H. Hiller: Jagdwesen in Deutschland

Titel
Jäger und Jagd. Zur Entwicklung des Jagdwesens in Deutschland zwischen 1848 und 1914


Autor(en)
Hiller, Hubertus
Reihe
Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte 2
Erschienen
Münster 2003: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Tacke, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

In den Sozialwissenschaften zeichnet sich in den letzten Jahren ein Trend zur Historisierung des Verhältnisses von Mensch und Tier ab. In einer kulturgeschichtlichen Perspektive kann die Erforschung des sich wandelnden Mensch-Tier-Verhältnisses sicherlich dazu beitragen, die Wahrnehmungen und Sinndeutungen einer modernen Gesellschaft zu beschreiben, die ihr Verhältnis zu einer natürlich gedachten Umwelt reflektiert. In einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive steht also, so banal es zunächst klingen mag, nicht das Tier im Zentrum des Interesses, sondern die Gesellschaft. Man kann entweder funktionalistisch fragen, welche sozialen und kulturellen Veränderungen dazu geführt haben, dass bestimmte soziale Gruppen das Leiden der Tiere an der Gesellschaft für sich entdeckten und sich der Tiere annahmen, oder strukturalistisch vorgehen, und die gedachte Ordnung der Tiere als Ordnungsmodell von Gesellschaft interpretieren.

Hubertus Hiller geht es jedoch in seiner „aus volkskundlichem Blickwinkel“ geschriebenen Studie über Jagd und Jäger im 19. Jahrhundert um die Frage, „ob die Jäger ihren selbst formulierten Ansprüchen gerecht werden oder die Jagd nicht eher eine mit ökologischen und wildbiologischen Scheinargumenten verbrämte prestigeträchtige Freizeitbeschäftigung einer mit weitreichenden Sonderrechten ausgestatteten Minderheit sei und deshalb weder mit natur- noch mit tierschützerischen Motiven in Einklang zu bringen ist“ (S. 9). Tierschutz wird in dieser Arbeit zwar durchaus historisiert und aufgezeigt, dass sich um die Jahrhundertwende eine neue Jagdethik herauszubilden begann, die ein neues Verhältnis zum gejagten Wild propagierte, das nun möglichst „weidgerecht“ zu töten war. Die Frage nach dem Warum wird jedoch allenfalls mit einem kurzen Hinweis auf geistesgeschichtliche Auswirkungen der Romantik gestreift und interessiert den Autor nicht weiter. Vielmehr werden „die Jäger“ ideologiekritisch – aber unhistorisch – an ihren eigenen Worten gemessen.

Kurz, das Buch soll einerseits die „doppelte Moral“ der Jäger „entlarven“, die seit 1900 sich als Tierschützer ausgeben, jedoch bis heute teilweise tierquälende Jagdmethoden auf bestimmte Tiere verteidigen, und andererseits das sich seit der Revolution von 1848 in Deutschland durchgesetzte „bürgerliche“ Reviersystem, das vor allem kapitalkräftige Jäger zur Jagd auf prestigekräftige Geweihträger machen lässt, als ökologisch unvertretbar aufzeigen. Dass es dem Autor dabei offensichtlich auch um (jagd-)politische Argumente im Hinblick auf eine angestrebte Änderung des aktuellen Jagdrechts im Sinne einer „Demokratisierung“ der Jagd zugunsten der ‚armen‘ revierlosen Jäger geht, und er dafür historisch-moralische Argumente bemüht, kann man zwischen den Zeilen lesen, wird aber nicht explizit ausgesprochen.

Auf weiten Strecken wird in diesem Buch jedoch nicht historisch argumentiert, sondern mit Hilfe von moralisch-ökologischen Argumenten angeklagt: die Jagd seit 1848 wird daran gemessen, ob ein vom Autor geradezu teleologisch gedachtes Natur- und Tierschutzideal realisiert werden konnte. Immer wieder macht der Autor seiner Empörung über die „doppelte Moral“ der „Jägerwelt“ Luft, die entgegen ihren tierschützerischen Worten tierquälende Jagdmethoden anwandte und bis heute anwendet. Alles was dem Tierschutz nützt, ist ‚gut‘ („Weidgerechtigkeit“, „Biotophege“), alles was ihm entgegenstehen könnte, ist ‚böse‘ („Trophäenkult“, das durch Kapital beherrschte Reviersystem, „Prestigesucht“ des „Bürgertums“, „Raubwildvernichtung“). Kurz, im Mittelpunkt steht das Leiden der Tiere an der bürgerlichen Gesellschaft.

Mag dem einen oder der anderen LeserIn eine solch politisch-moralische Anklageschrift in Zeiten, in denen der Tierschutz den Status eines Verfassungsrechts erlangt hat, auch sympathisch sein, um so problematischer ist der methodische Umgang mit den Quellen. Die „Methode“, die Jäger an ihren eigenen Worten zu messen, führt dazu, dass Hubertus Hiller oftmals das Reden der Jäger über die Jagd mit der historischen Realität verwechselt. So wird etwa die Darstellung der „sozialen Zusammensetzung“ der Jägerschaft direkt aus der „Deutschen Jagdzeitschrift“ von 1902 übernommen, und die dort aufgestellte Einteilung der Jäger in „berufene“ („weidgerechte“) Jäger, „Jäger von Beruf“ (Förster) und „unberufene“ Jäger“ („Schießer“, Wilderer und Tierquäler) unkritisch geglaubt. Der „Schießer“, der großstädtische Jäger, der unter Missachtung weidmännischer Ideale auf möglichst große Wildstrecken aus ist, wird beispielsweise nicht als soziale Stilisierung einer sich selbst von diesem abgrenzenden und damit konstruierenden ‚Jägerelite‘ beschrieben, sondern als historische Kategorie eingeführt. Allenfalls stellenweise, etwa bei den - durch das von Hubertus Hiller - angeklagte Reviersystem benachteiligten „Bauernjägern“, kommen ihm Zweifel, ob die abfällige Beurteilung in seinen Quellen nicht ein Ausfluss einer traditionell konfliktreichen Beziehung zwischen Förstern und Bauern sein könnte.

Letztlich verstrickt sich eine moralisch-ökologisch argumentierende Tiergeschichte in ein moralisches Problem, dem auch Hubertus Hiller nicht entgehen kann. Ein besonders ‚schlagendes‘ Argument seines Buches besteht darin, aufzuzeigen, dass die Jäger zwar einerseits seit der Jahrhundertwende weidgerechte Jagdmethoden gegenüber dem „Nutzwild“ anwandten, sie jedoch gegenüber dem sog. „Raubwild“ als „tierischen Jagdkonkurrenten“ (Hubertus Hiller benutzt natürlich den neutralen Begriff „Beutegreifer“) nicht gelten ließen und es einer „rücksichtslosen Verfolgung“, einem „rigorosen Vernichtungskrieg“ und einer „gewissenlosen Bekämpfung“ anheim stellte.

Einen gewissen Schutz für die ‚arme Kreatur‘ Tier schuf offenbar – Hubertus sei Dank! – das „bis heute in der Jägerwelt als vorbildlich geltende“ und auch für Hubertus Hiller zwar nicht weit genug gehende, aber wenigstens in einigen Aspekten in die richtige Richtung weisende Reichsjagdgesetz von 1934, mit dem erstmals dem „Raubwild“ eine Daseinsberechtigung gewährt, das Prinzip der „Weidgerechtigkeit“ verpflichtend gemacht und die Jägerschaft u.a. durch eine Ehrengerichtsbarkeit kontrolliert wurde sowie gewisse besonders tierquälerische Tötungsweisen des Raubwildes verboten wurden. „Wie bereits [...] angedeutet wurde und die in den Jagdzeitschriften zahlreich abgedruckten Beiträge zum Thema ‚Schießer und Aasjägerei‘ deutlich machen, hat es trotz zahlloser Appelle und Disziplinierungsversuche sowie der 1934 erfolgten rechtlichen Verpflichtung, die Jagd ‚nach den Grundsätzen der deutschen Waidgerechtigkeit‘ auszuüben, immer eine unbestimmte Zahl Jäger gegeben, die diesen ‚Ehrentitel‘ nicht verdienten, weil sie ‚völlig unfähig (sind), sich auf einen höheren sittlichen Standpunkt hinsichtlich der Jagdausübung zu stellen‘.“ (S. 103; ähnlich zum Reichsjagdgesetz auch S. 148) Abgesehen davon, dass dieses Zitat ein gutes Beispiel dafür ist, wie Hubertus Hiller seine eigene Einschätzung unkritisch mit Zitaten aus seinen Quellen „belegt“ – die Zitate im Zitat stammen aus dem Reichsjagdgesetz von 1934 und von dem Jagdschriftsteller Oberländer aus dem Jahr 1899 - habe ich große (wenn man so will, moralische) Probleme damit, ein Nazigesetz auch nur im entferntesten mit dem Begriff der ‚Sittlichkeit‘ in Verbindung zu bringen.

Solange eine Tiergeschichte mit ethisch-moralischen Argumenten dem ‚Tier- und Naturschützer‘ Göring und seinen Konsorten für ihre jagd- und tierrechtlichen Maßnahmen zu Dank verpflichtet ist, muss es als gescheitert angesehen werden, das Mensch-Tier-Verhältnis in der modernen Gesellschaft befriedigend untersucht zu haben. Um mit Niklas Luhmann zu enden: „Sowohl logisch wie auch empirisch muß man demnach damit rechnen, daß die Moral paradox ist oder, wenn als zeitliches Phänomen gesehen, paradox wirkt. Die Moral als Einheit der Differenz von gut und schlecht wirkt sowohl gut als auch schlecht. Das Gute kann daher schlecht, das Schlechte kann gut sein. Der Beobachter der Moral findet sich somit in seiner Beobachtung blockiert. Er kann jedenfalls kein moralisches Urteil über die Moral fällen.“ 1

Anmerkung:
1 Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Darmstadt 1986, S. 261f.

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