W. Freitag u.a.: Halle und deutsche Geschichtswissenschaft um 1900

Titel
Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Beiträge des Kolloquiums "125 Jahre Historisches Seminar an der Universität Halle" am 4./5. November 2000


Autor(en)
Freitag, Werner; Paletschek, Sylvia; Pandel, Hans-Jürgen; Schulin, Ernst; u.a.
Reihe
Studien zur Landesgeschichte 5
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerrit Deutschländer, Fachgebiet Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Das 125. Jubiläum der Gründung des Historischen Seminars an der Universität Halle bot im Herbst des Jahres 2000 den Anlass, sowohl in festlicher als auch in fachwissenschaftlicher Umgebung über die Grundbedingungen und die Methoden der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900 und den Beitrag hallischer Universitätsgelehrter zur historischen Forschung in Deutschland nachzudenken. Der vorliegende Band enthält die Druckfassung des Festvortrags von Ernst Schulin und die einzelnen Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums am Institut für Geschichte sowie weitere Aufsätze zum Thema. Er gliedert sich in zwei Teile („Methodologie und Rahmenbedingungen“ und „Das Seminar in Halle um 1900“), womit einerseits eine allgemeine und vergleichende Perspektive und andererseits ein Einblick in die hallischen Verhältnisse geboten werden soll.

Persönliche Erinnerungen an Historiker aus Halle bilden für Ernst Schulin (S. 11-24) jedoch den Ausgangspunkt, um ein Bild der deutschen Geschichtswissenschaft im Kaiserreich zu entwerfen und somit den Rahmen zu liefern, in den sich die hallische Geschichtsforschung Ende des 19. Jahrhunderts einfügte. Angereichert wird dieses Bild durch die Beiträge von Thomas Stamm-Kuhlmann (S. 108-120) und Hans Schleier (S. 93-107). Stamm-Kuhlmann weist auf die weitgehende ideologische Homogenität der preußisch-deutschen Geschichtsforscher hin, die sich mit deren sozialer Herkunft erklären lässt. Die meisten von ihnen entstammten dem Bildungsbürgertum, waren überwiegend lutherisch und standen treu zu Staat und Obrigkeit, woraus sich eine Vorliebe für bestimmte Themen und Deutungen ergab. Schleier richtet seinen Blick hingegen auf das Gebiet der Kulturgeschichte, das sich als selbständiges Lehrgebiet an den Universitäten nicht durchsetzen konnte, auf dem sich um 1900 aber auch einige hallische Lehrstuhlinhaber sozusagen nebenher betätigten.

Hilfreich für die Einordnung der Seminargründung und der Institutionalisierung von Geschichtswissenschaft in Halle sind die Beiträge von Hans-Jürgen Pandel (S. 25-36) und Sylvia Paletschek (S. 37-64). Obgleich die empirischen Untersuchungen zur Geschichte der historischen Seminare an deutschen Universitäten noch längst nicht abgeschlossen sind, versucht Pandel einen Überblick über deren Entwicklung zu geben. Dabei richtet er sich vor allem gegen Legenden, welche die Seminargründungen auf die Ausstrahlung Rankes oder Versuche, die Lehrerausbildung von der wissenschaftlichen Ausbildung zu trennen, zurückführen. Mit Blick auf die Entwicklung des Historischen Seminars an der Universität Tübingen von seiner Gründung 1875 bis 1914 betont auch Sylvia Paletschek, dass sich die seminaristische Unterrichtsform im Zusammenhang mit der Ablösung der Universalgeschichte durch eine quellenorientierte und zunehmend spezialisierte Geschichtsforschung durchgesetzt hat.

Nach diesem Verlust der Universalität geschichtlicher Studien stellte sich indes die Frage, welche Bedeutung die Beschäftigung mit Geschichte denn noch für die Persönlichkeitsbildung haben konnte. Manfred Hettling (S. 65-77) setzt sich deshalb mit den Positionen von Wilhelm von Humboldt, Friedrich Nietzsche und Max Weber zum Bildungswert der Historie auseinander und fragt darüber hinaus, inwieweit das heutige Geschichtsverständnis noch immer von Kategorien des 19. Jahrhunderts bestimmt ist.

Im Zusammenhang mit der zunehmenden Professionalisierung der Geschichtswissenschaft geriet auch die erzählende Darstellungsform in die Kritik. Gerrit Walther (S. 78-92) zeigt in seinem Beitrag, dass die literarische Darstellung in der akademischen Geschichtsschreibung zwar weiterhin als „lebendige Vergegenwärtigung“ kultiviert wurde. Im täglichen Wissenschaftsbetrieb bildete jedoch eine kritische, distanzierte und nachprüfbare Darstellungsform den Maßstab für Qualität. Geschichte erzählen durften zum Ende des 19. Jahrhunderts ohne Schelte allein die Etablierten, die ihre methodische Qualifikation hinreichend unter Beweis gestellt hatten.

Vor diesem allgemeinen ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund ist es aufschlussreich, den Beitrag von Werner Freitag (S. 179-192) zu lesen, in dem anhand des ersten Bandes der 1889 bis 1893 veröffentlichten dreibändigen „Geschichte der Stadt Halle“ von Gustav Friedrich Hertzberg Arbeits- und Sichtweise dieses Autors analysiert werden. Hertzberg, der eigentlich Althistoriker war, schrieb die bislang beste Gesamtschau der hallischen Stadtgeschichte aus Liebe zu seiner Heimatstadt und mit dem Anspruch, eine wissenschaftlich fundierte Darstellung für seine Mitbürger zu liefern. In Fachkreisen fand diese lebendige Schilderung, die von seiner „Gabe zur Kompilation und zur soliden Quellenarbeit“ (S. 190) zeugt, jedoch nur wenig Beachtung, wie seine althistorischen Arbeiten übrigens auch. Dennoch ist sein Werk ein gutes Beispiel für die Sinnstiftung durch Geschichte in Zeiten tiefgreifenden Wandels, das außerdem ein Licht auf die Beziehungen zwischen Stadtbürgertum und Universität am Ende des 19. Jahrhunderts wirft .

Den zweiten Teil des Sammelbandes eröffnet der zentrale Aufsatz von Markus Meumann (S. 123-135) über die Gründung des Historischen Seminars in Halle und das Wirken Gustav Droysens, Sohn des allbekannten Verfassers der Historik und neben Ernst Dümmler erster Direktor des neu eingerichteten Seminars. Wie schon Pandel versucht auch Meumann mit personenbezogenen Legenden über die Entstehung dieser Universitätseinrichtung aufzuräumen. Mit Dümmler und dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte, Theodor Lindner, beschäftigt sich dann Andreas Ranft (S. 158-171), der beide Lehrstuhlinhaber vergleicht und in ihrer wissenschaftlichen Arbeit kennzeichnet: Dümmler, der Wissenschaftsorganisator und Lindner, der geschätzte akademische Lehrer, der zahlreiche Dissertationen zu den vielfältigsten Themengebieten anregte und betreute. Ebenfalls von ihren heutigen Fachkollegen werden weitere Vertreter der hallischen Geschichtswissenschaft um 1900 gewürdigt. Eduard Meyer, Universalhistoriker auf dem Lehrstuhl für Alte Geschichte, von dem Althistoriker Burkhard Meißner (S. 136-157), Johann Gottfried Gruber, Wilhelm Schum und Karl Heldmann als Vertreter der Historischen Hilfswissenschaften von Walter Zöllner (S. 172-178) und Theo Sommerlad als Vertreter der Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Peter Hertner (S. 193-206).

Hervorzuheben ist abschließend, dass alle Autoren des Sammelbands versuchen, die Leistungen einzelner Gelehrter ohne verklärten Blick zu würdigen und vor dem Hintergrund der Zeitumstände und des jeweiligen persönlichen Werdegangs zu sehen. Der Band leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der im ausgehenden 19. Jahrhundert hoch angesehenen Geschichtswissenschaft. Auch wenn die Darstellungen zu den Rahmenbedingungen historischer Forschung in Deutschland vielfach frühere Ausführungen wiederaufnehmen oder zusammenfassen, tragen sie in diesem Zusammenhang doch wesentlich dazu bei, den Standort zu bestimmen und zu verdeutlichen, den die Geschichtsforschung an der Universität Halle vor dem Ersten Weltkrieg eingenommen hat. Im Hinblick auf die weitere „Aufarbeitung“ der Geschichte des Fachs ist die Schlussbemerkung Walter Zöllners (S. 177) zu unterstreichen, sich nicht länger auf verdiente Gelehrte und die Entwicklung von Institutionen zu beschränken, sondern verstärkt auch den akademischen Mittelbau und die Studentenschaft in den Blick zu nehmen.