Titel
Le Don de Relation. Georg Simmel – Marcel Mauss


Autor(en)
Papilloud, Christian
Erschienen
Paris 2002: L'Harmattan
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Latzel, Bielefeld

Wie kann sich die Soziologie erkenntnistheoretisch als Wissenschaft legitimieren? In der Phase der beginnenden akademischen Institutionalisierung des Fachs Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ist diese Frage eingehend gestellt und diskutiert worden. Zwei Hauptprotagonisten dieser Diskussion waren Emile Durkheim und Georg Simmel. Durkheim setzte freilich in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen das zu bestimmende Soziale, die Gesellschaft, als Realität sui generis bereits voraus, in binärer Gegenüberstellung zum Individuellen. Simmel hingegen hatte seine Erkenntnistheorie der Soziologie vorgelagert. Er verabschiedete sich vom Begriff „Gesellschaft“ und sprach statt dessen von „Vergesellschaftung“ als Summe der „Wechselwirkungen“ zwischen Individuen und Gruppen.

Die Originalität der Untersuchung Christian Papillouds liegt zum einen darin, dass sie die lange verschüttete erkenntnistheoretische Bedeutung dieses Begriffs, der gewöhnlich rein methodologisch rezipiert wird, wieder freilegt, um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Beziehungen sowie nach den Möglichkeiten ihrer wissenschaftlichen Betrachtung neu zu stellen. Ihre Originalität liegt zum anderen darin, dass Papilloud seine Argumentation in einem systematischen Vergleich der Konzeption der Wechselwirkung mit dem Prinzip der „Gabe“ entfaltet, also mit dem Zentralbegriff des französischen Ethnologen Marcel Mauss, des Mitarbeiters und Neffen Durkheims. Das ist zweifellos ein anspruchsvolles Programm, aber es wird auf höchst anregende, kenntnisreich und präzis argumentierende Weise eingelöst. Die Überlegungen Papillouds sind zugleich geeignet, die Diskussionen über die theoretische Grundlegung der Geschichts- und Kulturwissenschaften zu inspirieren.

Um die Nähe beider Konzeptionen zu zeigen, spiegelt Papilloud zunächst die Verwendung von „Wechselwirkung“ und „Gabe“ bei Simmel und Mauss ineinander. Auch Simmel entwickelt einen Begriff der Gabe, um seine Konzeption der Wechselwirkung zu reflektieren, auch Mauss spricht davon, dass sein Begriff der Gabe auf einem theoretischen Konzept der Wechselwirkung ruht, das er jedoch nicht weiter ausgearbeitet hat. Zwar geht Mauss von der Analyse entwickelter Formen der Gabe (in der Zirkulation von Geben, Empfangen, Wiedergeben) aufgrund von ethnologischen Daten aus, um anschließend zur Frage nach den Beziehungen zu gelangen, während Simmel zunächst die Sphäre rudimentärer Erfahrungen diskutiert, um zu erklären, wie daraus Beziehungen und schließlich soziale Formen entstehen können. Ihre Untersuchungen konvergieren jedoch in der Suche nach den Elementen, die jeder Beziehung notwendig zugrunde liegen, die es möglich machen, dass sich im Alltagsleben soziale Beziehungen realisieren und formen. Sie suchen die soziale Beziehung gleichsam in statu nascendi auf, um die innere Logik ihrer Formierung zu verstehen.

Das Soziale wird bei beiden zunächst provisorisch im Sinne einer Kraft verstanden, die die Aktionen und Reaktionen, die Interaktionen hervorruft und Individuen und Gruppen verwebt. Sie existiert zwischen diesen, aber dieses „Zwischen“ ist nicht einfach der Zwischenraum zwischen ihnen. Wechselwirkung und das Prinzip der Gabe gelten als ambivalente Kraft zwischen den Menschen, die sich zwischen den Polen Attraktion und Repulsion (Simmel) bzw. gut und schlecht (Mauss) bewegt. Zugleich ist diese Kraft als graduelle zu verstehen; ein einmaliger Kontakt macht noch keine soziale Form aus, die ambivalente Kraft variiert quantitativ innerhalb der unterschiedlichen sozialkulturellen Beziehungsformen, die sie immer nur möglich macht, aber nicht erzwingt (Kapitel 1 und 2).

Wie aber ist diese Kraft näher zu verstehen, wenn sie weder ontologisch noch metaphysisch vorausgesetzt wird? So gefragt, kann die Antwort nicht in irgendwelchen Bestimmungen liegen, was diese Kraft „ist“, sondern nur im Erproben der relationistischen Perspektive auf das „Zwischen“, eine Perspektive, in der sich Simmel und Mauss wiederum treffen. Was sieht man in dieser Perspektive? Papilloud arbeitet drei primäre Elemente bei Simmel und Mauss heraus, die notwendig sind, damit sich menschliche Beziehungen im Alltag konkretisieren, manifestieren, formen können: Opfer (Kapitel 3), Reziprozität (Kapitel 4) und Dauer (Kapitel 5).

„Opfer“ meint schlicht eine Substitutionslogik, das Einsetzen eines Werts, um einen Wert zu erhalten (nicht im Sinne des ökonomischen Tauschs, der nur eine Unterform davon ist); der Opfernde gibt einen Teil von sich selbst, um eine Beziehung zu etwas zu gewinnen. Das begehrte Objekt (Menschen, Dinge, Mitteilungen usw.) hat Wert, weil ein Opfer dafür gebracht wird, um die Distanz zu ihm zu überwinden, und es wird ein Opfer dafür gebracht, weil es Wert hat. In dieser wechselseitigen Bedingung verweisen sie aufeinander. An der Wiege jeder Beziehung steht ein Wert, eine Wert-Bindung.

Die Beziehung ist damit möglich, aber damit existiert sie noch nicht konkret, im Alltag. Dafür braucht es weitere Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Um mehr als Kontakt zu sein, bedarf es der Wechselwirkung des Opferprozesses, der funktionellen Gegenseitigkeit, der Zirkulation, des Kommens und Gehens im Kreislauf von Menschen, Dingen und Mitteilungen, also Reziprozität und Dauer. Reziprozität 1 umfasst als relationales Prinzip die Beziehungen in statu nascendi, sie unterfängt das Geben, Empfangen, Wiedergeben im Sinne eines wechselseitigen Engagements der Menschen untereinander, um die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Der Grad dieses Engagements kann sich in unterschiedlicher Intensität verwirklichen. Soll die Beziehung nicht im status nascendi stecken bleiben, braucht sie schließlich Dauer in der Wechselseitigkeit.

Diese drei Bedingungen sind nicht voneinander zu trennen. Sind sie erfüllt, dann bieten sie den Menschen eine Brücke, die ihnen den Zugang zur konkreten Beziehungswelt öffnet. Damit gelangt Papilloud auf die zweite Ebene seiner Untersuchung. Es geht darin um die Konkretisierung der Welt der Möglichkeit/Unmöglichkeit von Beziehungen in ihren Formen und ihrer Bedeutung im Alltagsleben (Kapitel 6-8).

In der Nähe und Distanz zu den anderen und den Dingen differenzieren und personalisieren sich die Individuen als „relationelle Pole“ in den unterschiedlichsten sozialkulturellen Formen von Beziehungen. Die Gruppen differenzieren sich aus in unterschiedlichen Graden von Konstanz, Kohärenz und Hierarchien, in Verhältnissen zu anderen Gruppen, die zwischen Konkurrenz, Opposition, Verbindung, Imitation variieren. Diese Prozesse werden als Prozesse der Symbolisierung (Mauss) und der sozialen Differenzierung (Simmel) gefasst. Im Prozess der Symbolisierung gewinnen Individuen und Gruppen die Möglichkeit, sich in der Welt des Alltags zu orientieren und ihren Charakter zu bestimmen. Im Prozess der sozialen Differenzierung bringen die sozialen Beziehungen die Formen, Teilungen und Gliederungen des Alltagslebens hervor. Auch hier wird betont, dass die genannten Prozesse immer ein Element der Unbestimmtheit besitzen, sie bleiben immer unabgeschlossen, die sozialen Beziehungen entschlüpfen immer wieder den sozialen Formen. Ihre Möglichkeiten werden immer nur in je unterschiedlichen Graden verwirklicht, entscheidend ist die relationelle Dynamik, die sie entwickeln.

Angesichts dieser prinzipiellen Fragilität von Beziehungen spricht Papilloud am Schluss von der „vulnérabilité de la relation humaine“ (S. 149), er sieht darin eine gemeinsame Fragestellung von Simmel und Mauss, unter der sie auf die sozialen Beziehungen der modernen Gesellschaften blickten. Die prinzipielle Unsicherheit von Beziehungen, so deren Befund, habe hier eine besondere Dynamik gewonnen, in der die Beziehungsformen zunehmend durch den ökonomischen Tausch dominiert und die Möglichkeiten, nicht-utilitaristische Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten, geschwächt werden.

Der Vergleich von sozialtheoretischen Konzeptionen ist bekanntlich ein schwieriges Unterfangen, weil er neben eingehenden inhaltlichen Kenntnissen insbesondere ein klares tertium comparationis erfordert. Mir sind nur wenige Untersuchungen bekannt, in denen die vergleichende Perspektive die Argumentation so konsequent strukturiert wie hier. Indem Papilloud die Werke beider Autoren unter konsequent erkenntnistheoretischer Perspektive liest, gelingt es ihm, den Vergleich äußerst differenziert anzulegen, ohne dabei jedoch den Fluchtpunkt seiner Argumentation aus den Augen zu verlieren.

Warum aber soll sich die Soziologie damit beschäftigen? In der 1996 in der ZEIT von Vertretern des Fachs geführten Debatte „Wozu heute noch Soziologie?“ attestierte Peter Wagner der Soziologie einen „extrem verarmten Begriff von menschlicher Sozialität“. Die „Unbestimmtheiten“ der sozialen Welt würden entweder hinter „Konzepten wie Klasse, Schicht, Familie, Nation oder auch funktionale Integration und Differenzierung“ oder in „Modebegriffen wie Individualisierung und Globalisierung“ verschwinden. Das „soziologische Projekt“ müsse sich darum „grundlegend erneuern“.2 Papilloud hat dazu einen der selten gewordenen 3, nach den Wurzeln fragenden Beiträge geleistet. Seine Perspektive zielt nicht auf ein geschlossenes theoretisches System. Sie fordert die Soziologie vielmehr heraus, ihren Gegenstand, die sozialen Beziehungen, nicht apriorisch vorauszusetzen, sondern die Frage nach deren Möglichkeit ständig präsent zu halten.

Die Untersuchung bietet zugleich Anknüpfungspunkte für die theoretische Selbstverständigung der Alltags-, Kultur- und Sozialgeschichte, deren Diskussionen ja immer wieder (auch) auf Konzeptionen der Soziologie zurückgreifen. Die Debatte etwa über den Primat von „Handeln“ oder „Struktur“, die sich mittlerweile mit der Formel beruhigt hat, beide Seiten seien miteinander zu vermitteln, gerät in ein neues Licht, wenn die darin verwendeten Begriffe relationistisch in den Blick genommen werden. Welche analytische Kraft für die Untersuchung konkreter historischer Praxisformen etwa behält der meist als unabdingbar vorausgesetzte Begriff der Struktur – der auch im neueren Verständnis als seinerseits „strukturiert“ der Tendenz zur Verdinglichung häufig nicht entgeht 4 –, wenn man ihn theoretisch auf die Weise befragt, wie es Papilloud mit der „Beziehung“ macht?

Papillouds Frage nach dem „Zwischen“ der „relationellen Pole“, also der Menschen, legt schließlich die Gegenfrage nahe, ob diese denn in ihren Beziehungen, die sie eingehen (können), auch aufgehen. Insbesondere die Relation zwischen Begehren und Wert im Prozess des Opfers bzw. der Gabenzirkulation und die näher zu befragende Kategorie der „vulnérabilité“, der Verwundbarkeit, führen zum Problem der Bedeutung des menschlichen Körpers sowohl für die Entstehung als auch für die prinzipielle Fragilität von sozialen Beziehungen. Sind die Körper in ihrer Materialität, in ihrem Begehren, in ihrer Verwundbarkeit und Sterblichkeit, nicht immer auch etwas diesseits jeder Beziehung? Soziale Beziehungen werden nicht nur verkörpert, sie werden auch von der körperlichen Existenz sowohl ermöglicht wie erfordert. Und liegt die grundsätzliche Verwundbarkeit menschlicher Beziehungen nicht wesentlich in der körperlichen Verwundbarkeit begründet? Hier bieten sich insbesondere für die boomende Geschichte des Körpers 5 mögliche Anschlüsse etwa an die phänomenologische Philosophie, für die das Problem des „Zwischen“ ebenfalls zentral ist. Darin wird die Frage nach der Bedeutung des Körpers für menschliche Sozialität ihrerseits relational und nicht substantialistisch gestellt, ohne aber den Körper vollständig in sozialen Konstruktionen aufgehen zu lassen. 6 Papillouds Plädoyer für eine relationistische Betrachtungsweise gewinnt seinen Wert auch dadurch, dass es solche Übergänge zu benachbarten Diskussionsfeldern öffnet.

Anmerkungen:
1 Zur Frage der Reziprozität hat Papilloud eine spezielle Untersuchung angekündigt: Réciprocité. Diagnostic et destins d`un possible dans l`oeuvre de Georg Simmel, Paris (erscheint 2003).
2 Wagner, Peter, Der Soziologe als Übersetzer, in: Fritz-Vannahme, Joachim (Hg.), Wozu heute noch Soziologie? Opladen 1996, S. 42-49, hier S. 46f.
3 Etwa de Certeau, Michel, L’Invention du Quotidien, Bd.1: Arts de Faire; Bd. 2 (mit Luce Giard und Pierre Mayol): Habiter, Cuisiner, Paris 1980, oder Haesler, Aldo, Grundelemente einer tauschtheoretischen Soziologie, in: Simmel Studies 11 (2000), H. 1, S. 5-30.
4 Dazu Lüdtke, Alf, Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen!, in: WerkstattGeschichte 17 (1997), S. 83-91.
5 Lorenz, Maren, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000.
6 Als Plädoyer für die verstärkte Aufnahme dieser phänomenologischen Tradition in die Soziologie jetzt Gugutzer, Robert, Leib, Körper, Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität, Wiesbaden 2002.

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