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Titel
Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte


Autor(en)
Omerzu, Heike
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 115
Erschienen
Berlin u.a. 2002: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII, 615 S.
Preis
€ 138,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tassilo Schmitt, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Nach dem Bericht der Apostelgeschichte wird Paulus in Jerusalem gefangengenommen und vor römischen Behörden angeklagt. Die Darstellung seines Prozesses umfasst etwa ein Fünftel der gesamten Schrift. Am Ende wird der Apostel nach Rom überstellt, nachdem er den Kaiser angerufen hatte (Apg 21-26). Heike Omerzu geht es um die Historizität der hier geschilderten Ereignisse sowie um die - vor allem juristischen - Voraussetzungen und Umstände einerseits und um die Veränderungen in der Überlieferung bis hin zur Version des Lukas andererseits. Die Monografie beruht auf einer Dissertation, die im Wintersemester 2001/2002 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz angenommen sowie 2002 mit dem Dissertationspreis der Universität Mainz und mit dem Hanns-Lilje-Preis der Göttinger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurde.

Teil I widmet sich den "römischen Rechtsgrundlagen des Prozesses des Paulus" (S. 17-109), d.h. der Frage, ob der Apostel römischer Bürger gewesen ist (S. 17-52) und dem römischen Berufungswesen (S. 53-110). Die dabei entwickelten Vorstellungen von der historisch "besonderen Gestalt" (S. 12) des römischen Rechtswesens im ersten nachchristlichen Jahrhundert dienen als Ausgangspunkt für die im größeren (Haupt-) Teil II versammelten "traditionsgeschichtliche(n) Analysen" der "früheren forensischen Konflikte des Paulus" (S. 111-274), seiner letzten "Reise nach Jerusalem" (S. 274-308), der ersten Station des Prozesses in Jerusalem (S. 309-420) und der zweiten in Caesarea (S. 421-502). Auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 503-508) folgen das Literaturverzeichnis (S. 509-566) und sechs Register (S. 567-615).

Insbesondere im ersten Hauptteil kann Omerzu für sich beanspruchen, in großer Ausführlichkeit Gesichtspunkte zu beleuchten, die in der theologischen Analyse der lukanischen Darstellung oft im Hintergrund stehen. Zwar betritt die Autorin hiermit gewiss kein Neuland, sie ringt aber doch mit Energie auf einem Feld um selbständige eigene Positionen, dessen Ernte viele Theologen gerne Historikern und Juristen überlassen. Dies ist mit Nachdruck zu begrüßen: Das dringend notwendige wissenschaftliche Gespräch zwischen den Disziplinen ist auf Grenzgänger angewiesen, die sich in den Nachbargebieten sicher bewegen. Genau dies aber ist auch eine unabdingbare Forderung, will man nicht Gefahr laufen, nicht nur dem eigenen Fach keinen Dienst erweisen zu können, sondern auch dem Misstrauen diesseits und jenseits der Demarkationslinie Nahrung zu geben.

Mit großem Bedauern ist festzustellen, dass Omerzu bei ihrem Vorhaben gescheitert ist. Entscheidend für dieses Urteil sind nicht Missverständnisse (z.B.: Bürgerrechtsverleihungen seien kollektiv an Bewohner einer römischen Kolonie möglich gewesen, "sofern diese eine bestimmte Zeit zum Imperium gehört hatte", S. 22), begriffliche Unschärfen (z.B.: "Etliche nur durch Kriegsgefangenschaft versklavte vornehme Familien [erhielten] nach ihrer manumissio, also ihrer Freilassung, das Bürgerrecht" und waren dann "libertini", S. 21) und sonderbare Aussagen (z.B.: Nero sei "nur durch sein cognomen [bekannt]", S. 24). Solche Fehler, die sich innerhalb weniger zufällig herausgegriffener Seiten finden, verweisen aber doch auf eine erstaunliche Nonchalance im Umgang mit Quellen, Methoden und Ergebnissen von Juristen, Historikern und Philologen. Und sie sind symptomatisch dafür, dass auch die schwierigen sachlichen Probleme selten mehr als nur oberflächlich traktiert werden. Es wäre erforderlich gewesen, dass Omerzu - etwa mit Blick auf die Kyrene-Dekrete - zunächst generell geklärt hätte, ob, wie und warum Pauli Bürgerrecht seinen Prozess wesentlich prägen konnte. Dies um so mehr, als kürzlich Karl Leo Noethlichs in einem sorgfältig abwägenden Problemaufriss die Relevanz der Zivität für den Verlauf und den "Appell" an den Kaiser mit guten Gründen bestritten hat:1 Omerzu kennt diese Arbeit und zitiert sie gelegentlich, widmet den damit aufgeworfenen Fragen aber kein einziges Argument. Statt dessen stellt sie seitenweise Lesefrüchte über zahllose Aspekte des römischen - und auch eines "hellenistischen" (sic!) - Bürgerrechts zusammen, die zum Nachweis des Rechtsstatus des Völkerapostels nichts oder wenig beitragen.

Zwar vermag sie die Überlegungen zu entkräften, die immer wieder mit dem Ziel angestellt worden waren zu zeigen, dass Paulus unmöglich Römer habe sein können. Ihre eigenen Argumente für das Gegenteil sind aber entweder wenig aussagekräftig und nicht zu erhärten (lateinische Sprachkenntnisse), verfehlt (positive Haltung zur römischen Obrigkeit; vgl. dagegen prägnant Jacob Taubes 2) oder unverständlich (Paulus' Reisestrategie ergibt sich aus seiner meisterlichen Nutzung der Infrastruktur des Reiches, nicht aus persönlichen Rechtsverhältnissen). Wichtige neue Literatur, wie etwa der Überblick über die jüdischen Gemeinden im antiken Kleinasien von Walter Ameling,3 der das jüngere Schrifttum kritisch erschließt, ist übersehen.

Nicht einmal der Name des Apostels hilft bei der Prüfung des Bürgerrechts weiter: Lukas merkt an, dass Saulus auch Paulus heiße (Apg 13,9), und verwendet diese Form fortan konsequent. Omerzu hält "Saulus" für ein Signum oder Supernomen. Das aber ist auszuschließen, weil Supernomina erst im zweiten nachchristlichen Jahrhundert vereinzelt auftreten, bis sie sich in der Spätantike verbreiten. Im übrigen wird nicht "Saulus", sondern eben "Paulus" mit der ho kai = "der auch-" Formulierung eingeführt, die in diesen späten Zeiten Supernomina anzeigt. In der hellenistischen und der frühen Kaiserzeit werden so Zweit- und weitere Namen notiert - unabhängig vom Rechtsstatus des Namensträgers.4 Welchen Namen man bevorzugte, hing von vielen Faktoren ab. Lukas bringt den Wechsel von "Saulus" zu "Paulus" in einen so engen Zusammenhang mit der Begegnung des Apostels mit Sergius Paulus, dem Statthalter von Zypern, dass man schließen muss, dass er diese Begegnung für entscheidend hielt. Für ein besonderes Nahverhältnis zwischen dem Prokonsul und dem Missionar spricht überdies besonders, dass dieser seine Bemühungen zunächst auf das pisidische Antiocheia konzentrierte (Apg 13,13-50), wo jener über ausgedehnte Besitzungen und Verbindungen verfügte (der Nachweis bei Stephen Mitchell 5 ist Omerzu unbekannt). Mit Blick auf Sergius Paulus nennt sich Saulus also Paulus. Wäre dies dessen angestammtes römisches Cognomen, wie Omerzu meint (S. 39-42), müsste man angesichts der Seltenheit des Namens mit einem bemerkenswerten Zufall rechnen. "Paulus" hat diesen Namen zu einem bestimmten Zeitpunkt angenommen.

Da die Apostelgeschichte zugleich unterstellt, dass er sein Bürgerrecht durch Vererbung erhalten hat (Apg 22,28), widerspricht sie implizit der Ansicht, dass zwischen dem Namen "Paulus" und der civitas Romana irgendein Zusammenhang besteht. Ihre Darstellung ist konsistent, und es bleibt außerdem zu betonen, dass wir von den offiziellen tria nomina des Völkerapostels keines kennen! Das muss Absicht sein: Lukas flicht in seinen Bericht über die vor die römischen Behörden gebrachten Anschuldigungen gegen Paulus offizielle Stellungnahmen und Berichte ein, die selbstverständlich - und zwar unabhängig davon, ob die jeweiligen Texte historisch sind! - dessen korrekten Namen enthalten haben müssen. Wenn der Autor diese Einzelheit ohne weiteres übergeht, wollte er nicht, dass man mit Hilfe der tria nomina und der obligatorischen Tribusangabe mehr über Paulus' römische Identität erführe. Er schloss sich wohl nicht nur einer unter Juden und Christen verbreiteten Praxis an, sich zu einem etwaigen Bürgerrecht "nicht offen zu bekennen" (dazu: S. 41-42), sondern machte klar, von wie geringer Bedeutung dieses Bürgerrecht auch für den sei, der es hatte.

Folgt man der Apostelgeschichte, hat Paulus zweimal im Zusammenhang mit dem Einschreiten römischer Behörden auf sein Bürgerrecht hingewiesen (Apg 16,37; 22,25-29 mit 23,27). Hingegen spielt es für seine Anrufung des Kaisers keine Rolle. Omerzu will zeigen, dass letzteres "keineswegs auf einen Fehler oder auf die Tendenz des Redaktors bzw. Verfassers der Act zurückgeht, sondern vielmehr vor dem Hintergrund des römischen Rechtssystems konsequent und korrekt ist" (S. 53). Dazu rekonstruiert sie eine Geschichte des römischen Appellationswesens, das provocatio und appellatio gleichermaßen umfasst, und kommt zu dem Ergebnis, dass die provocatio zusammen mit den von den Quästionen verdrängten Volksgerichten untergegangen, der von ihr gewährte Schutz vor magistratischer Willkür aber in der lex Iulia de vi bewahrt worden sei (S. 82), und dass es bei der appellatio in der frühen Kaiserzeit "Abweichungen vom später fest ausgebildeten Verfahren" gegeben habe (S. 83).

Solide begründet wird das nicht: Durch lange Passagen wird man auf Abwege geführt, wo Lexikonartikel und mehr oder minder zufällig ausgewählte Beiträge als Wegweiser dienen. Es finden sich methodische Merkwürdigkeiten: Man dürfe literarische Quellen "nicht unkritisch als historische Dokumente" verwenden, "da das Anliegen ihrer Verfasser nicht die exakte Abbildung der geschichtlichen Ereignisse war" (S. 58). Glaubt Omerzu wirklich, dass es solche "exakten" Abbildungen gibt, und gehört es nicht vielmehr zum Alltäglichen historischer Arbeit, die Überlieferung in ihrer notwendig (doppelten) Zeitgebundenheit (durch Produktion und Rezeption) zu interpretieren? Verwirrend sind Behauptungen wie die, dass die appellatio ihren "Ausgangspunkt" in der "Stellung des Kaisers" finde, wo doch wenige Zeilen zuvor offensichtlich zustimmend die Ausführungen von Jochen Bleicken zitiert sind, dass lediglich ein schon in der Republik bekanntes Verfahren zu Beginn der Kaiserzeit ausgeweitet worden sei (S. 62). Unverständlich bleibt, wie Omerzu der Darstellung bei Liv. 10,9,3-6 entnehmen kann, dass der Autor die wiederholten valerischen Provokationsgesetze auf "die milde Strafe bei Vergehen [...] (zurückführt), die seiner Ansicht nach zu Missbrauch verleitete" (S. 70). Anachronistisch ist es, für das zweite vorchristliche Jahrhundert von einem "Reichsgebiet" zu sprechen; die Identifikation mit dem Amtsbereich militiae wirbelt verschiedene Kategorien durcheinander (S. 71).

Wissenschaftlich überholt ist die Auffassung, dass es sich bei den Pauli sent. 5,26,1f genannten humiliores und honestiores um "Stände" gehandelt habe, die "seit dem 2. Jahrhundert n.Chr." (S. 75) - oder seit Antoninus Pius (138-161) als "Konsequenz der Ausbreitung des Bürgerrechts auf alle freien Bürger des Reiches im Jahre 212 n.Chr." (ebd., Anm. 88 - sic!) - unterschieden wurden.6 Leider handelt es sich bei diesen Beispielen nicht um beckmesserisch herausgestellte Marginalien: Sie sind symptomatisch für eine Darstellung, die im Falle der provocatio in die Adaption der Thesen von Andrew Lintott 7 mündet. Hätte es, wenn man diese für richtig hält, nicht genügt, sie mit ihren wesentlichen Stützpfeilern und mit ihrem Erklärungspotential vorzustellen? Eigenartigerweise gönnt Omerzu Lintotts Auffassung relativ wenig Raum (S. 81) und versteckt wesentliche Entwicklungsschritte in Anmerkungen (vgl. S. 81, Anm. 119 mit 82).

Die Analyse der appellatio setzt mit einer langen Vorstellung vieler Einzelaspekte dieses Rechtsmittels in der nachklassischen Zeit ein (S. 83-92), obwohl es doch darum geht, die spätere Form einer Berufung gegen ein Urteil den früheren Verhältnissen entgegenzustellen. In der Tat finden sich in der frühen Kaiserzeit Belege dafür, dass damals eine appellatio an den Kaiser vor einem Urteilsspruch möglich war - weniger deutlich in Cassius Dio 64,2,3 aus der Zeit Galbas, aber zweifelsfrei in Tac. ann. 16,8 aus der Zeit Neros (wieso Omerzu, die beide Beispiele hintereinander zitiert und die Kommentierung bei Fergus Millar 8 kennt, gleichwohl behaupten kann, dass Dio den ältesten bekannten Fall überliefere, "bei dem die Appellation noch vor dem Urteil bzw. während eines laufenden Prozesses erfolgte", S. 97, bleibt ebenso rätselhaft, wie die Entstellung des Namens eines unter Tiberius genannten "M. Iunius Silanus" zu "Marius Silanus", S. 100). Außerdem ist dokumentiert, dass Fälle an den Kaiser überwiesen werden konnten. Omerzu sucht die Ausweitung der Appellation an den Kaiser im Anschluss an Jochen Bleicken gewiss zutreffend in der "Gewalt des Kaisers", auch wenn ihre Ablehnung der älteren Herleitungen entweder aus der tribunicia potestas oder aus der provocatio ad populum nicht frei von Fehlinterpretationen und schiefen Urteilen ist.

Die Historizität sowohl von Pauli Bürgerrecht als auch der Darstellung seines Prozesses sind durch außerbiblische Überlieferung also nur insofern zu sichern, als alle Gründe, die die Richtigkeit der Darstellung in der Apostelgeschichte auszuschließen schienen, zurückgewiesen werden können. Damit ist nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung erfüllt. Leider hat Omerzu die Beobachtungen über die geringere prozedurale Festigkeit der appellatio in der frühen Kaiserzeit nicht dazu fruchtbar gemacht, die Konzentration der Analyse auf Rechtsverhältnisse produktiv zu überwinden: Wenn sich vor allem feststellen lässt, dass Anrufungen des Kaisers wenig formalisiert waren und dass die Formen durch unabhängige Quellen nicht zu bestimmen sind, gewinnt man kein Kriterium, um die Zuverlässigkeit eines Berichtes zu überprüfen. Wohl aber hätte man von hier aus fragen können, was es bedeutet, dass Lukas wenig Mühe darauf verwendet, die im Hintergrund wirkenden Regularien zu beschreiben.

In den "traditionsgeschichtlichen Analysen" des zweiten Hauptteils fährt Omerzu das in generationenlanger Praxis geschärfte Sezierbesteck der Quellenforscher auf, um die Redaktion des Textes durch Lukas von den von ihm übernommenen Überarbeitungsstufen und von der ursprünglichen Tradition zu scheiden. Der Rezensent, der sich selbst im Bereich der römischen Geschichtsschreibung an solchen Aufgaben versucht hat, muss gestehen, dass es ihm im Falle der Apostelgeschichte von Einzelfällen abgesehen generell unmöglich erscheint, entscheiden zu können, welche Teilstücke welcher Stufe der Genese des Textes zuzuordnen sind: So lange eine parallele Überlieferung fehlt, sind Wortstatistiken und sogenannte Vorzugswörter - zu denen, wen wundert's angesichts des Themas der mit Reisen verbundenen Missionsgeschichte, das Verbum „erchomai“ und seine Komposita zählen (vgl. S. 157f.)! -, sind Annahmen über theologische oder politische Tendenzen, Vermutungen zu den Erwartungen und Einstellungen der Adressaten des Textes und ähnliche Überlegungen selten hinreichend sichere Kriterien. Bevor Widersprüche für die Analyse fruchtbar gemacht werden können, ist zu klären, mit welchen Konsistenzerwartungen man dem Text gerecht wird und ob nachweisbare Widersprüche nicht vielleicht gezielte Mittel des Autors im Dienste seiner Aussageabsichten sind. Generell ist die Vorstellung eines in einem halben Satz redaktionell versierten, in einem anderen traditionell gefesselten Lukas nicht plausibel. Warum soll er Tradition nicht in seine Sprache umgeprägt, Eigenes nicht mit sonst unüblichen Formulierungen ausgedrückt haben können?

Selbst wo methodische Vorsicht zu walten scheint, bleiben Omerzus konkrete Aussagen fragwürdig: S. 145f. - im Kontext der Analyse von Pauli Aufenthalt in Philippi (Apg 16,11-40) - prüft sie zunächst, ob die Beschreibung der Apostelgeschichte vor dem Hintergrund dessen, was man über die Verfahrenspraxis weiß, möglich ist. "Wenn das Verhalten der Beamten sowohl historisch plausibel, als auch sprachlich nicht rein lukanisch geformt sein sollte, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Lukas hier eine zuverlässige Überlieferung bewahrt hat." Demnach zielt das "nicht rein" Lukanische offensichtlich auf Nachweis der Tradition, die Plausibilität auf deren Qualität. Aber: Was richtig ist, kann von jedermann auch aus Kenntnis der Sachlage erfunden sein; umgekehrt kann auch ganz lukanisch Formuliertes auf guter Überlieferung beruhen. Ob das so ist, ist methodisch überzeugend selten zur Evidenz zu bringen; klare Ergebnisse sind eher umgekehrt zu erwarten, wo es darum geht, die Historizität von Berichten zu bestreiten. Liegt es in diesem konkreten Fall und allgemein auch für den Versuch der Rekonstruktion des Geschehens nicht näher, statt auf einzelne Bausteine auf die Struktur der jeweiligen Erzählung zu achten?

Das gilt auch für die Komposition der Apostelgeschichte insgesamt. Omerzu fasst ihre Beobachtungen zu den frühen "forensischen Konflikten" in der These zusammen, dass "es zumindest auf lukanischer Ebene eine Verbindung zwischen den behördlichen Konflikten des Paulus in Philippi, Thessaloniki und Korinth sowie der Zeit ab der Gefangennahme in Jerusalem gibt [...] Damit werden die Leser und Leserinnen des Lukas auf die spätere Anklage gegen Paulus vorbereitet, und zwar gerade auch und gerade im Hinblick auf deren Unhaltbarkeit" (S. 270). Lukas' Intention besteht also demnach wesentlich - zumindest in diesen Abschnitten - in der Apologie. Eine solche Auffassung entspricht zwar uralten Deutungstraditionen, erscheint aber - wie hier nicht im Einzelnen auseinandergesetzt werden kann und trotz gelegentlich gemachter Versuche, diese "Tendenz" nicht allzu schwer zu gewichten - eher in den Text hineingetragen, als aus ihm herausgelesen. Überdies wird nirgends dargelegt, wie sich Omerzu die Lektüre der Apostelgeschichte durch die Zeitgenossen vorstellt; unklar bleibt, wie Motive und Vokabeln als Vorverweise überhaupt verständlich gewesen sein können. Wenn Omerzu mit Blick auf die Weissagung des Agabos (Apg 21,10-11) darauf hinweist, dass so Pauli Schicksal explizit mit dem Jesu parallelisiert worden sei und dass dieses "Anliegen [...] Lukas so bedeutend (ist), dass er dafür Abweichungen von der späteren Verhaftungserzählung in Kauf nimmt" (S. 287), unterstellt sie zugleich, dass der Autor nicht mit dem intratextuell vergleichenden Leser rechnet, sondern mit einem, der Assoziationen jeweils an den einzelnen Stellen mitdenkt. Wie passen "jeweils verschiedene Erzählinteressen" (S. 283) in solchen Einzelszenen zur eben skizzierten Gesamtinterpretation der Konflikte des Paulus mit den Behörden?

Wegen all dieser Bedenken darf auch das Gesamtergebnis kaum als erwiesen gelten: Paulus sei wahrscheinlich wegen seditio mit einem Todesurteil konfrontiert worden und habe dagegen an den Kaiser appelliert. Lukas habe den Apostel freilich als vorbildlichen römischen Bürger darstellen wollen, zugleich aber den Statthalter dadurch entlastet, dass dieser eine schwache Stunde gehabt habe. Insgesamt habe der Verfasser der Apostelgeschichte "die ihm vorgegebenen Traditionen [...] im Kern korrekt" bewahrt, "jedoch redaktionell erweitert" (S. 504). Der Verzicht des Lukas, bei der Appellation auf das Bürgerrecht hinzuweisen, war möglich, weil der Zusammenhang und die Einzelheiten des Verfahrens es außer Frage stellten, "daß [...] der Besitz des Bürgerrechts die notwendige Voraussetzung für eine Appellation war" (S. 489).

Ärgerlich sind sprachliche Schnitzer wie ius auxilium ferre (S. 65) mit der Variation ius auxilium (S. 104), libellus appellatorii (S. 92) und iudex privati (S. 94, Anm. 179); eigenwillig ist die Entscheidung, im Literaturverzeichnis die einer Autorin oder einem Autor zuzuordnenden Schriften nicht chronologisch, sondern alphabetisch zu sortieren, wobei die Abkürzung "Art." für Lexikonartikel immer einen Spitzenplatz in der Liste sichert.

Omerzu hat ein sehr umfangreiches Buch vorgelegt. Das ist nicht zuletzt die Folge zahlloser Exkurse und Erläuterungen, die vor allem den Fleiß der Autorin dokumentieren. Greift sie über die Grenzen ihres Faches hinaus, finden sich nicht selten grobe Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Innerhalb der eigenen Disziplin setzt sie sich nicht zupackend genug mit den Voraussetzungen der eigenen Methode auseinander. Chancen, ein interdisziplinäres Gespräch zu führen, werden so leider nicht eröffnet.

Anmerkungen:
1 Noethlichs, Karl Leo: Der Jude Paulus - ein Tarser und Römer?, in: Haehling, R. von (Hg.), Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, Darmstadt 2000, S. 54-84.
2 Taubes, Jacob: Die politische Theologie des Paulus, München 1993.
3 Ameling, Walter: Die jüdischen Gemeinden im antiken Kleinasien, in: Jütte, R.; Kustermann, A. P. (Hgg.): Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Wien 1996, S. 29-56.
4 Vgl. Doer, Bruno: Die römische Namengebung, Stuttgart 1937; Calderini, Rita, Ricerche sul doppio nome personale nell'Egitto greco-romano, Aegyptus 21 (1941), S. 221-260; 22 (1942), S. 3-45; Kajanto, Iiro: Supernomina, Helsinki 1966.
5 Mitchell, Stephen: Anatolia II, Oxford 1993, S. 6-8.
6 Rilinger, Rolf: Humiliores - honestiores. Zu einer sozialen Dichotomie im Strafrecht der römischen Kaiserzeit, München 1988.
7 Lintott, Andrew: Provocatio. From the struggle of the orders to the principate, ANRW I.2 (1972), S. 226-267.
8 Millar, Fergus: The emperor in the Roman world, London 1977, S. 510f.

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