J. Requate u.a. (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit

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Titel
Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert


Herausgeber
Requate, Jörg; Schulze Wessel, Martin
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Angesichts der europaweiten Demonstrationen gegen den Krieg im Irak im Frühjahr 2003 konstatierten politische Kommentatoren unterschiedlichster Couleur mit Nachdruck die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, ein Befund, zu dem andere politische Kommentatoren bereits im Jahr 1995 während des Bosnienkonfliktes kamen, eine Beobachtung, auf die die Herausgeber des Bandes ‚Europäische Öffentlichkeit’ in ihrem einleitenden Beitrag aufmerksam machen. Die Frage, ob es so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit gibt, wann sie sich und wie sie sich konstituiert hat, ist mithin eine zentrale Frage für die aktuelle politische Entwicklung in Europa. Aktuell ist dieses Thema nicht allein aufgrund der gemeinsamen europäischen Währung oder hinsichtlich der Allgegenwärtigkeit Europas, die auch in einem neuen Symbol - der Europaflagge - zum Ausdruck kommt. Bedeutung kommt dieser Frage vor allem auch deshalb zu, weil – paradoxerweise von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet - der europäische Konvent tagt, jene Versammlung, die dem Vereinigten Europa eine Verfassung geben soll, ein Projekt, das ohne öffentliche Partizipation, ohne eine europäische Öffentlichkeit also, kaum gelingen kann.

Hervorgegangen ist der Band aus einer am Zentrum für die Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig veranstalteten Tagung. Die Herausgeber gehen dabei nicht von einer scharfen oder normativen Definition dessen aus, was unter europäischer Öffentlichkeit zu verstehen sei, sondern betonen den konstruktiven und sich immer wieder wandelnden Begriff von Europa. Europäische Öffentlichkeit werde, so der theoretische Ansatz der Herausgeber, durch Appelle erzeugt, sie wird zu einer appellativen Instanz, die nur unter historischer Perspektive genauer zu bestimmen ist. Die zentralen Fragen dieses Bandes richten sich folglich darauf, von wem die Appelle ausgingen, „unter welchen Bedingungen und mit Hilfe welcher Strategien derartige Appelle auf Resonanz stießen und an welches Europa sie adressiert wurden“ (S. 13). Es geht demzufolge um die Frage nach der kommunikativen Herstellung Europas. In der konkreten geschichtswissenschaftlichen Arbeit zur europäischen Öffentlichkeit zerfällt diese in eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten. Im Mittelpunkt der einzelnen Beiträge stehen daher transnationale Beziehungen in Europa und die Appelle an die verschiedenen Öffentlichkeiten. Die Beiträge spannen einen weiten Bogen vom instrumentellen Umgang rumänischer Revolutionäre im Jahr 1848 mit der Öffentlichkeit (Hans-Christian Maner) oder dem Aufbau einer jüdischen Öffentlichkeit während des Baseler Zionistenkongresses von 1897 (Michael Berkowitz) bis hin zu den Appellen (Xosé-Manoel Núnez) und der Publizistik (Sabine Bamberger-Stemmann) nationaler Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, um nur einige der Themen zu nennen und die inhaltliche Bandbreite der Aufsätze anzudeuten.

So spannend und erhellend viele der Beiträge in sich auch sind, etwa über den Wandel von der „jüdischen Fürsprache“ zur politischen Praxis der Juden in Europa vom 18. zum 19. Jahrhundert (François Guesnet), der Vergleich der Appelle verfolgter Protestanten im polnischen Thorn von 1724 und der aus Prag ausgewiesenen Juden von 1744 (Martin Schulze-Wessel), oder der Beitrag über den Topos der ‚orientalischen’ Gewalt in der politischen Rhetorik des 19. und 20. Jahrhunderts (Thomas Scheffler), so fragt sich doch, was die Aufsätze zur Frage nach der spezifisch „europäischen“ Öffentlichkeit beitragen. Dieses Problem stellt sich insbesondere in jenen Texten, in denen Themen wie die Exilorganisation litauischer Nationalisten in den ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (Eberhard Demm) oder die tschechoslowakischen Auslandsaktionen im Ersten Weltkrieg (Frank Hadler) untersucht werden, politische Aktivitäten mithin, die sich dezidiert nicht auf Europa bezogen, sondern die die internationale Öffentlichkeit für nationale Interessen instrumentalisierten. Anders gelagert sind die Schwierigkeiten in jenen Beiträgen, die Themen behandeln, die zwar eine europäische Dimension hatten, intentional aber nicht euro­päisch, sondern internationalistisch ausgerichtet waren. 1968 (Michael A. Schmidtke) ging es dezidiert nicht um eine euro­päische, sondern um internationale Zusammenhänge, und die von Ausländern gebildeten republikanischen Verbände im Spanischen Bürgerkrieg (Sören Brinkmann) hießen nicht ‚Europäische Einheiten’, sondern ‚Internationale Brigaden’.

Auf der anderen Seite sind Themen, in denen sich im 18., 19. und 20. Jahrhundert so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit herstellte, nicht herangezogen: die in der Einführung kursorisch genannte intensive Kommunikation europäischer Intellektueller im Zeitalter der Aufklärung etwa, oder die europäischen Intentionen der frühen Nationalbewegungen (Giuseppe Mazzini und die Organisation ‚Giovine Europa’ zum Beispiel), oder auch die verschiedenen Europa-Bewegungen in den 20er Jahren des 20. Jahrhundert.

Positiv hervorzuheben ist indes, dass Jörg Requate und Matthias Vollert in ihrem Beitrag über die Berichterstattung zu den Jugoslawienkriegen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich vor „holistischen Vorstellungen“ (S. 325) von Europa und der europäischen Öffentlichkeit warnen, die ein Europa als Einheit voraussetzen, die es erst historisch zu bestimmen und zu entwickeln gilt. Denn wenn etwas für die dringend gebotene geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Europa und der europäischen Öffentlichkeit abträglich ist, dann wäre es eine Wiederholung der nationalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die ihren Gegenstand, den sie in ihrer historischen Entwicklung darzustellen vorgab, erst geschaffen hat. Insofern ist auch der Hinweis der Herausgeber nur allzu treffend, dass die appellative Rede von der „europäischen Öffentlichkeit“ eine Fiktion ist, die jedoch, wie Requate und Schulze-Wessel zugleich betonen, „von weitreichender kommunikativer Bedeutung“ (S. 14) sein kann.

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