V. Drecktrah: Gerichtsbarkeit Bremen und Verden

Titel
Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879.


Autor(en)
Drecktrah, Volker F.
Reihe
Rechtshistorische Reihe 259
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
€ 70,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

In seiner im Wintersemester 2001/2002 in Hamburg angenommenen Dissertation widmet sich Volker Friedrich Drecktrah einem zentralen Thema der niedersächsischen Landesgeschichte. War man seit 1987 über die Verwaltungsorganisation in den Herzogtümern Bremen und Verden während der Schwedenzeit durch die Dissertation von Beate-Christine Fiedler sehr gut informiert 1, so gab es für die Zeit danach nur sehr alte, überholte Literatur. Eine Arbeit, die einen so langen Zeitraum und eine so große, rechtlich sehr heterogene Region umfasst, ist daher sehr willkommen. Eine Arbeit, die das so qualitätsvoll tut, ist um so willkommener.

Drecktrah strukturiert die Materialfülle sehr übersichtlich. Seiner – manchmal zu stark – gegliederten Untersuchung stellt er eine Inhaltsübersicht voran, der ein ausführliches Inhaltsverzeichnis folgt. In seiner Einleitung erklärt er Gegenstand und historischen Hintergrund der Arbeit und trifft dann Aussagen zu Quellenlage und Methode. Drecktrah erklärt mit Hinweis auf die komplizierte Gemengelage der verschiedensten, teils widerstreitenden und ungewöhnlichen Gewohnheitsrechte einleuchtend, warum es bisher keine Gesamtschau des Verwaltungs- und Justizwesens für den untersuchten Raum in dieser Periode gab. Von den wechselnden Herrschern konnten diese Gerichtsbarkeiten seit dem 16. Jahrhundert nur langsam in die Strukturen ihrer Konglomeratstaaten integriert werden. Drecktrah will vor diesem Hintergrund untersuchen, „wie sich derartige Umstellungen in der täglichen Gerichtspraxis auswirkten, oder ob sich die Justiz als eine Konstante im Wechsel der Herrschaft erwiesen hat.“ (19) Um dies herauszufinden, legt er drei zeitliche Schnitte in den von häufigen Herrschaftswechseln gekennzeichneten Untersuchungszeitraum: die Ausgangslage zum Ende der Schwedenzeit 1715, die umfassende preußische Bestandsaufnahme zum Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 sowie die Errichtung der neuen hannoverschen Gerichtsverfassung in den Jahren 1850/1852.

Bei seiner Darstellung steht er vor dem methodischen Problem, dass im frühneuzeitlichen Staat Gerichte und Verwaltung örtlich, personell und institutionell nur schwer voneinander zu scheiden sind. Erschwert wird das Anliegen Drecktrahs durch die sehr unterschiedlichen Landesteile, die er in seiner Darstellung zu behandeln hat: zum Hochstift Verden und dem säkularisierten Erzstift Bremen ohne die gleichnamige Reichsstadt gehörten seit dem 16. Jahrhundert die Länder Wursten, Kehdingen und das Alte Land mit ausgeprägt republikanischen Verfassungselementen und eigenen Gerichtsstrukturen. Zu diesem Konglomerat kam 1731 das Land Hadeln hinzu, das durch die Regierung Bremen-Verdens in Personalunion mit verwaltet wurde. Unter preußischer Herrschaft wurde diese heterogene Verwaltungseinheit seit 1866 Landdrostei Stade genannt und bestand praktisch bis zur Auflösung des Regierungsbezirks Stade im Jahre 1978. Drecktrah schließt seine Untersuchung mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze am 1. Oktober 1879. Sie stellten das Ende der Partikulargesetzgebung dar.

Nachdem Drecktrah sein Anliegen räumlich und zeitlich derart eingegrenzt hat, skizziert er grob den historischen Befund, auf den Kurhannover bei der Übernahme der Macht im Herzogtum Bremen-Verden traf. Er stellt fest, dass das kurze Zwischenspiel dänischer Besetzung in den Herzogtümern (1712-1715) keine tieferen Spuren hinterließ. Bei der Machtübernahme durch Kurhannover 1715 und im Friedensvertrag von Stockholm 1719 wurden die Untertanen ihrer alten Freiheiten und Privilegien versichert, ein Faktum, das dazu beitrug, die unübersichtliche Gemengelage von Gerichtsinstanzen und antiquierten Vorrechten für mehrere Jahrzehnte zu konservieren. Die letzte Appellationsinstanz war mit dem Westfälischen Frieden von den obersten Reichsgerichten auf das Wismarer Tribunal übergegangen. 1715 wechselte sie an das vier Jahre zuvor gegründete Oberappellationsgericht Celle. Die Untergerichte in den Herzogtümern wurden beibehalten.

So eindeutig die letztinstanzliche Rechtsprechung geregelt war, so unübersichtlich und schwer darzustellen ist die Struktur der Untergerichte. In sieben großen Kapiteln werden die verschiedenen Herrschaftsverhältnisse dargestellt. Ein erster großer Abschnitt befasst sich mit der kurhannoverschen Herrschaft zwischen 1715 und 1803 (S. 35-215). Daran schließt sich eine Darstellung der Verhältnisse im Land Hadeln zwischen 1731 und 1803 an (S. 217-231). Um die wechselnden Herrschaftsverhältnisse zwischen 1803 und 1813 geht es in einem „Übergangszeit“ genannten Kapitel. Es untersucht die französische Herrschaft zwischen 1803 und 1805 (S. 233-249), die Übernahme durch Preußen im Jahre 1806 (S. 250-268), die erneute französische Herrschaft bis 1810 (S. 268-273) sowie zwischen 1810 und 1813 (S. 273-282). Die alten Gewalten wurden zwischen 1813 und 1850/1852 im Königreich Hannover wieder hergestellt (S. 283-340), Justiz und Verwaltung aber erst zwischen 1852 und 1866 voneinander getrennt (S. 341-398). Während der preußischen Herrschaft seit 1866 wurde das Territorium in Landdrostei Stade umbenannt (S. 399-411). Durch die Reichsjustizgesetze endete der Sonderweg der Region und die territoriale Gesetzgebung (S. 413-420). Eine ausführliche Zusammenfassung streicht die Ergebnisse der Arbeit abschließend noch einmal heraus (S. 421-432). An das Quellen- und Literaturverzeichnis schließen sich Anlagen zu den einzelnen Kapiteln an, in denen bisher ungedruckte, für die Argumentation zentrale Quellen publiziert werden.

Durch die starke Strukturierung der Arbeit wird ein schneller und zuverlässiger Zugriff auf die ausgebreitete Materialfülle gewährleistet. Bei jedem Kapitel folgt auf einen allgemeinen Überblick eine Darstellung des Verwaltungs- und Gerichtsaufbaus, in der zunächst die oberen (Regierung, Landstände, Justizkanzlei, Hofgericht, Konsistorium, Landgerichte, Oberappellations- und Militärgerichtsbarkeit), dann die unteren Verwaltungs- und Justizeinrichtungen (Ämterverfassung, Patrimonialgerichtsbarkeit, einzelne Ämter und Gerichte) behandelt werden. Daran anschließend geht Drecktrah in jeweils eigenen Schwerpunkten auf das materielle Recht ein. Die Reihenfolge dieser Gliederung ließe sich sicherlich hinterfragen, hätte es doch Sinn gemacht, entweder mit der höchsten (Oberappellationsgericht) oder der niedersten Instanz (Landgerichte) zu beginnen und die anderen entsprechend ihrer Wertigkeit anzuschließen – die Argumentation wäre dadurch stellenweise schlüssiger geworden.

Ungeachtet dessen kommt Drecktrah zu überzeugenden Ergebnissen. So konstatiert er trotz des ansonsten zu beobachtenden Modernisierungsschubs anlässlich der Machtübernahme der schwedischen Krone ein weitgehendes Beibehalten der Justizstrukturen. Trotz Neueinrichtung einer Justizkanzlei blieb das verwirrende Nebeneinander teilweise konkurrierender Gerichte auf dem Land bestehen. Der Übergang der Herzogtümer von Schweden zu Kurhannover verlief dank der Einbindung der Landstände rasch und ohne Komplikationen. Die Landstände erhielten Präsentationsrechte für das Celler Oberappellationsgericht, die Strukturen der ländlichen Bezirke und Verwaltungseinheiten blieben unverändert. Drecktrah weist nach, dass Bremen-Verden innerhalb des Kurfürstentums Hannover eine Sonderstellung behielt und zeigt dies u.a. für die Kriminalgesetzgebung. Eine Ausnahme bildete auch das erst 1731 zu Kurhannover gekommene Land Hadeln, dem ein landsässiger Adel weitgehend fehlte und das in erster Instanz nur die von der Landbevölkerung selbstverwalteten Kirchspielgerichte kannte.

Laut Drecktrah schlug sich das Ende des Alten Reiches nicht in der Justizverwaltung der untersuchten Region nieder. Die akribische Bestandsaufnahme, die unter der kurzzeitigen preußischen Herrschaft im Jahre 1806 vorgenommen wurde, ermöglicht ihm vertiefte Einblicke in die Justizstruktur. Ab 1810 wurde die Region dem Königreich Westfalen angegliedert, seine Justizverwaltung wurde dessen Strukturen angepasst, Bürgerrechte nach französischem Vorbild eingeführt. Erstinstanzliche Tribunale wurden in Bremervörde, Stade und Verden eingerichtet, Friedens- und Polizeigerichte auf dem Lande. Doch diese Episode blieb zu kurz, um bleibende Spuren zu hinterlassen. Beim Übergang an das Königreich Hannover stellten die Landstände erneut ihr Beharrungsvermögen unter Beweis: das Hofgericht in Stade wurde als einziges im Königreich wieder eingerichtet und erst 1832 aufgehoben. In diesem Jahr erfolgte eine umfassende Verwaltungs- und Justizreform, bei der ein Pupillen-Kollegium als oberstes Gericht gegründet, die Regierung nunmehr Landdrostei genannt wurde. Auf dem Land ging die Justizgewalt aus den Händen der Grundbesitzer zunehmend in die des Staates über – die alte Feudalverfassung wurde somit aufgehoben. Mit dem Kriminalgesetzbuch und einer Strafprozessordnung aus dem Jahre 1840 endete schließlich die Geltung der Carolina von 1532. Die Revolution von 1848 sorgte für die Trennung von Justiz und Verwaltung. Seit 1852 wurden flächendeckend Amtsgerichte, in Lehe, Stade und Verden zudem Obergerichte etabliert, die zum Vorbild der Gerichtsverfassung des Deutschen Reiches wurden. Die Ernennung der Richter auf Lebenszeit und die Öffentlichkeit der Verfahren sorgten für die Unabhängigkeit der Justiz. Die preußische Besetzung des Königreichs Hannover bestätigte diese Strukturen, nur die Justizverwaltung wurde unmittelbar Berlin unterstellt. Eine weitere, abschließende Vereinheitlichung wurde 1879 mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze erreicht.

Von der konkreten historischen Situation abstrahierend, stellt Drecktrah „die Tendenz zur Verstaatlichung der Justiz, die jedoch nicht ohne Brüche verlief“, fest (S. 430). Dabei wurden die Kompetenzen auf ständig höhere regionale Ebenen verlagert. Trotz verschiedener Herrschaften und unterschiedlicher Gesetze blieb die Justiz im 18. Jahrhundert eine Konstante in den Strukturen der Herzogtümer. Durch den starken landständischen Einfluss zeigte sich dies auch in erheblicher personeller Kontinuität. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Stellung des Richters unabhängiger, durch die Öffentlichkeit der Verfahren war eine Kontrollfunktion gegeben.

Mit seinem wichtigen Werk legt Drecktrah eine Art Handbuch der Justizverfassung in Bremen-Verden vor, in dem er die vorhandenen Forschungsergebnisse kritisch zusammenfasst, auf vielfach noch nicht ausgewertete Quellen gestützt neue Zusammenhänge entwickelt und zu dem deshalb sicher gern gegriffen werden wird. Kleinere sachliche Fehler und der Hinweis auf eine manchmal sehr trockene Verwaltungssprache fechten diese Einschätzung nicht an.

Anmerkungen:
1 Beate-Christine Fiedler, Die Verwaltung der Herzogtümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit 1652-1712. Organisation und Wesen der Verwaltung, (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade, 7), Stade 1987.

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