G. Haller: Die Grenzen der Solidarität

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Titel
Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion


Autor(en)
Haller, Gret
Erschienen
Berlin 2002: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nicht erst der Angriffskrieg gegen den Irak, der - glaubt man den Meinungsumfragen - von über siebzig Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung zumindest in den ersten zwei Wochen unterstützt wurde, lässt für Europäerinnen und Europäer die Frage aufkommen, was von der transatlantischen Wertegemeinschaft nach dem Ende des Kalten Krieges geblieben ist. Die schweizerische Parlamentarierin Gret Haller wird von dieser Frage bereits seit längerem umgetrieben, genauer seit 1996, als sie als Ombudsfrau für Menschenrechte nach Sarajevo ging und dort mit den unterschiedlichen völkerrechtlichen Vorstellungen westeuropäischer und US-amerikanischer Stellen tagtäglich konfrontiert war.

Entsandt von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sollte sie im Rahmen des Dayton-Abkommens für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention im neu geschaffenen Staat „Bosnien und Herzegowina“ Sorge tragen. In ihrer Rolle als persönliche Ansprechpartnerin für Menschenrechtsverletzungen war sie des häufigeren mit Beschwerden von Einzelpersonen konfrontiert, die ihre Klagen nicht mit dem Hinweis auf die universale Geltung der Menschenrechte, sondern durch ihre spezifische ethnische Identität als Serben, als Kroaten oder als muslimische Bosniaken begründeten. Für Gret Haller spiegelte sich darin nicht nur ein mangelndes Staatsbürgerverständnis innerhalb der Bevölkerung des neu eingerichteten Staates wider, sondern zugleich eine „Ethnisierung“ der Rechtsauffassung, die durch das Dayton-Abkommen, das den status quo der „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina seit 1992 zementiert habe, regelrecht sanktioniert worden sei.

So habe durch das Abkommen vom Dezember 1995 das „ethnische Denkmodell [...] Eingang in die verfassungsrechtliche Grundstruktur des bosnischen Gesamtstaates“ gefunden, als festgelegt wurde, dass die zentralen Staatsorgane ethnisch paritätisch zu besetzen seien (S. 121). So muss, um nur ein Beispiel zu nennen, das dreiköpfige Staatspräsidium aus einem bosnischen Serben, einem bosnischen Kroaten und einem Bosniaken zusammengesetzt sein, was auch bedeutet, dass jemand, der nicht zu diesen drei ethnischen Gruppen gehört - und das sind laut Haller immerhin acht Prozent der bosnischen Staatsbürger - in dieses Amt nicht hinein gewählt werden kann. Damit wurde nach Haller die Chance zur Entwicklung einer staatsbürgerlichen politischen Kultur in Bosnien und Herzegowina bereits in den Anfängen verspielt, da die politischen Grundrechte weiterhin ethnisch und nicht staatsbürgerlich verankert worden seien. Für diese Entwicklung macht die frühere Ombudsfrau vor allem den maßgeblichen Einfluss der USA auf das Zustandekommen des Dayton-Abkommens verantwortlich.

Um diese These zu begründen, hat sich Gret Haller nach ihrer Rückkehr aus Sarajevo im Jahr 2000 in einem eifrigen Lektürestudium der Erforschung der kulturellen Unterschiede zwischen europäischem und amerikanischem Staatsverständnis hingegeben. Dabei holt sie weit ins Universalgeschichtliche aus und konstruiert in einer eher kreisenden als stringenten Argumentationsweise für Europa und Amerika zwei diametral entgegengesetzte Entwicklungsverläufe des politischen Denkens, die sie bis auf die „ideengeschichtliche Weggabelung“ des Westfälischen Friedens zurückverfolgt. Denn, so ihre apodiktische Formel, „in Europa siegte 1648 der Staat, jenseits des Atlantiks siegte die Religion“ (S. 189). Diese an sich nicht neue These wird von der Autorin nun gleichsam als Passepartout zur Erklärung der gesamten nachfolgenden Entwicklung des staatspolitischen Denkens in den beiden Kontinenten präsentiert.

Denn während der Staat durch die Zurückdrängung der Religion in der europäischen Ideengeschichte die Qualität eines integrativen „Dritten“ gegenüber Gesellschaft und Privatpersonen erlangt habe, sei diese Funktion in Amerika dem religiösen Bekenntnis zugekommen, allerdings, wie sie hinzufügt, nicht einem spezifisch kirchlichen Bekenntnisinhalt, sondern - ganz im Gegenteil - der zivilreligiösen Überhöhung der persönlichen Bekenntnisfreiheit. Europa habe sich „für die Freiheit zum Staat“ entschieden, „um die Freiheit von der Religion durchsetzen zu können, während sich die Vereinigten Staaten umgekehrt zur Freiheit vom Staat bekannten, um die Freiheit zur Religion durchsetzen zu können“ (S. 135). Mit anderen Worten: Die Europäer entschieden sich - nicht zuletzt im Zeichen der Französischen Revolution - für einen ‚starken‘ Staat, während die Amerikaner zur Sicherung ihrer religiösen Selbstbestimmung für einen ‚schwachen‘ Staat optierten.

Diese frühen Weichenstellungen haben nun, wie Haller meint, zu langfristigen Unterschieden in der politischen Kultur zwischen den beiden Kontinenten geführt, die sich selbst noch in der gegenwärtigen Menschenrechtspolitik bemerkbar machten. So setze die Anerkennung der Menschenrechte in der „europäischen“ Tradition den Staat als ihr institutionelles Gegenüber voraus, da diese erst in der verfassungsgebenden Selbstverpflichtung, sie anzuerkennen, zu schützen und das staatliche Handeln ihnen unterzuordnen, Rechtscharakter erlangten. Menschenrechtspolitik ist in europäischer Perspektive demnach eine zutiefst staatliche Angelegenheit, da nur der Staat Menschenrechtsverletzungen im eigentlichen Sinne begehen und diese zugleich ahnden kann (S. 204ff.).

Steht man dieser Idee, die den „Staat“ letztlich zur höchsten Konkretion des Rechts erklärt, hingegen skeptisch gegenüber und gibt man sich mit einem ‚schwachen‘ Staat im Sinne eines rein funktionalen Zweckverbandes zufrieden, dann müssen die Menschenrechte gewissermaßen außerhalb der staatlichen Sphäre, im religiösen Bekenntnis oder in einer ethnischen Besonderheit verankert werden, wie dies beispielsweise am gegenwärtigen Minoritätenschutzdiskurs in den USA abzulesen ist. Eine solche ethnische Qualifizierung des Rechts, so Gret Haller, ist nun genau im Dayton-Abkommen geschehen, das im mangelnden Zutrauen auf den neuen Staat die Sicherung der Menschenrechte durch die Festschreibung ethnischer Paritäten zu erreichen versuchte. Darin sieht die schweizerische Parlamentarierin nicht nur eine verspielte Chance, sondern zugleich auch die Gefahr einer voranschreitenden ‚Amerikanisierung‘ des mittleren und östlichen Europa.

Insofern liest sich das Buch von Gret Haller wie ein Warnruf aus dem ‚alten‘ Europa, auf das ‚neue‘ achtzugeben, das, wie die Irak-Krise gezeigt hat, bereits atlantischer denkt, als es manchem Staatsmann im ‚alten‘ lieb sein dürfte. So wichtig der Hinweis auf die transatlantischen Unterschiede, die sich mittlerweile selbst innerhalb der Europäischen Union abzuzeichnen beginnen, auch sein mag, so leidet die Darstellung andererseits doch zuweilen erheblich unter der kruden Dichotomie, die das Buch durchzieht und die Vereinigten Staaten und Europa immer wieder ideengeschichtlich als Gegensätze erscheinen lässt.

Der Autorin gehen dadurch viele Differenzierungen und Nuancen verloren, die ihre Argumentation insgesamt nur gestärkt hätten. Auch fragt der Leser sich, warum sich Haller häufig genug polemisch gegen die USA und deren politisches Selbstverständnis wendet, jedoch kein kritisches Wort hinsichtlich der totalitären Gefahren des „europäischen“ Staatsverständnisses findet, das sich im letzten Jahrhundert ja keineswegs immerzu als Garant der Menschenrechte erwiesen hat. Hegel, dessen Staatslehre bei Haller unbemerkt immer wieder durchschimmert, taucht in ihrer ideengeschichtlichen tour d’horizon erst gar nicht auf. Vor allem bleibt aber fraglich, ob sich das ideenpolitische Geflecht des neuzeitlichen Verfassungsdenkens tatsächlich so fein nach den Kontinenten trennen lässt, wie Haller es versucht. Vermutlich haben wir es bei der von ihr präsentierten Dichotomie doch eher mit der klassischen Unterscheidung zwischen anglo-amerikanischen und kontinentaleuropäischen, vor allem französisch inspirierten Demokratiemodellen zu tun.

Dennoch hat die ehemalige Ombudsfrau für Menschenrechte ein wichtiges Buch geschrieben, das an die zentrale Einsicht erinnert, die Ernst Troeltsch und Max Weber schon um 1900 formuliert haben, dass nämlich die Demokratie in Nordamerika aus der Religion entstanden ist, in Europa aber gegen sie. Dies bleibt ein „transatlantischer Unterschied“, der die Epoche der Säkularisierung überleben wird.

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