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Titel
Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000 (HoF-Arbeitsbericht)


Autor(en)
Pasternack, Peer
Anzahl Seiten
131 S.
Preis
€ 5,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bald wird es die DDR nicht mehr gegeben haben, jedenfalls nicht in den Lehrprogrammen der deutschen Hochschulen. Ein Jahrzehnt nach dem Ende besagten Staatsgebildes feiert es zwar auf den Leinwänden der Multiplex, der Unimax, oder wie es einmal kulturvoll hieß, der "Lichtspieltheater" fröhliche Auferstehung oder besser heitere Abschiede, in der akademischen Lehre jedoch schwindet es dahin. Dies hat eine detaillierte und aufsehenerregende Studie des Instituts für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität ergeben.

Methodisch wurden in dieser Studie drei Wege beschritten. Erstens wurde in einer Tiefenprüfung das Lehrangebot von zwölf exemplarisch ausgewählten Universitäten von 1990 an ausgewertet: den drei Berliner Universitäten, drei ostdeutschen: Greifswald, Halle-Wittenberg und Leipzig, sowie sechs westdeutschen: Freiburg, Hamburg, Kiel, Mannheim, Wuppertal und Würzburg. Zweitens wurde eine Totalerhebung aus den Vorlesungsverzeichnissen sämtlicher 88 deutscher Hochschulen für je ein Semester aus dem Jahr 2000 und 2001 gemacht. Drittens wurden mit einem Kurzfragebogen weitere relevante Lehrveranstaltungen erfasst. Die Tiefenprüfung zielte auf eine Rekonstruktion der Themenkarriere der DDR-Geschichte in den akademischen Lehrprogrammen, während die Totalerhebung eine Erfassung der aktuellen Situation anstrebte und nach der Rolle der DDR in den Lehrprogrammen fragte. Die Ergebnisse sind ernüchternd (vgl. den Überblick S.7-8).

1. Dabei klingt zunächst gut, dass an 88 deutschen Universitäten im Laufe von 23 Semestern zirka 3.700 Ostdeutschland-bezogene Lehrveranstaltungen stattfanden. Das ergibt 1,8 Vorlesungen oder Seminare pro Hochschule und Semester. Allerdings nimmt ein Jahrzehnt nach dem Ende der DDR das Interesse an ihr und den ostdeutschen Entwicklungen in der Lehre kontinuierlich ab. Nach einer fast linearen Aufwärtsbewegung vom Anfang bis zur Mitte der 90er Jahre folgte eine ebenso lineare Abwärtsbewegung in der 2. Hälfte der 90er Jahre. Im Jahr 2001 war wieder der vergleichsweise niedrige Stand von 1990 erreicht.

2. Bereits 2000/2001 hat eine deutliche Mehrheit von 62% der deutschen Universitäten keine explizit Ostdeutschland-bezogene Lehrveranstaltung mehr im Programm. In vier Bundesländern ließen sich 2000/2001 landesweit keine Lehrveranstaltungen zum Thema ermitteln: in Brandenburg, Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein. Dagegen fanden 50% aller Lehrveranstaltungen in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin statt (bei 21% Anteil an der gesamtdeutschen Bevölkerung und 19% Anteil an den Studenten der Universitäten).

3. Thematisch war das Verhältnis zwischen historischen und gegenwartsbezogenen Veranstaltungen ausgeglichen: In zwei Dritteln aller Lehrveranstaltungen war die DDR historischer Gegenstand. In einem Drittel ging es um Analysen des Transformationsgeschehens. Vorrang nach den einzelnen Phasen der Geschichte hatten die Jahre seit 1989, gefolgt von den Jahren 1945-1949. Die wenigste Beachtung fanden die 70er und 80er Jahre.

4. Nach den Inhalten rangierten Lehrveranstaltungen zum ostdeutschen Kulturleben und der DDR-Kulturpolitik (24%) und Themen des politischen Systems (22%) an der Spitze. Ihnen folgten Alltags- und sozialgeschichtliche Themen (15%), Bildungsgeschichte und -politik (10%) sowie Wissenschaftsgeschichte und -politik (6%). Ausgesprochen gering waren Themen zu Opposition und Widerstand, Religion und Kirche, Ideologie und Antifaschismus, Sozial- und Gesundheitspolitik, Sport und Freizeit, Landleben und Ökologie vertreten.

5. Die vergleichende Betrachtung der DDR bzw. Ostdeutschlands mit anderen Ländern bzw. Systemen kam deutlich häufiger in der Lehre als in der Forschung vor. 43% der Lehrveranstaltungen ordneten die DDR in die gesamtdeutsche Nachkriegsentwicklung ein. 12,5% hoben auf den Vergleich DDR - Bundesrepublik bzw. ostdeutsche - westdeutsche Bundesländer ab. Nur 1,7% widmeten sich dem Vergleich zwischen DDR und Nationalsozialismus, noch weniger dem zwischen der DDR und den anderen sozialistischen Staaten (0,5%).

6. Aufgeschlüsselt nach der Fächerpräsenz ergaben sich folgende Daten: 30% aller Vorlesungen und Seminare stellten Politikwissenschaft und Soziologie. Die Geschichtswissenschaft erreichte nur einen Anteil von 25%, Germanistik und Erziehungswissenschaften kamen noch auf 19 bzw. 10%. Wirtschafts- und Rechtswissenschaft und Philosophie waren nur schwach vertreten und 2000/01 bereits ohne Angebot zum Thema.

Die Studie dokumentiert ihre Ergebnisse überzeugend und übersichtlich. Akribische Berechnungen, aussagefähige Grafiken und umfangreiche Zusammenstellungen ermöglichen dem Leser den Nachvollzug der Erhebungen. Was bleibt ist die Frage nach den Ursachen des massiven Rückgangs der Beschäftigung mit der Geschichte der DDR in der akademischen Lehre. Darauf gibt die Studie keine Antwort. Vielleicht ist sie in Nachfolgestudien zu erwarten? (Vgl. Jens Hüttmann: Tagungsbericht. Die Zukunft eines untergegangenen Staates - Wittenberg 03/03. In: H-Soz-u-Kult vom 22.03.2003 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=194&pn=tagungsberichtechte>) Hätte die Studie auch nach den Akteuren gefragt, eben jenen die DDR-Geschichte zu vermitteln in der Lage sind, und dies in den Zusammenhang des Umbaus der ostdeutschen Hochschullandschaft seit 1990 gestellt, wären wohl Antworten zu erwarten gewesen. Mit scheint, dass das Auslaufen bzw. die Reduzierung jener Sonderprogramme wie WIP/HEP, HSP 3 und HWP 3 ursächlich mit dem erheblichen Schwund in der Lehre zusammenhängt. Wird dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten, haben wir bald von der "gelehrten DDR" geleerte Universitäten!

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