N. Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis 17. Jahrhundert

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Titel
Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert.


Autor(en)
Hammerstein, Notker
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 64
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Irrgang, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Für Notker Hammerstein ist die Geschichte von Bildung und Wissenschaft ein Forschungsterrain von herausragender Bedeutung „für unsere modernen Gesellschaften und Staaten“ (S. 130). Dieser Einschätzung verdanken wir es, dass in die renommierte Reihe „Enzyklopädie Deutscher Geschichte“ (EdG) nun erneut ein Band aufgenommen worden ist, der sich speziell den Strukturen, Inhalten und Entwicklungen frühneuzeitlicher Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte widmet. Schon Anton Schindling hatte dort vor einigen Jahren einen Band vorgelegt, der die Jahre 1650 bis 1800 fokussiert. Weitere Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert sind ebenfalls in Planung. Mit Notker Hammerstein konnten die Herausgeber der interdisziplinär, epochenübergreifend und rezeptionsgeschichtlich konzipierten Reihe sogar einen der profiliertesten Kenner nachreformatorischer Bildungsforschung gewinnen. 1 Der Band war lange angekündigt und versprach, eine spannende Abhandlung vom Rang eines Überblickswerks zu werden, das quasi das letzte Wort hat.

Gemäß der auf fast 100 Bände konzipierten Reihe gliedert sich auch Hammersteins Darstellung in zwei separate Abschnitte: einen deskriptiven, enzyklopädischen Teil, der chronologisch von den Ursprüngen universitärer Bildung im hohen Mittelalter über den Humanismus bis zu den Wissenschaftspositionen um 1600 strukturiert ist, und einen rezeptionsgeschichtlichen Teil, der die Grundpositionen frühneuzeitlicher Bildungsforschung problematisiert. In diesen „Tendenzen der Forschung“ liegt die eigentliche Besonderheit der EdG. Ein wesentliches untergeordnetes Gliederungsschema ist des Weiteren dasjenige nach universitären Fächern und Lehrinhalten sowie nach einzelnen Bildungsstätten.

Die mittelalterliche Universität leitet Notker Hammerstein aus den Kloster- und Domschulen ab. Er beschreibt die Entstehung der ersten ‚studia generalia’ in Bologna, Paris, Oxford und Montpellier und darüber hinaus die Verdichtungsprozesse des deutschen Universitätsraumes während des 14. und 15. Jahrhunderts. Schließlich wendet sich Hammerstein den ‚septem artes liberales’ zu, der Bedeutung der vier mittelalterlichen Fakultäten, der Konstitution ‚authentica habita’ Friedrichs I., verschiedenen Unterrichtsformen, dem mittelalterlichen Promotionswesen, der sozialen Verfasstheit mittelalterlicher Universitäten sowie den rivalisierenden Strömungen der via antiqua und der via moderna, dem zentralen Konflikt der scholastischen Theologie und Philosophie.

Schwerpunkte seiner Ausführungen über die reformatorische und humanistische Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte sind die unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtungen der Universitäten, das evangelische Schulwesen, die Entwicklung eines Stipendienwesens und die inhaltlichen Veränderungen der Curricula. Große Gelehrte wie Erasmus von Rotterdam oder Philipp Melanchthon werden vorgestellt. Die Universität Wittenberg gilt als Musterbeispiel für die lutherische Ausrichtung der Lehrinhalte und innovative Reformanstrengungen. Notker Hammerstein thematisiert schließlich die Gestaltungskraft reformatorischer und humanistischer Neuerungen an den damals großen Universitäten und vergleicht die Auswirkungen der Bildungsanstrengungen im Zeichen der Reformation und des Trienter Konzils in ihren jeweiligen regionalen und personalen Koordinaten. Königsberg, Jena, Helmstedt, Gießen, Rinteln, Marburg und Altdorf sind die Orte, an denen sich das akademische Potenzial gebündelt hat.

Die Wissenschaftspositionen um 1600 waren dann wesentlich geprägt von einer aufblühenden Aristoteles-Rezeption und dem Bemühen, trotz aller konfessionellen Schranken im Sinne des erasmianischen Ideals einer ‚respublica litteraria’ das Gemeinsame der wissenschaftlichen Methoden und Argumentationsführung zu kultivieren. Die Einrichtung von Ritterakademien ist eine weitere Besonderheit bildungsgeschichtlicher Entwicklung zu dieser Zeit. Die erste Gründung einer solchen Adelshochschule vollzog sich 1594 in Tübingen. Der Erfolg solcher Akademien ist jedoch als eher mäßig einzuschätzen. Des Weiteren sind die Jahrzehnte des konfessionellen Zeitalters geprägt vom Aufschwung der Naturwissenschaften und der Medizin, wenngleich die Theologen und Juristen unangefochten die Diskurse beherrschten und selbst naturwissenschaftliche Fragestellungen philosophisch und theorielastig blieben. Erst Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz vermochten diese Starre aufzubrechen. Die allgemeine Krise nach dem Dreißigjährigen Krieg zwang die Universitäten dann, sich neu zu strukturieren und wirtschaftliche sowie personelle Schäden aufzuarbeiten. Dennoch betont Hammerstein, dass man universitätsgeschichtlich nicht von einer Zäsur 1648 sprechen dürfe.

Im rezeptionsbezogenen Abschnitt des Handbuchs, dem ein ausführliches Literaturverzeichnis angefügt ist, das durch Querverweise mit dem Textkorpus verknüpft ist, beschreibt Notker Hammerstein zunächst die historiographische Entwicklung von anlassgebundener Universitätsgeschichte (Paulsen, Eulenburg, Denifle) zur sozialgeschichtlich ausgerichteten Forschung mit ihrer Abkehr von den Thesen Herbert Grundmanns über die Universität als sozial nivellierte Institution.2 Die Verdienste von Rainer C. Schwinges werden zu Recht besonders hervorgehoben, hat es doch wahrscheinlich in der Geschichtswissenschaft kaum eine jüngere Arbeit gegeben, die so radikal ein Umdenken bewirkt und die Loslösung von alten Thesen vorgeführt hat wie jene Habilitationsschrift aus dem Jahre 1986. 3 Dass jedoch viele nachfolgende Studien der letzten 15 Jahre, die ihrerseits an Schwinges anknüpfen, sich mittlerweile von ihm emanzipieren und neue Fragen konzipieren, hat Hammerstein zu wenig deutlich gemacht.

Es folgen danach längere Ausführungen über die wichtigsten Handbücher zur Universitätsgeschichte, zur DDR-Historiografie und zur Sozialgeschichte der Bildung. Ein deutliches Desiderat der Forschung ist ein Lexikon der Bildungsgeschichte. Im Anschluss werden die einzelnen Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte vorgestellt. Weitere Themen sind Schulen und Wissenschaft, Kollegien und Bursen, der Nutzen eines Universitätsstudiums, die Wirkung des Erasmus von Rotterdam und die Bedeutung des Humanismus. Der Teil wird abgerundet mit einer Betrachtung des Späthumanismus und einer Analyse der neuen Darstellungen zu einzelnen Universitäten. Dabei wird deutlich, dass weder die katholischen Universitäten rückständiger als lutherische Hochschulen gewesen sind, noch das Jahr 1648 eine gravierende Zäsur in der Geschichte einzelner ‚studia generalia’ darstellt.

Dem Adelsstudium wird ein breiterer Raum zugestanden. Nach neueren Untersuchungen spielte besonders die Universität Dillingen eine große Rolle bei der Aufnahme adeliger Studenten. Erstaunlich ist, dass die ‚peregrinatio academica’ als verbreitet eingeschätzt wird. Gleichwohl die Kavalierstour der Frühen Neuzeit im Vergleich zum mittelalterlichen Unterwegssein eine steigende Bedeutung erfuhr, so handelte es sich dabei doch nie um eine generelle Erscheinung. In diesem Zusammenhang fehlt bei Hammerstein auch die Verarbeitung der Studie von Antje Stannek über die höfische Bildungsreise im 17. Jahrhundert. 4 Auch wenn einem Handbuch schon vom Verlag enge Grenzen gesteckt sind und nicht jede Publikation berücksichtigt werden kann, so verwundert dennoch, dass die vorzügliche Untersuchung von Michael Trauth zur Universität Trier 5 keinen Niederschlag gefunden hat, die doch immerhin Fragen der nachreformatorischen Modernisierungstendenzen und die Wechselwirkungen zwischen Innovation und scholastischer Tradition in den Blick nimmt. Der knappe Ausblick auf das Modell Humboldt hätte zumindest der Erwähnung eines Werkes von Rüdiger vom Bruch bedurft. Abschließend sei noch auf den Tagungsband „Diffusion des Humanismus“ aufmerksam gemacht, der weitere verwertbare Detail liefert.6 Kritisch bleibt noch anzumerken, dass die Universität Trier 1473 gegründet wurde und nicht 1454, gleichwohl die Gründungsgeschichte bis 1450 zurückverfolgt werden kann, und dass die Universität Prag 1348 aus der Taufe gehoben wurde und nicht schon 1346.

Notker Hammerstein schließt mit der Aufforderung, sowohl die soziale Rolle einzelner Universitäten und Gelehrter eingehender zu untersuchen als auch das Verhältnis zwischen höfischer Welt und Universität stärker zu erforschen. Ansonsten werden große Forschungsdesiderate kaum enthüllt. Auf welche Quellen sich der Bildungs- und Wissenschaftshistoriker künftig konzentrieren sollte, bleibt offen. Denjenigen Leser, der bereits intensiv mit der Materie vertraut ist, wird die Lektüre des Bandes enttäuschen. Die Darstellung ist bisweilen zu vergröbernd und zu simplifizierend, was indessen zum Großteil dem ansonsten vorzüglichen Konzept der Handbuchreihe geschuldet sein dürfte. Zum Einstieg in die fesselnde Thematik europäischer Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte liefert Hammerstein allerdings reichlich Erkenntnisgewinn.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend aus seinem breiten Oeuvre vgl. Hammerstein, Notker (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, München 1996; vgl. Notker Hammersteins Beitrag in: Muhlack, Ulrich; Walther, Gerrit (Hgg.), Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte (= Historische Forschungen 69), Berlin 2000.
2 Grundmann, Herbert, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Darmstadt 1960.
3 Schwinges, Rainer C., Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986.
4 Stannek, Antje, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts. (Geschichte und Geschlechter 33), Frankfurt 2001. (Vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/FNZ-2002-003).
5 Trauth, Michael, Eine Begegnung von Wissenschaft und Aufklärung. Die Universität Trier im 18. Jahrhundert, Trier 2000.
6 Helmrath, Johannes; Muhlack, Ulrich; Walther, Gerrit (Hgg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002. (Vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/MA-2003-1-033).

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