J. Rodden: Repainting the Little Red Schoolhouse

Titel
Repainting the Little Red Schoolhouse. A History of Eastern Germany Education 1945-1995


Autor(en)
Rodden, John
Erschienen
Anzahl Seiten
506 S.
Preis
$ 74.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Kluchert, Institut für Schulpädagogik, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Blick aus transatlantischer Perspektive hat sich sowohl für die deutsche Bildungsgeschichte wie für die Geschichte Ostdeutschlands nach 1945 schon verschiedentlich als erhellend erwiesen. Man denke nur an die Studien von James C. Albisetti und Marjorie Lamberti zur Entwicklung der Schule im Kaiserreich oder an Norman Naimarks Geschichte der sowjetischen Besatzungszone.1 Grund genug, auf ein Buch gespannt zu sein, das beide Themenbereiche miteinander verbindet und dem Leser im Untertitel eine Geschichte der ostdeutschen Erziehung von den Nachkriegsanfängen bis ins Nachwendejahrzehnt verspricht.

Der Autor, John Rodden, ist Kulturwissenschaftler, lehrt unter anderem an der University of Texas in Austin und ist bislang vor allem durch Arbeiten zu George Orwell und durch Gespräche mit der Schriftstellerin Isabel Allende hervorgetreten. Dass man angesichts so gerichteter Interessen keine Bildungsgeschichte im engeren Sinne, keine Geschichte der Bildungsinstitutionen zumal erwarten kann, ist klar und wird im Vorwort auch deutlich herausgestellt. Rodden geht es um etwas Anderes, Umfassenderes: Um die Geschichte jener doppelten "Umerziehung" nämlich, die im Osten Deutschlands im Verlauf des betrachteten Halbjahrhunderts stattgefunden hat. Dieser Geschichte und ihren Wirkungen ist Rodden während einer Reihe mehrwöchiger Aufenthalte in verschiedenen ostdeutschen Städten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre nachgegangen. Er hat dabei Gespräche mit zahlreichen Menschen geführt, hat Universitäten und Schulen besucht, hat ferngesehen und Zeitung gelesen und sich auf diese Weise ein Bild von der ostdeutschen Seelenlandschaft gemacht. Dieses Bild dem Leser über die Dokumentation ausgewählter Gespräche zu vermitteln, ist Roddens eigentliches Anliegen. Mit Rücksicht auf ein mit der Geschichte und den Erziehungseinrichtungen in Ostdeutschland wenig vertrautes amerikanisches Publikum hat er sich jedoch entschlossen, dieser Dokumentation einen historischen Abriss voranzustellen, in dem die Entwicklung der Erziehung (in jenem umfassenden Sinne) vom Zusammenbruch des "Dritten Reiches" bis zum Zusammenbruch der DDR in ihren Grundlinien skizziert wird.

Rodden schreibt diese "Vorgeschichte" in drei Kapiteln (die ersten beiden behandeln die Jahre bis zum Mauerbau, das dritte die restliche Zeit) und er schreibt sie - unter ständiger Bezugnahme auf die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit - als eine Geschichte fortschreitender Indienstnahme der Erziehung für die Zwecke von Staat und Partei. Dabei wird rasch deutlich, wie sehr sein Blick durch die intensive Beschäftigung mit Orwells "1984" geprägt ist. Selbst aus der Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen des zweiten Jahrhundertviertels geboren, wird der Roman hier seinerseits zum Mittel der Analyse, dient er als Kompass bei der Reise in die Gegenwart und Vergangenheit Ostdeutschlands. Das Buch hat sogar, wie Rodden im Vorwort bekennt, überhaupt erst sein Interesse für Deutschland und die deutsche Geschichte geweckt. Fiktion und Realität schienen ihm hier - und speziell eben im "Orwellian flavour of DDR life" (S. XXIV) - zur Deckung gelangt. Kein Wunder also, dass er nun in der DDR vor allem wahrnimmt, was ihn an "Ozeanien" erinnert, dass er die Übereinstimmung registriert zwischen der Parteisprache der SED und dem dortigen "Neusprech" - und speziell zwischen den vom jeweiligen "Ministerium der Wahrheit" herausgegebenen Slogans, deren Zitierung sich wie ein roter Faden durch den ersten Teil des Buches zieht.

Die Schulung an Orwell macht Rodden sensibel für die Indoktrinations- und Manipulationsbemühungen der Herrschenden, sie verführt ihn aber auch dazu, die Dinge ausschließlich aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Folgerichtig zeigt er Schule und Hochschule der DDR als durch und durch politisierte "Bildungs"-Einrichtungen, in denen die Besucher einer ebenso intensiven wie erfolgreichen Gehirnwäsche unterzogen worden sind. So erscheint ihm die Erweiterte Oberschule "more political than philosophical in content" (S. 177), das dort erworbene Abitur daher, verglichen mit dem westdeutschen, minderwertig und die akademische Elite in der DDR mehr nach ideologischen als intellektuellen Kriterien ausgewählt. Der polytechnische Unterricht war nichts anderes als eine Form der Kinderarbeit - und über allem wachte eine gesichtslose, schwerfällige, zentralisierte Bürokratie: "Mired in inefficiency and incompetence, it formed teacher and student outlooks that combined cultural provincialism with dependence on the state, cravenness to authority and self-forgetfulness" (S. 15).

Dass Rodden ein solch eindimensionales Bild der DDR-Schule zeichnet, hängt aber neben dem an Orwell geschulten Blick auch mit der Literaturbasis seiner Darstellung zusammen. Sie stützt sich nämlich in erster Linie auf ältere Arbeiten aus der DDR und auf Freya Kliers unmittelbar nach der Wende erschienene Abrechung mit dem Bildungssystem "ihres" Staates 2 - beides aus unterschiedlichen Gründen nicht gerade tendenzfreie Quellen. Die ältere westdeutsche Literatur bleibt dagegen ebenso weitgehend unberücksichtigt wie jüngere Arbeiten, in denen ein differenzierteres Bild von der Schule in der DDR gezeichnet und neben den Bemühungen um Politisierung auch die "Grenzen der Indoktrination" und die "Eigenlogik des Bildungssystems" thematisiert werden.3 Selbst wenn es sich also bei Roddens Abriss der DDR-Bildungsgeschichte "nur" um eine kurze Einführung für das amerikanische Publikum handelt - so holzschnittartig hätte sie angesichts des Forschungsstands nicht ausfallen müssen.

Der zweite, umfangreichere Teil der Arbeit verfolgt zunächst die Entwicklung bis zum Jahr 1995 weiter, ehe dann in neun Kapiteln einige jener Gespräche dokumentiert werden, die Rodden zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland geführt hat. Das Spektrum seiner Gesprächspartner ist dabei zwar nicht allzu breit - überwiegend entstammen sie demselben beruflichen Milieu und derselben Altersgruppe wie der Autor - und seine zur Dramatisierung neigende, eher an literarischen als an wissenschaftlichen Standards orientierte Darstellung der Gespräche sicher nicht nach dem Geschmack ernsthafter Vertreter der Oral History. Dennoch gelingt es Rodden hier auf recht eindrucksvolle Weise zu zeigen, wie sich die Brüche und Verwerfungen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in biografische Brüche und Verwerfungen ummünzen und wie auch die Nachgeborenen über ihre familiären Bindungen in die Vergangenheit verstrickt bleiben.

Da ist etwa jene ältere Dame, Jahrgang 1912, die im NS wie in der DDR in Distanz zur jeweils herrschenden Meinung bleibt, dafür die Entfremdung vom Ehemann und die Entlassung aus dem Schuldienst in Kauf nimmt, sich im Oktober 1989 dann in ihrer Heimatstadt Plauen an der "Revolution der Kerzen" beteiligt, darüber sogar Berichte schreibt und in den Westen schmuggelt, um sich fünf Jahre später gleichermaßen besorgt über eine Rückkehr ehemaliger Parteigrößen auf den Wahlzetteln der PDS wie befriedigt über den Wahlsieg der CDU und Helmut Kohls zu zeigen. Oder da ist die junge Frau, deren Vater SS-Offizier und deren Mutter ebenso stolz auf ihre reinrassige arische Familie wie interessiert an früher jüdischer Geschichte gewesen ist und die nun als Lehrerin am Jüdischen Gymnasium in Berlin ihre eigene, ganz spezielle "Vergangenheitsbewältigung" betreibt. Da ist auch der unermüdliche Wolfgang Harich, der stets aufs neue - und so auch im Gespräch mit Rodden - den 40 Jahre alten Streit mit seinem bereits verstorbenen Kontrahenten Walter Janka weiterführt und so in verzweifeltem Bemühen dafür sorgt, dass das Vergangene nicht vergeht. Und da sind schließlich jene Hochschulassistenten und -dozenten beiderlei Geschlechts, die von der Wende in den Anfängen ihrer Karriere überrascht worden sind, denen als ehemaligen Parteimitgliedern nun die Entlassung droht und die sich angesichts versäumter Gelegenheiten und düsterer Zukunftsaussichten ihrer depressiven Stimmung hingeben.

Die Lebensgeschichten haben wenig Sensationelles, sie sind - für deutsche Verhältnisse - eher normal und gerade deshalb aufschlussreich. Mit großem Gespür erfasst Rodden die Probleme, die Deutsche mit ihrer nationalen - und dadurch häufig auch mit ihrer persönlichen - Identität haben. Da gibt es kein "Erbe", nichts Erinnertes, auf das man sich - innerhalb wie zwischen den Generationen, aber auch zwischen Ost- und Westdeutschen - selbstverständlich und gemeinschaftsstiftend beziehen könnte. Alles erscheint fragwürdig und umstritten. Rodden registriert dies sehr genau, wohl nicht zuletzt deshalb, weil es ihm als Amerikaner, der sich auf dem festen Grund einer sicheren nationaler Identität bewegt, so fremd ist. Er macht aus seinem Befremden auch kein Hehl, sucht jedoch zu verstehen und Verständnis zu wecken, ein Bemühen, von dem keineswegs nur amerikanische Leser profitieren können. Da schadet es auch wenig, dass er seine Studie auf sehr amerikanische Weise mit dem Plädoyer für eine Erziehung zu Toleranz und nationalen Identität beendet. Denn dieses Plädoyer ist nicht verbunden mit dem Rückfall auf eine Position naiver Gewissheit. Wenn er fordert, die Deutschen müssten Frieden mit sich und ihrer Vergangenheit schließen, zielt dies nicht auf eine affirmative, sondern auf eine kritische Aneignung der Geschichte (Rodden empfiehlt Kontextualisierung statt radikaler Historisierung - des NS wie der DDR - und weiß, dass die Grenze schwer zu ziehen ist). Und wenn er für Erziehung als Medium der Identitätsbildung eintritt, ist er sich der damit verbundenen Gefahr neuer Indoktrination wohl bewusst - wie der Gefahr neuerlichen Scheiterns. Notwendig zum Scheitern verurteilt, so meint er, seien nämlich die Bemühungen der Verantwortlichen in der DDR gewesen, den "neuen sozialistischen Menschen" heranzubilden, hätten sie doch die Formbarkeit des menschlichen Wesens drastisch überschätzt. Nach den Befunden des ersten Teils der Studie mag dieses Fazit überraschen, hinsichtlich seines sozialwissenschaftlichen und -historischen Gehalts mag es auch nicht voll befriedigen - falsch ist es deshalb aber nicht.

Anmerkungen:
1 Siehe Albisetti, James C., Secondary School Reform in Imperial Germany, Princeton 1983; Lamberti, Marjorie, State, Society and the Elementary School in Imperial Germany. New York 1989; Naimark, Norman M., The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945-1949, Cambridge 1995.
2 Klier, Freya, Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR, München 1990.
3 Als Zusammenfassung der älteren westdeutschen Forschung in vieler Hinsicht bis heute unübertroffen Anweiler, Oskar, Schulpolitik und Schulsystem in der DDR, Opladen 1988; für die neuere Forschung und für die Diskussion um die "Grenzen der Indoktrination" exemplarisch Tenorth, Heinz-Elmar; Kudella, Sonja; Paetz, Andreas, Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition, Weinheim 1996; Leschinsky, Achim;Gruner, Petra; Kluchert, Gerhard (Hgg.), Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule: Allgemeines und der >Fall DDR<, Weinheim 1999.

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