G. Melville u.a. (Hgg.): Das Eigene und das Ganze

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Titel
Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum


Herausgeber
Melville, Gert; Schürer, Markus
Reihe
Vita regularis 16
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
682 S.
Preis
€ 50,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ertl, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die mittelalterliche Individualität ist ein schwieriges Forschungsfeld, in dem zeitgeistige Strömungen und individuelle Überzeugungen einen diffusen Untersuchungsgegenstand konturieren, dessen terminologische Unschärfen das Erkenntnisziel häufig verschwimmen lassen. Selbst auf grundlegende Fragen fehlen definitive Antworten: Ist Menschsein ohne Selbstbewusstsein und Individualität möglich? Ist zunehmende Selbstthematisierung ein Indiz für eine Blüte oder eine Krise des Individualismus? Ist die Geschichte der westlichen Welt eine Geschichte der erfolgreichen Befreiung des Einzelnen aus überkommenen Denk- und Verhaltensmustern? Oder handelt es sich vielmehr um ein Scheinproblem, das keinen dauerhaften Erkenntnisfortschritt liefern kann, das aber aufgrund des dahinterstehenden modernen Erkenntnisinteresses stets ein Faszinosum bleiben wird? Jede dieser Fragen wurde kontrovers diskutiert. Möglicherweise hat in diesem Sumpf der Unwägbarkeiten allein eine Regel Bestand: Das historische Interesse an der Geschichte der menschlichen Individualität verhält sich proportional zur wahrgenommenen Instabilität sozioökonomischer Verhältnisse. Kein Wunder, dass sich die Mediävistik in Zeiten globaler Neuordnungen weiterhin für das Thema interessiert.

Der von Gert Melville und Markus Schürer herausgegebene Sammelband bereichert die Individualisierungsdebatte durch die Vielzahl der Perspektiven, mit der die Individualität im Kloster untersucht wird. In seinen einleitenden Bemerkungen steckt Gert Melville den Rahmen des Sammelbandes ab. Um eine „Aporie von höchster Fruchtbarkeit“ sollen die Beiträge kreisen, um jene spannungsgeladene vita religiosa nämlich, die einerseits ihren Anhängern eine „totale Institutionalisierung“ abverlangt und sie der Gemeinschaft völlig unterworfen habe, andererseits aber den Individualitätsstrukturen zu einem „kulturgeschichtlichen Durchbruch hin zur innerlichen Selbstbestimmtheit des Menschen“ verholfen habe. Sowohl für die Kollektivierung des einzelnen Mönchs wie auch für das monastische Individuum auf der Suche nach seinem persönlichen Weg zu Gott sammelt Melville eine Reihe aussagekräftiger Belege, die von Äußerungen des Petrus Damiani und Bernhards von Clairvaux zum Mönchtum ihrer Zeit über die Durchsetzung von Ordensregeln und Ordensgelübden bis zu Einzelbeobachtungen hinsichtlich Memorialüberlieferung, charismatischer Vereinzelung und visionären Erlebnissen reichen. Beide Tendenzen – die perfekte Organisation des Ganzen sowie die intensive Förderung des Einzelnen – seien im religiösen Leben verschmolzen und kennzeichneten so das Spannungsverhältnis zwischen mönchischer Entäußerung und Verinnerlichung, dem sich die folgenden zweiundzwanzig Beiträge in fünf Abschnitten nähern.

Das begriffliche und semantische Fundament der Diskussion bilden „Grundlagenreflexionen“. Es geht einmal mehr um die Schwierigkeiten, das Unfassbare zu erhaschen und die Konfliktzonen und Überschneidungen von Kategorien wie Identität, Selbst, Individuum und Verinnerlichung voneinander abzugrenzen. Gegenüber einer mittelalterlichen Begrifflichkeit, die sorglos durcheinander mischte, was neuzeitliche Forscher trennen wollen, ist die moderne Terminologie durch Differenziertheit, aber auch durch innere Widersprüchlichkeit gekennzeichnet (S. Kramer/C. W. Bynum). Dabei vermag offensichtlich auch eine Orientierung an den biologischen Wissenschaften der Geschichtswissenschaft keine brauchbaren Anleihen zu vermitteln, um dem erkenntnistheoretischen Dilemma zu entkommen (A. Kehnel). Zu den Diskussionsgrundlagen zählen die Herausgeber auch eine wissenschaftliche Wesensbestimmung mittelalterlicher Individualität. Den Forschungstraditionen der letzten Jahrzehnte entsprechend, wird die Verinnerlichung des Sündenbegriffs im 12. Jahrhundert als maßgeblich für eine zunehmende Selbstthematisierung erachtet. Als eine Konsequenz sei der ‚homo interior’ erwacht, der persönliche Verfehlungen offengelegt habe, um seinem Nächsten als Vorbild zu dienen. Neben dieser spirituellen Selbstthematisierung habe der vormoderne Mensch über eine „partizipative Identität“ verfügt, die zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung die Gruppenzugehörigkeit zu Stand oder Familie in den Vordergrund gerückt habe. Identität habe man durch Inklusion in eine Statusgruppe gewonnen (A. Hahn/C. Bohn).

Mit „Der Einzelne und Gott“ ist der zweite Abschnitt überschrieben. Die Mehrzahl der Beiträge beschreibt die Versuche einzelner Mönche, innerhalb ihrer Gemeinschaft Gott als Einzelmensch gegenüber zu treten. Als Belege dafür dienen individuelle Namensnennung, z.B. im Liber vitae (F. Neiske) und theologische Spekulationen, z. B. von Petrus Damiani (J. Harris). Um die authentische Person hinter hagiographischen Erzählungen sowie die strategische Umformung einer historischen Person durch die Hagiographie geht es in dem Abschnitt „Persönlichkeit, Modell, Typ“. Es wird versucht, den wirklichen Franziskus hinter der Verformung durch Päpste und Anhänger zu erkennen (M. P. Alberzoni, ähnlich R. Sickert über Elias von Cortona). Welche Strategien hinter der Erzählung eines Heiligenlebens stecken können, wird anhand der Viten von Dominikus und Petrus Martyr in der Legenda Aurea untersucht. Jakobus de Voragine habe zwar viel konventionelles Traditionsgut aus älteren Vorlagen übernommen, die beiden Heiligen des Predigerordens jedoch durch die Aufnahme unkonventioneller Episoden überhöht, um die Legitimität des Ordens, dem Jakobus selbst angehörte, zu unterstreichen (M. Schürer).

„Selbst, Identität, Gemeinschaft“ stehen im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts. Dargestellt wird u.a. die Entwicklung des monastischen Novizenjahres, die in einer Bestimmung Papst Innocenz’ III. ihren kirchenrechtlichen Abschluss fand. Die päpstliche Betonung der persönlichen Freiheit, das Probejahr jederzeit abbrechen zu können, sei zum Schutz der individuellen Freiheit des Novizen erfolgt (G. Cariboni). Den thematischen Rahmen sprengt ein Beitrag, der die ins Frühmittelalter zurückreichenden Wurzeln des kanonischen Rechts betont (B. Brasington). In einem Beitrag über Aelred von Rievaulx und sein Leben zwischen ‚affectus’ und Askese wird auf den Freiraum hingewiesen, den die vita religiosa ihren Söhnen und Töchtern für individuelle Gefühle, innige Freundschaften und kritische Selbstbeobachtung ließ (B. P. McGuire). Anhand der institutionellen und persönlichen Schwierigkeiten, auf die Johannes von Montecorvino bei seinem Missionsaufenthalt in China stieß, werden Strategien und Probleme dauerhafter Missionierung sowie die Frage erörtert, wie man sich innerhalb einer religiösen Gemeinschaft unsterblich macht. Johannes, der beträchtliche Missionserfolge vorweisen konnte, habe auf sichtbare „Demonstrationen heiligstiftender Symbolisierungsleistungen“ verzichtet und sei deshalb sehr schnell in Vergessenheit geraten (A. Müller). Als Spiegel der Beziehungen zwischen Bettelmönchen und Stadtbürgertum werden schließlich die Ad-status-Predigten des Humbert de Romanis interpretiert. Dabei wird festgestellt, dass Humbert neue Formen kommunaler Selbstregierung und städtischer Wirtschaftspraktiken legitimierte und mit einer religiös-ethischen Verpflichtung verknüpfte (J. Oberste).

Die Beiträge des letzten Abschnitts über „Das Individuelle und das Institutionelle“ beschäftigen sich mit der Vereinbarkeit von institutionalisierter Regel und persönlicher, vor allem weiblicher Religiosität. So wird beispielsweise das Parakletbuch als Beleg für die „mönchshumanistische“ Gesinnung von Petrus Abaelard gedeutet. Gestützt auf Abaelards Intentionsethik, die sich gegen die asketische Standesmoral gerichtet habe, fordere die darin enthaltene Nonnenregel nicht asketische Höchstleistungen und äußerliche Werke, sondern eine richtige Selbsteinschätzung und redliche Anstrengungen (P. von Moos). Dem Streben nach geistiger und jurisdiktioneller Unabhängigkeit von berühmten Frauen und unbekannten Frauenkonventen widmen sich die beiden letzten Beiträge (H. Feld, R. Butz).

Die in dem Sammelband enthaltenen Beiträge – nur auf wenige konnte explizit eingegangen werden – setzen die Individualisierungsdebatte der letzten Jahrzehnte fort. Ausgangspunkt ist die seit einigen Jahrzehnten dominierende Überzeugung, dass Individualität im westlichen Europa im 12. Jahrhundert entstanden sei. Dieses Axiom ist allerdings selbst diskussionswürdig. Denn die Vorverlegung der Entdeckung des Individuums von der Renaissance (Jacob Burckhardt) in das hohe Mittelalter (von Colin Morris bis Aaron J. Gurjewitsch) ist möglicherweise einer jener zyklischen Paradigmenwechsel der Wissenschaftsgeschichte (Thomas S. Kuhn), die mehr unseren Forschungsbetrieb als die vergangene Wirklichkeit charakterisieren. Vorstellbar wären auch ganz andere Erklärungsmodelle. Kombiniert man beispielsweise Ansätze von Alphons Dopsch und Ulrich Beck 1 – der eine feiert das frühe Mittelalter als eine Epoche des Individualismus, der andere charakterisiert die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als Periode der Individualisierung –, so könnte man auch die Meinung vertreten, der westliche Mensch habe seine Individualität gegen das Jahr 1100 verloren, um sie in den Jahrzehnten nach 1945 wiederzufinden. Dieses Gedankenspiel kann die vorherrschende Meinung der Forschung nicht in Frage stellen, aber doch vielleicht davor warnen, die Entdeckung des Individuums im hohen Mittelalter als definitive Lösung des Problems zu betrachten. Möglicherweise wird sich die Verbindung des Individuums mit dem hohen Mittelalter eines Tages zusammen mit der Aufbruchs-Aura, die diese Epoche seit dem beginnenden 20. Jahrhundert umweht 2, verflüchtigen. In einer weiteren Hinsicht bleiben die Beiträge der Individualisierungsdiskussion der letzten Jahrzehnte verpflichtet: Während man in Zeiten der Dekonstruktion an der Kohärenz einer autonomen ‚creatura humana’ zu zweifeln begann 3, wird in nicht wenigen Beiträgen das Wahre, das Authentische, die reale Persönlichkeit hinter dem Topos und der Verformung gesucht. Hat die autarke Persönlichkeit die Postmoderne überstanden?

Auch wenn der Sammelband hinsichtlich der paradigmatischen Grundüberzeugungen keine neuen Akzente setzt, so bereichert er doch die Diskussion durch seine pointierte Prononcierung einer „fruchtbaren Aporie“ der Verschmelzung von Kollektiv und Singularität im Mönchtum. Es ist also nicht die Neuartigkeit der Perspektive, die diesen Sammelband auszeichnet, sondern die Konzentration, mit der hier Beiträge um die Individualität im Kloster kreisen. Den Herausgebern ist es gelungen, ein bis auf wenige Ausnahmen kohärentes Ganzes zu schaffen, in dem der Leser auf immer neuen Wegen mit demselben Phänomen konfrontiert wird. Der Sammelband ist daher als ein gelungenes Resümee der Individualismusforschung der letzten Jahrzehnte zu verstehen, mit allen Schwächen und Stärken dieser Debatte. Denn zweifellos begegnet der Leser bei der Lektüre den komplexen Schwierigkeiten des Forschungsfeldes, aber auch jenen anregenden Einblicken, die eine Erforschung des mittelalterlichen Individualismus in immer neuen Spielarten am Leben erhalten werden.

1 Dopsch, Alphons, Wirtschaftsgeist und Individualismus im Frühmittelalter (1929), wieder abgedruckt in: Ders., Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Wien 1938, S. 154-186; Beck, Ulrich, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Kreckel, Reinhard, Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen 1983, S. 35-74.
2 Vgl. Borgolte, Michael, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248 (1996), S. 225-258.
3 Borgolte, Michael, „Selbstverständnis“ und „Mentalitäten“. Bewusstsein, Verhalten und Handeln mittelalterlicher Menschen im Verständnis moderner Historiker, in: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997), S. 189–210, hier 191f. Zur empirischen Umsetzung vgl. Sommerlechner, Andrea, Stupor mundi? Kaiser Friedrich II. und die mittelalterliche Geschichtsschreibung (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom I/11), Wien 1999.

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