bruch mit den Polizeitraditionen der Weimarer Republik, an die man auf deutscher Seite nach 1945 wieder anknüpfen wollte. Die Verstaatlichung der Polizei wurde daher, nachdem die Briten die Organisation und den Aufbau der Verwaltung wieder in deutsche Verantwortung übergeben hatten, besonders in Nordrhein-Westfalen vehement vorangetrieben und schließlich mit dem Polizeiorganisationsgesetz von 1953 abgeschlossen.

Allerdings kamen die Absichten an Weimarer Polizeitraditionen anzuknüpfen, nicht nur hinsichtlich der Polizeiorganisation zum Ausdruck, sondern auch im Selbstverständnis und in der Ausbildung der Schutzpolizei, wie Weinhauer im zweiten und dritten Kapitel seiner Arbeit zeigen kann. Die Schutzpolizei in der frühen Bundesrepublik bezog sich in ihrer Traditionspflege stark auf die polizeilichen Einsätze während der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der zwanziger und dreißiger Jahre.

In diesem Kontext war eine regelrechte „Mythologisierung des Staates“ zu beobachten, die lediglich ein „formales Verständnis von Demokratie“ erkennen ließ (S. 336). Allerdings blieb eine öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung innerhalb der Polizei über die Rolle der Institution im Nationalsozialismus bis zum Ende der sechziger Jahre weitgehend aus. Dafür wurden um so leidenschaftlicher vermeintlich grundlegende, „überhistorische“ polizeiliche Tugenden wie Kameradschaftsgeist und Opferbereitschaft hervorgehoben.

Träger dieses Selbstverständnisses waren Weinhauer zu Folge in erster Linie die Beamten, die vor 1912 geboren waren und ihre Polizeikarriere oftmals bereits während der Weimarer Republik oder im Nationalsozialismus begonnen hatten. Diese Polizisten, die Weinhauer in idealtypischer Zuspitzung als „Patriarchen“ (S. 110) bezeichnet, postulierten das Ideal einer autoritär strukturierten, kameradschaftlich geprägten männlichen „Dienstgemeinschaft“, die zum einen als Grundlage einer funktionierenden Polizei, zum anderen als Vorbild für die Ordnung in Staat und Gesellschaft insgesamt betrachtet wurde. Die mythische Überhöhung von Staat und Polizeiberuf geriet jedoch seit dem Ende der fünfziger Jahre ins Wanken.

Vor allem die ab 1920 geborenen Beamten, die ihren Dienst erst nach dem Zweiten Weltkrieg angetreten hatten, schienen das quasi religiöse Polizeiverständnis der „Patriarchen“ nicht mehr umstandslos zu teilen. Aus dieser Altersgruppe rekrutierten sich schließlich (wiederum idealtypisch zugespitzt) die „Modernisierer“ (S. 117). Während die „Patriarchen“ seit dem Ende der fünfziger Jahre eine Krise der polizeilichen Autorität konstatierten und eine regelrechte „patriarchalische Offensive“ (S. 110) entfachten, um ihre Idealbilder von männlicher „Dienstgemeinschaft“ und eindeutigen Befehlshierarchien weiterhin innerhalb der Polizei zu verankern, propagierten die „Modernisierer“ eine auf Teamwork basierende „Führungs- und Leistungsgemeinschaft“. In den Konflikten zwischen „Patriarchen“ und „Modernisierern“ kamen daher auch unterschiedliche Männlichkeitsvorstellungen zum Ausdruck. Verkörperten die „Patriarchen“ kriegerisch-militärische Männlichkeiten, zeigten sich bei den „Modernisierern“ tendenziell zivilere, mehr technisch orientierte Männlichkeitsentwürfe.

Der Dienstalltag auf den Revierwachen brachte Anforderungen mit sich, die wenig mit der Ausbildung in den paramilitärischen Verbänden der Bereitschaftspolizei zu tun hatten. Auf die unterschiedlichen polizeilichen Einsatzfelder – Einzeldienst auf den Revierwachen einerseits und geschlossene Einsätze im Rahmen von Demonstrationen andererseits – geht Weinhauer im vierten und fünften Kapitel seiner Arbeit ein. Seit dem Ende der fünfziger Jahre vollzogen sich innerhalb der Schutzpolizei sowohl in Hamburg als auch in Nordrhein-Westfalen eine Reihe einschneidender Veränderungen. Vor allem die zunehmende Motorisierung stellte neue Anforderungen an die Polizei. In immer größerem Umfang wurden nun Funkstreifenwagen eingesetzt, was nicht zuletzt zu einer nachhaltigen Neuorganisation der Revierwachen führte. Viele kleinere Reviere wurden zusammengelegt oder aufgelöst. Stattdessen entstanden zentrale Großraumreviere.

Dieser Bruch mit der traditionellen Revierstruktur war jedoch nicht nur aus technokratisch-organisatorischer Perspektive bemerkenswert, sondern hatte darüber hinaus erhebliche Auswirkungen auf die sozialen Binnenverhältnisse innerhalb der Polizei. So sahen die „Patriarchen“ durch den Bedeutungsverlust der Reviere und die damit verknüpfte partielle „Entmachtung“ der Revierleiter den Fortbestand der von ihnen postulierten hierarchisch-kameradschaftlichen „Dienstgemeinschaften“ gefährdet. Tatsächlich bot der Funkstreifenwagen den Beamten Möglichkeiten, sich „eigensinnig“ den Anforderungen des Dienstes zu entziehen. Leitende Schutzpolizeibeamte klagten wiederholt darüber, dass Funkstreifenbesatzungen während der Verkehrsspitzenzeiten an „abseits gelegenen Straßen usw. beobachtet“ würden (zit. nach S. 241). Somit hatte, wie Weinhauer betont, die technische Modernisierung der Schutzpolizei durchaus Rückwirkungen auf die Transformation polizeilicher Männlichkeitsentwürfe, verloren doch das „patriarchalische Männlichkeitsleitbild sowie das damit verbundene Berufsethos mit seinem paternalistischen Führungsstil allmählich an Integrationskraft“ (S. 340).

Darüber hinaus wurde die Rolle der Polizei im gesellschaftlichen Gefüge neu ausgelotet. Galt die Institution während des sich zuspitzenden Kalten Krieges in erster Line als Garantin für den Schutz des Staates, rückte seit dem Beginn der sechziger Jahre die alltägliche Polizeiarbeit stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Die Gewährleistung von Sicherheit avancierte zu einer sozialstaatlichen Aufgabe. Im Rahmen dieser „sicherheitsorientierten Wende“ (S. 261) in der Kriminalitätsbekämpfung erhielt die Polizei ein neues Anforderungsprofil. In enger Kooperation mit der Bevölkerung und anderen Institutionen des Sozialstaates sollte sie Kriminalität vor allem präventiv bekämpfen. Diese Entwicklung bedeutete jedoch nicht unbedingt, dass die Polizei „liberaler“ agierte. Unangepasste Jugendliche, wie etwa die Rocker in Hamburg, wurden präventiv überwacht und in besonderen Karteien erfasst. Ferner gewann mit den Demonstrationen der 68er-Bewegung der Schutz des Staates wieder zunehmend an Bedeutung für die Aufgaben der Schutzpolizei. Der zu Beginn der sechziger Jahre geprägte Leitbegriff „Sicherheit“ erfuhr mit seiner Erweiterung zur „Inneren Sicherheit“ am Beginn des folgenden Jahrzehnts zugleich eine „Politisierung“.

Weinhauer führt jedoch die Tatsache, dass es in Hamburg in den Jahren zwischen 1966 und 1970 bei zahlreichen Demonstrationen zu Auseinandersetzungen zwischen Protestteilnehmern und der Schutzpolizei kam, nicht allein auf das Fehlen differenzierter polizeilicher Maßnahmen zurück. Versuche eine flexiblere, stärker auf Kommunikation mit den Demonstranten hin ausgerichtete Einsatztaktik zu etablieren gab es sehr wohl. Vielmehr resultierten die Gewalteskalationen auf Seiten der Polizei vor allem aus den Mentalitäten, Wahrnehmungen und Emotionen der eingesetzten Beamten vor Ort. Besonders ältere Revierbeamte neigten offenkundig zu überhartem Einschreiten. Sie verfügten, wie Weinhauer betont, über ein Männlichkeitsideal, bei dem „Tatkraft, Mut und Härte höher angesehen waren als Passivität und Zurückhaltung“ (S. 329). Die Bereitschaft, physische Gewalt auszuüben, wurde zudem verstärkt durch „defensiv-resignative“ kameradschaftliche Gruppenbindungen, die sich sogar gegen die eigenen Vorgesetzten richten konnten, sofern diese sich in den Augen der Beamten einer „zu laschen“ Haltung verdächtig gemacht hatten. Gruppenbindungen spielten aber auch für das Verhalten der Bereitschaftspolizisten eine zentrale Rolle, die allerdings bei diesen vorwiegend jungen Beamten eher „offensiv-kämpferische“ Züge aufwiesen.

Klaus Weinhauers materialreiche, gut lesbare Arbeit stellt zweifellos eine Bereicherung dar, sowohl für die polizeigeschichtliche Forschung, als auch für die Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik. Die aufschlussreichen Einblicke in das Binnenleben der Polizei der sechziger Jahre verdeutlichen, dass innerhalb der nach außen hin so hermetisch wirkenden Institution tief greifende mentale und generationelle Konfliktlinien verliefen, wie Weinhauer am Beispiel der Spannungen zwischen älteren „Patriarchen“ und jüngeren „Modernisierern“ zeigen kann. An diesem Punkt müssten jedoch noch weitere Forschungen ansetzen. Weinhauer analysiert die unterschiedlichen Einstellungsmuster von „Patriarchen“ und „Modernisierern“ in erster Linie anhand programmatischer Texte in polizeilichen Fachzeitschriften. Wie und in welchen Formen die Konflikte zwischen den Altersgruppen im Alltag auf den Revieren oder im Einsatz zum Ausdruck kamen, bleibt in der Arbeit, vermutlich auch aufgrund der schwierigen Quellenlage etwas unterbelichtet. Weinhauer stellt zwar die Biografien zahlreicher, tendenziell den „Patriarchen“ zuzurechnender Polizeibeamter vor, die ihren Dienst bereits in der Weimarer Republik oder während des Nationalsozialismus begonnen hatten, muss sich aber darauf beschränken, deren Karrierestationen anhand der zugänglichen Personalakten zu referieren. Über Mentalitäten, Praktiken und Handlungsmuster dieser Beamten erfährt man dadurch jedoch relativ wenig.

Nachdem sich Weinhauer in seiner Arbeit vor allem mit der Organisation und dem Binnenleben der Schutzpolizei in der Bundesrepublik befasst hat, wäre es für künftige Studien nun ein lohnendes Untersuchungsfeld, die Beziehungsgeflechte zwischen Polizei und Publikum in den Blick zu nehmen. Veränderten etwa die „sicherheitsorientierte Wende“ der sechziger Jahre und die damit verknüpften Planungen, die Polizei zu einer sozialstaatlichen Einrichtung umzubauen, die Interaktionsverhältnisse zwischen dem Publikum und den Polizeibeamten vor Ort? Weinhauers Studie legt hier – um es in der Sprache der Polizei zu formulieren - erste Spuren, die aufzugreifen und weiterzuverfolgen sich lohnen würde.

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