Titel
Liberalismus. Zur historischen Semantik eines Deutungsmusters


Autor(en)
Leonhard, Jörn
Reihe
Veröff. d. Dt. Hist. Inst. London / Publ. of the German Historical Inst. London 50
Erschienen
München 2001: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
799 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Müller, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Was ist Liberalismus? Mit dieser Frage haben sich Generationen von Historikern auseinandergesetzt. 1 Während die Liberalismusforschung in Deutschland in den letzten Jahren vor allem auf die Differenzierung der verschiedenen „Liberalismen“ im einzelstaatlichen und regionalen Umfeld abhob, 2 nimmt Jörn Leonhards Arbeit sich des Desiderates an, die Geschichte des Begriffs „Liberalismus“ zwischen 1789 und 1870 in Frankreich, Deutschland, Italien und England vergleichend zu untersuchen. 3 Dabei knüpft er methodisch an die Tradition der Geschichtlichen Grundbegriffe an, führt diese aber diskursgeschichtlich weiter.

Die Ende 2001 veröffentlichte Doktorarbeit Leonhards stellt eine Vergleichs- und Transferstudie der politischen und gesellschaftlichen Semantik der Wörter „liberal“ und „Liberalismus“ dar. Das Quellencorpus dieser Arbeit sind publizistisch wirksame Texte zwischen 1789 und 1870, in denen diese Wörter gebraucht wurden. Durch dieses sehr umfangreiche Textcorpus gewährleistet Leonhard eine Analyse der jeweiligen Verwendungen und Transferleistungen, die die semantischen Verschiebungen in Frankreich, Deutschland, Italien und England im jeweiligen Diskurskontext darzulegen vermag. Das Corpus, das sich bewusst an der publizistischen Präsenz und damit Öffentlichkeitswirksamkeit der gebrauchten Begriffe orientiert, setzt sich aus lexikalisch-enzyklopädischen, monographischen und ausgewählten periodischen Quellen sowie aus persönlichen Quellen zusammen, in denen die Wörter „liberal“ und „Liberalismus“ in einem semantischen Feld erscheinen und orientiert sich daher nicht, wie oftmals bei den Geschichtlichen Grundbegriffen kritisiert, an den „Leittexten“ der Epoche. 4 Den Gebrauch dieser Wörter untersucht er dann auf der paradigmatisch-normativen, der syntagmatischen, der antonymischen und der deskriptiven Ebene (S. 75f.).

Die Arbeit geht von der Voraussetzung aus, dass der vorsattelzeitliche unpolitische Begriff der „liberalitas“ als Bildungs- und Kulturbegriff ab 1800 einer politischen Bedeutung von „liberal“ und „Liberalismus“ weicht. 5 Die einzelnen politischen Begriffsbelegungen und –wandlungen richteten sich jedoch in den vier Vergleichsländern weniger nach überzeitlichen politischen Prinzipien, einer in der Ideengeschichte immer wieder anzutreffenden Linie eines Liberalismus avant la lettre von Aristoteles und Locke bis Croce, sondern nach konkreten Anliegen der jeweils den Begriff belegenden Gruppierungen. So versucht der Autor, die schon von Rotteck 1837 beklagte „babylonische Sprachverwirrung“ in Gebrauch und Bedeutung der Wörter „liberal“ und „Liberalismus“ ab 1789 analytisch zu durchdringen (S. 22-25). Die in zeitlichen Längsschnitten verglichenen einzelstaatlichen semantischen Analysen verhindern eine starre Festlegung auf einen idealtypischen Liberalismus (S. 34f., 72f.). Leonhard versucht dabei, anhand des fundamental neuen Stellenwertes und der veränderten Wirkungsmacht von politisch-sozialer Sprache im „politischen Massenmarkt“ der nachrevolutionären Zeit die Begriffsbelegungen von „liberal“ und „Liberalismus“ als Widerspiegelung veränderter Wahrnehmungsweisen und Handlungsmuster zu interpretieren (S. 26f.). Als Parameter für diesen expliziten Vergleich von Semantik und Gebrauch politisch-sozialer Sprache benennt Leonhard fünf Ebenen, die auf die einzelstaatlichen Entwicklungen Anwendung finden: die Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Deutungsmuster von „liberal“ und „Liberalismus“, die Konjunkturen in der Verwendung des Begriffsfeldes, die begriffsgeschichtlichen Berührungspunkt zwischen den Ländern, die begriffsgeschichtlichen Unterscheidungsmerkmale und Gemeinsamkeiten zu einer möglichen Typologisierung „zeittypischer Liberalismen“ und die Abbildung von verschiedenen Erfahrungshintergründen und Erwartungshorizonten in der Reflexion von „Liberalismus“ (S. 72f.).

Die Untersuchung gliedert sich, neben der methodischen Einführung und der Frequenzanalyse der Quellenkorpora als Ausdruck für die „Begriffskonjunkturen“ (S. 20-85, S. 570-586), in fünf vergleichende Kapitel und einen vergleichenden Ausblick. In diesen Kapiteln werden die begrifflichen Veränderungen in den historischen Kontext eingeordnet und der Transfer von politischer Sprache anhand der Übertragung der „idées libérales“ der Erklärung Napoleons I. zum Staatsstreich am 18. Brumaire 1799 in die anderen einzelstaatlichen Begriffe von „liberal“ analysiert. Leonhard unterscheidet anhand des Begriffsbefundes eine vorpolitische Phase bis 1789 (Kapitel II, S. 86-126), eine Fermentierungsphase zwischen 1789 und 1820 (Kapitel III, S. 127-257), eine Ideologisierungs- und Polarisierungsphase zwischen 1820 und 1830 (Kapitel IV, S. 258-348), eine Transformationsphase nach der Julirevolution (Kapitel V, S. 349-417) und eine neue Polarisierungsphase bis zur Jahrhundertmitte (Kapitel VI, S. 418-504). Ein Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte und eine Zusammenfassung der verschiedenen typologischen Liberalismen und der verschiedenen semantischen Sattelzeiten fassen die in jedem Kapitel durchgeführten expliziten Vergleiche unter den skizzierten übergeordneten Vergleichsparametern zusammen (S. 505-569).

Leonhard führt in seiner Studie aus, wie im Wandel des Begriffsfeldes in Kontinentaleuropa Frankreich eine Führungsrolle zukam. Die Erfahrung der Französischen Revolution und die Besetzung des Begriffsfeldes durch Napoleon I. wirkte sich verstärkt nach 1814 auf die Begriffsfelder in Italien und Deutschland aus, wobei Leonhard die Akkulturation des französischen Begriffs in den deutschen und italienischen Kontexten nach dem Wiener Kongress minutiös herausarbeitet. Während sich daher in den Jahren bis zur Julirevolution 1830 hier die Politisierung des Begriffsfeldes vollzog, wurde der Begriff in Frankreich nach dem Attentat auf den Duc du Berry 1820 zunehmend ideologisiert und als scharfer Abgrenzungsbegriff zu „républicain“ und „ultra“ gebraucht. Aus dem Oppositionsbegriff dieser Jahre wurde nach 1830 ein Zentralbegriff der Julimonarchie, der mit dem „libéralisme conservateur“ Guizots schließlich die Antinomien der Bourbonenzeit aufhob. In Deutschland wurde der Liberalismusbegriff hingegen durch die Repressionspolitik Metternichs politisch aufgeladen und entwickelte sich zu einem universalistischen Oppositionsbegriff, der erst im Gegensatzpaar von „liberal“ und „radikal“ im Vormärz differenziert wurde. In Italien hingegen wurde das Begriffsfeld weniger universalistisch als vielmehr nationalpolitisch in den Aufständen der Jahre 1820/21 aufgeladen, bevor die Antagonismuskonstruktion der Kurie zwischen „liberalismo“ und „cattolicismo“ vor allem in der Jahrhundertmitte die Ausdifferenzierung des Begriffsfeldes gegenüber anderen möglichen nationalstaatlichen Alternativen förderte. Das englische Begriffsfeld unterschied sich dagegen vom kontinentalen durch die Dauerhaftigkeit der politischen Begriffe, die sich schon im 18. Jahrhundert herausgebildet hatten. Somit waren die politischen Haltungen schon in der spezifisch englischen semantischen Sattelzeit des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts formierend für die politischen Begriffe „whig“, „tory“ und „radical“, in die „liberal“ zuerst durch Lehnübersetzungen und erst mit den Diskussionen über die Wahlrechtsreform von 1832 auch als englisches Wort formend eingriff. Erst im Laufe der 1830er Jahre konnte „liberal“ die politischen Bedeutungen von „whig“ und „radical“ teilweise überlagern, stellte aber bis weit ins 19. Jahrhundert keineswegs ein Synonym für die politischen Bewegungen dar. Damit zeichnet die Sprache die Tradition und Evolution der englischen politischen Bewegungen seit dem 18. Jahrhundert nach.

Während den Geschichtlichen Grundbegriffen die Kritik entgegengebracht wurde, sie argumentierten zu stark ideengeschichtlich und öffnete sich nicht den sozialhistorischen und kontextuellen Voraussetzungen der Diskussionen 6, bezieht Leonhard gerade diese Voraussetzungen mit in seine Studie ein. Er fragt nicht nur nach den Wandlungen der Bedeutungen von „liberal“ und „Liberalismus“, sondern auch nach dem aktuellen Gebrauch vor dem einzelstaatlichen Erfahrungsraum und den Konjunkturen der Wörter in den vier Vergleichsländern und den diskursiven Verbindungen zwischen ihnen. Dass diese Vergleichsperspektive auch „semantische Sonderwege“ zu identifizieren vermag, führt den Autor zuletzt zu der Feststellung, es habe nicht einen europäischen Liberalismus, sondern verschiedene einzelstaatlich differenzierte typologische Liberalismen und semantische Sattelzeiten gegeben, wie sich das am englischen Beispiel besonders zeigen lässt.

Die Nutzbarkeit der Arbeit wird durch mehrere Register enorm erhöht. Neben ausführlichen Sach- und Personenregistern hat der Autor die Arbeit zudem mit fünf Historischen Begriffsregistern ausgestattet, die die in Französisch, Deutsch, Italienisch, Englisch und Latein benutzten historischen Begriffe und Ausdrücke der Quellen zusammenfassen und somit dem Leser einen leichten Zugang zum benutzten und zitierten Quellenmaterial bieten. Zukünftige Forschungen zur Begriffs- und modernen Ideengeschichte sowie zum Liberalismus werden daher in dieser Arbeit die Maßstäbe für jede weitere Beschäftigung mit sprachlicher Erfassung und Verarbeitung von Geschichte finden.

Anmerkungen:
1 Zuerst in europäischer Perspektive Guido de Ruggiero, Storia del liberalismo europeo, Roma-Bari 1995 (EA: 1925); für den deutschen Liberalismus vgl. Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, Königstein 1985, James Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, München 1983; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988.
2 So z.B. Dieter Langewiesche, Liberalismus und Region, in: ders., Lothar Gall (Hgg.), Liberalismus und Region, München 1995 (HZ Beiheft 14), S. 1-18, hier S. 2-5, S. 8.
3 Vgl. die früheren Arbeiten von Leonhard, die Teilaspekte dieser Arbeit betonen: J. Leonhard, Von den ‚idées libérales’ zu den ‚liberalen Ideen’: Historisch-semantischer Kulturtransfer zwischen Übersetzung, Adaption und Integration, in: Marc Schalenberg (Hg.), Kulturtransfer im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 13-45; ders., ‚An odious but intelligible phrase’. Liberal in der politischen Sprache Deutschlands und Englands bis 1830/32, in: Jahrbuch für Liberalismusforschung 8 (1996), S. 11-42; ders., „1789 fait la ligne de démarcation“- Von den napoleonischen ‚idées libérales’ zum ideologischen Richtungsbegriff „libéralisme’ in Frankreich bis 1850, in: Jahrbuch für Liberalismusforschung 11 (1999), S. 67-105; ders., ‚Italia liberale’ und ‚Italia cattoclica’: Historisch-semantische Ursprünge eines ideologischen Antagonismus im frühen italienischen Risorgimento, in: QFIAB 80 (2000), S. 495-542.
4 Vgl. Helmut Berding, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: HZ 223 (1976), S. 98-110.
5 Vgl. auch Rudolf Vierhaus, Art. Liberalismus, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 741-785, S. 743.
6 Vgl. Berding, Begriffsgeschichte (wie Anm. 4), S. 99; Heiner Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: R. Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte (Sprache und Geschichte, Bd. 1), Stuttgart 1979, S. 43-74, hier S. 47f.; Melvin Richter, Appreciating a Contemporary Classic: The Geschichtliche Grundbegriffe and Future Scholarship, in: H. Lehmann, M. Richter (Hgg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996 (GHI Washington Occasional Papers, 15), S. 7-20, hier S. 15f.

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