R. Kagan: Amerika und Europa in der neuen Weltordnung

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Titel
Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung


Autor(en)
Kagan, Robert
Erschienen
Berlin 2003: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Klaus Patel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit den transatlantischen Beziehungen hat sich in den letzten Jahrzehnten in erster Linie ein kleiner Expertenkreis beschäftigt. Man traf sich auf Tagungen, saß zusammen in Think Tanks, Beiräten oder Ausschüssen, freute sich über Einladungen auf die jeweils andere Seite des Großen Teiches und sang zumeist gemeinsam das Hohelied auf das gute wechselseitige Verhältnis. Wenn es einmal zu Dissonanzen kam, war die alte Freundschaft spätestens bei den anschließenden Cocktails wieder hergestellt. Robert Kagans „Macht und Ohnmacht“ holt das transatlantische Verhältnis nun aus seinem Nischendasein hervor, und – schlimmer noch – er stellt den konventionellen Konsens von Harmonie, von Interessens- und Wertekongruenz radikal in Frage: Seiner Meinung nach gibt es keine gemeinsame strategische Kultur mehr, die Europa und die USA verbindet. Mit seinem stilistisch brillanten, kurzen Essay erhebt er den Anspruch, diesen „continental drift“ zu erklären.

Kagans These lässt sich knapp zusammenfassen: Europa habe sich zunehmend zu einem „posthistorischen Paradies“ von Frieden und Wohlstand entwickelt, das auf trans-, inter- und supranationale Kooperation setze. Macht werde hier gezähmt und eingehegt, insgesamt habe man sich der Verwirklichung von Kants „Ewigem Frieden“ verschrieben. Die USA dagegen sähen sich in einer anarchischen, Hobbes’schen Welt, in welcher der „bellum omnium contra omnes“ mehr als nur Stoff für Geschichtsbücher sei. Amerika gehe davon aus, dass allein militärische Macht für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand sorge. In einem pointierten Paradoxon bezieht Kagan anschließend das Weltbild und den Politikstil von Europa und Amerika aufeinander: Europas Eintritt in ein posthistorisches Paradies sei nur möglich gewesen, weil die USA nicht denselben Schritt gegangen seien. Sie besetzten vielmehr die „Schutzmauern“ der europäischen Ausnahmewelt, „können das Tor jedoch nicht selbst durchschreiten“ (S. 88). Denn ohne ihren militärischen Schutz, ohne Hobbes in Amerika, gebe es keinen Kant für Europa.

Wie begründet Kagan seine These? Für ihn gibt es eine zentrale Größe, aus der sich die Auseinanderentwicklung erklärt: das jeweilige Verhältnis zur Macht. „Naturgemäß“ (S. 34) sähen mächtige Staaten die Welt mit anderen Augen als Schwächere – militärische Stärke führe dazu, dass sich bei einem Staat die Neigung verstärke, Gewaltmittel einzusetzen. Dagegen seien schwache Staaten auf Verhandlungen, Verständigung und friedliche Lösungen angewiesen. Zumindest im Fall Europas käme ferner die Neigung hinzu, diese Verhaltensformen als moralisch überlegene Strategien zu preisen. Demnach kann man von der Höhe des Wehretats ziemlich direkt auf die Politik eines Staates schließen – lediglich die historischen Erfahrungen, die eine Gesellschaft gemacht hat, lässt Kagan noch als weiteren Faktor gelten. Diese Argumentation ist elegant, da man sich auch noch nach dem dritten Cocktail an sie erinnert – im Nahkampf transatlantischer Beziehungen kein ganz unwichtiges Kriterium. Sie ist aber auch deterministisch, sie simplifiziert und tendiert zur Monokausalität, zumal der Machtbegriff nicht näher definiert wird. Welchen Einfluss hat etwa die politische Kultur, haben ökonomische Interessen oder personelle Konstellationen? Für Kagan sind diese Größen entweder wenig relevant oder sie leiten sich von der Machtfrage ab. Sein materialistisches Geschichtsbild erinnert in seinen Prämissen an die orthodox marxistische Historiographie. Scheinen hier etwa die linken Ursprünge des amerikanischen Neokonservatismus durch, zu dessen führenden Köpfen Kagan heute gehört?

Wenngleich die Historie nach Kagan einer festen Regel folgt, gibt es freilich auch eine Ausnahme: Die Geschichte der Vereinigten Staaten selbst. Kagan muss nämlich erklären, wieso die USA, die im frühen 19. Jahrhundert im machtpolitischen Vergleich zu den europäischen Staaten schwach waren und interpretationsgerecht auch brav der Kant’schen Logik folgten, sich zur Supermacht aufschwingen konnten. Die Antwort auf diese Frage bleibt Kagan uns nicht schuldig: Amerika hatte nämlich eine Mission. Schon die Gründerväter der Republik hätten fest daran geglaubt, „die USA müssten einfach eine Großmacht werden und vielleicht sogar die größte Macht, weil die Prinzipien und Ideale, auf die sie sich gründeten, unzweifelhaft überlegen waren“ (S. 103). Sicher ist das nicht wirklich falsch. Ganz richtig ist es aber auch nicht. Denn in einer allzu einfachen Teleologie lenkt Kagan dieses Credo des amerikanischen Nationalismus durch das Flussbett zweier Jahrhunderte – Seitenarme gibt es nicht; einflussreiche Gegentendenzen, wie der Isolationismus, werden als „Mythos“ (S. 102) eskamotiert. Statt Argumenten und Nachweisen stützen Floskeln wie „es ist eine objektive Tatsache“, „unleugbar“ oder „in Wahrheit“ die These – bekanntlich die beste Immunisierung gegen Kritik. Dass die USA den multilateralen Internationalismus im 20. Jahrhundert immer wieder vorantrieben – erinnert sei nur an Wilsons Völkerbund-Initiative, an die Atlantik-Charta und davon ausgehend die UN, an Bretton Woods oder den GATT – all dies ist demgegenüber nachrangig. Insofern ist neben Kagans machtzentrierter Argumentation auch sein Geschichtsverständnis hochproblematisch.

Das zeigt sich auch an seinem Europabild. Denn seine cocktailgerechte Version amerikanischer Geschichte hat eine passgenaue Entsprechung für die europäische Seite. Kagan unterschlägt die Heterogenität des Kontinents und die Defizite seiner gemeinsamen politischen Verfasstheit. Dass statt Machtvergessenheit und einer diffusen Friedenssehnsucht nicht zuletzt handfeste, aber divergierende nationale Interessen das Fehlen einer wirkungsvollen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erklären könnten, spielt für ihn keine große Rolle. Von „Europas neue(m) Sendungsbewusstsein“ (S. 72), das auf der Hälfte des Buches überraschenderweise „der vielleicht wichtigste Grund“ für die transatlantische Entzweiung wird, dürften die meisten Europäer bisher wenig gehört haben. Empirisch überzeugender ist Kagan lediglich in den Passagen, in denen er ohne geschichtsphilosophische Langstreckenthesen die transatlantischen Debatten der 1990er Jahre schildert – etwa den Streit über die richtige Strategie im Kosovo-Krieg. Hier wird offensichtlich, wie sehr seine Interpretation enttäuschte Erwartungen der USA bezüglich eines größeren europäischen Wehrbeitrags nach dem Ende des Kalten Krieges widerspiegelt. In diesen Passagen wird besonders deutlich, was für das Buch als Ganzes gilt: Kagan hat weniger eine Analyse der amerikanisch-europäischen Beziehungen geschrieben, als dass er Einsichten gibt in das Europabild der amerikanischen Neokonservativen.

Noch wichtiger sind seine Vorstellungen von Amerika und dessen Rolle in der Welt, die sich in das politische Projekt der Neokonservativen eingliedern. Für Kagan sollen die USA möglichst mit den Europäern und anderen Partnern, notfalls aber auch alleine und ohne multilaterale oder völkerrechtliche Absicherung die eigenen Interessen vertreten. Sein Essay enthält viel retrospektives „wishful thinking“, das die amerikanische Geschichte im Sinne der eigenen Vorstellungen verkürzt und neu erzählt. Manches könnte aber zur „self-fulfilling prophecy“ werden, wenn Kagan und andere auch künftig Einfluss auf den außenpolitischen Kurs der Vereinigten Staaten haben sollten. Trotz seiner grandiosen Simplifizierungen wird man Kagans Buch deswegen nicht ignorieren können.

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