J. Vossen: Gesundheitsämter im Nationalsozialismus

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Titel
Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge im Westfalen 1900 - 1950


Autor(en)
Vossen, Johannes
Reihe
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 56
Erschienen
Anzahl Seiten
546 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Pegelow, Department of History, University of North Carolina

In den vergangenen zwanzig Jahren hat die kritische historische Forschung zur NS-Medizingeschichte grundlegende Arbeiten zu den bevölkerungspolitischen Maßnahmen des NS-Regimes, der Rolle der Ärzteschaft und der Bedeutung rassenhygienischer Vorstellungen hervorgebracht. Die Berliner Historikerin Gisela Bock untersuchte umfassend die NS-Zwangssterilisationspolitik, wobei sie eingehend dessen ideologische Grundlagen nachzeichnete und innovativ Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung einbezog. Den Nexus zwischen Rassenhygiene und Euthanasie während der NS-Zeit erhellte Hans-Walter Schmuhl in einer bedeutenden Studie. Die Geschichte des öffentlichen Gesundheitsdienstes mit besonderer Berücksichtigung der Gesundheitsämter wurde dabei bislang noch nicht umfassend behandelt, auch wenn Studien zu Teilaspekten inzwischen vorliegen. Insbesondere Alfons Labisch und Florian Tennstedt arbeiteten die zentrale Bedeutung der Gesundheitsämter in der rassenhygienischen Politik in der Anfangszeit der NS-Herrschaft heraus 1. Johannes Vossens Studie zu den Gesundheitsämtern in der NS-Zeit, die weitgehend auf seiner im Jahre 1999 an der Universität Bielefeld abgeschlossenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation beruht, setzt diese Forschungstendenzen fort. Anregungen aus der Regionalforschung folgend, behandelt seine Arbeit das öffentliche Gesundheitswesen in der preußischen Provinz Westfalen auf der Kreisebene, wobei Vossen seine Analysen mit den Entwicklungen in anderen Regionen und auf Ebene der Reichspolitik in Verbindung setzt.

Der derzeit am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung tätige Historiker möchte in seiner Studie die „wechselseitige Durchdringung von Eugenik/Rassenhygiene [...] und sozialhygienischer Gesundheitsfürsorge [...] [a]m Beispiel einzelner Fürsorgebereiche“ aufzeigen. Zudem geht es ihm darum, den konkreten Einfluss ideologischer Vorgaben und Theorien auf die praktische Arbeit der Gesundheitsämter vor Ort herauszuarbeiten (S. 20). Vossen versteht die Entstehung der Gesundheitsämter zugleich als Ausdruck von Modernisierungsprozessen und zielt—auf Arbeiten Max Webers zurückgreifend—in seiner Behandlung der Ämter auf eine Analyse von Verwissenschaftlichungs- und Bürokratisierungstendenzen ab. Dabei versucht er Alltagsperspektiven und subjektive Erfahrungshorizente von Ärzten, Fürsorgerinnen und Prüflingen miteinzubeziehen, um so zu einer „mehrperspektivischen Geschichtsschreibung“ zu gelangen, die Wissenschafts-, Institutionen-, Personen- und Professionsgeschichte verknüpft (S. 31). Als Ergebnis seiner Arbeit will Vossen die weitgehend realisierte erbbiologische Kontrolle großer Bevölkerungsteile durch die Gesundheitsämter verstanden wissen, die diese unter anderem durch Untersuchungen von Ehewilligen und vermeintlich „Erbkranken“ erreichten. Zudem zeigt die Studie auf, dass die Erfüllung politischer Vorgaben seitens der Gesundheitsämter örtlich wie regional auffallend unterschiedlich verlaufen konnte. Mittels eines gruppenbiografischen Ansatzes verdeutlicht Vossen, dass Amtsärzte jüngeren Jahrgangs, die langjährige Mitglieder der NSDAP waren, und ältere Kreisärzte national-konservativer Prägung eher dazu neigten, zu Zwangssterilisationen zu drängen, als die oftmals liberaleren Kommunalärzte in urbanen Einrichtungen. Insgesamt fielen die Gesundheitsämter in Westfalen bei der Mitwirkung an NS-Sterilisationsmaßnahmen eindeutig hinter denjenigen des NS-„Mustergaus“ Thüringen zurück, während sie sich weniger von den Ämtern anderer westpreußischer Regierungsbezirke unterschieden. Als Gründe sieht Vossen nicht nur einen höheren Anteil alter Parteimitglieder in Thüringen, sondern auch institutionelle Rahmenbedingungen wie die strenge Fachaufsicht durch das dortige Landesamt für Rassewesen (S. 442, 445).

Johannes Vossen legt seine Darstellung der Geschichte der Gesundheitsämter in Westfalen in einem Längsschnittverfahren an, das den Zeitraum von 1900 bis 1950 berücksichtigt. Dieser Schritt ermöglicht es, Kontinuitäts- und Diskontinuitätslinien im Gesundheitswesen über die konventionellen politikgeschichtlichen Epochengrenzen hinaus zu erfassen. In einem umfangreichen ersten Teil behandelt der Bielefelder Historiker die „Vorgeschichte“ der Gesundheitsämter im Wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Er referiert die Ausformung von Sozial- und Rassenhygiene zu sich überlagernden „Leitwissenschaften“ in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Dabei blieb die Sozialhygiene im Verlauf des Kaiserreichs weitgehend handlungsrelevant, während sich die Eugenik erstmals institutionell formierte. Die Entstehung einer kommunalen Gesundheitsfürsorge beschreibt die Studie als Teil der bürgerlichen Sozialreform. Auf der Grundlage seiner Auswertung zeitgenössischer Fachzeitschriften und der Akten von Reichsbehörden und westfälischen Regierungsbezirken setzt Vossen die Debatten und Direktiven auf Reichsebene mit Initiativen in Westfalen in Verbindung und beleuchtet insbesondere die Bereiche der Tuberkulosebekämpfung und Säuglingsfürsorge. In Einklang mit einem Großteil der neueren Forschung zeigt er den Einflussgewinn von Rassenhygiene und Eugenik auf die Nachkriegspolitik auf, der sich selbst in Teilen der bürgerlichen Frauenbewegung, protestantischen Kirchen und sozialistischen Arbeiterbewegung vollzog. Die „Weimarer Eugenik“ entwickelte sich zu einem biomedizinischen Interventionstyp, der bereits erbbiologische Beratungen, aber noch keine Zwangsmaßnahmen vorsah. Am Beispiel der in Westfalen seitens kommunaler Gesundheitsämter eingeführten „offenen Geisteskrankenfürsorge“ zeigt Vossen jedoch, dass die damit einhergehende Erfassung von Kranken den Nationalsozialisten ab 1933 als Grundlage für rassenhygienische Zwangsmaßnahmen diente (S. 191, 201).

Der zweite und eigentliche Hauptteil der Studie behandelt auf etwa 250 Seiten die Gründung und Arbeitsweise von Kernbereichen eines erstmals flächendeckenden öffentlichen Gesundheitsdienstes in der Zeit der NS-Herrschaft. Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 verstaatlichte die bestehenden kommunalen Gesundheitsämter und bildete die Grundlage für deren weiteren Um- und Ausbau unter der Federführung des Reichsinnenministeriums. Die Ämter wurden so zügig zu einem Vehikel rassenhygienischer Bevölkerungspolitik im Sinne der NS-Führung. Dabei kam es zu einem Nebeneinander einer Praxis der Inklusion und Exklusion. Anreize etwa in Form von Ehestandsdarlehen standen Eheverboten und Zwangssterilisationen der als „erbkrank“ klassifizierten Reichsbürger und dem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung gegenüber.

In dem vielleicht eindrucksvollsten Abschnitt seiner Studie analysiert Johannes Vossen die Tätigkeit der „Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege,“ der zentralen Komponente der umstrukturierten Gesundheitsämter. Auf der Grundlage umfangreicher “Erbkrankenlisten” der Gesundheitsämter im Regierungsbezirk Minden—einem der zentralen Quellenfunde in Vossens ausgedehnter Arbeit in westfälischen Stadt-, Kreis- und Landesarchiven—veranschaulicht er die zentrale Rolle der Ämter in der Zwangssterilisierungspolitik des NS-Regimes. Gesundheitsämter nahmen Anzeigen auf, stellten eigene Ermittlungen und amtsärztlichen Untersuchungen an und sorgten für die Einweisung Betroffender in ausgewählte Kliniken zur Vornahme der Sterilisation (S. 274). Vossen führt den Beweis, dass es bei den Untersuchungen der Ämtern oft an „ärztlicher Sorgfalt“ mangelte und der „ärztliche Blick“ von „bürgerlichen Normen“ verzerrt war (S. 291), was sich besonders negativ für weniger geschulte Teile der Landbevölkerung auswirkte. Leider verzichtet Vossen, der Gisela Bock einer überbetonten „Frauenperspektive“ bezichtigt (S. 25), auf einen geschlechtstheoretischen Ansatz, der die Existenz von Sexualitätsnormen und deren Auswirkungen auf die unterschiedlichen Konstruktionen von Krankheiten weiblicher und männlicher Patienten stärker verdeutlichen könnte.

In weiteren Abschnitten behandelt die Studie die Funktion der westfälischen Gesundheitsämter bei der Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes und der Geburtenförderung. Aufschlußreich insbesondere über die Breitenwirkung der regionalen Gesundheitsämter sind Betrachtungen zum Aufbau einer „erbbiologischen Kartei.“ Bis Oktober 1938 hatten einzelne Gesundheitsämter bis zu 20 Prozent, in einem Fall sogar 38 Prozent der Wohnbevölkerung erfasst (S. 349). Diese Tätigkeit konkurrierte partiell mit Bemühungen der ebenfalls dem Innenministerium untergeordneten Reichsstelle für Sippenforschung, die unter anderem mit der Erstellung einer „Reichssippenkartei“ befasst war. Dieser Randbereich bleibt allerdings unterbeleuchtet und auch die neuere Literatur zur Reichsstelle wird nicht herangezogen 2.

Der dritter und letzte Teil behandelt auf etwa zwanzig Seiten Kontinuitäten und Brüche in der Gesundheitsfürsorge nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer Behandlung der Entnazifierung der Medizinalbeamtenschaft, der Ehegesundheitspolitik der deutschen Zivilverwaltung und dem weiteren Schicksal von Zwangssterilisierten, insbesondere im Rahmen ihrer Bemühungen um Anerkennung als NS-Opfer und angemessene Entschädigung. Die Arbeit zeigt personelle und organisatorische Kontinuitäten im westfälischen Gesundheitswesen auf und belegt die Weiterexistenz eugenischer Vorstellungen bei gleichzeitiger Diskreditierung von Zwangsmaßnahmen. Auch wenn die spärliche Quellenlage—relevante Akten befinden sich noch unter Verschluss—die Darstellungsbreite beeinträchtigt, wäre eine eingehendere Analyse insbesondere der Opfergruppen wünschenswert gewesen. Die vorliegende Fassung ist teilweise zu skizzenhaft und wird dem eigenen Anspruch einer balancierten mehrperspektivischen Geschichtsschreibung nicht ausreichend gerecht.

Indem Johannes Vossen die Enstehung der Gesundheitsämter zu breiteren Modernisierungsprozessen in Beziehung setzt, geht er mit Gewinn über eine mikrohistorische Betrachtung der Arbeit dieser Ämter hinaus. In Anlehnung an Detlev Peukerts Studien und parallel zu neueren amerikanischen Arbeiten liest Vossen an der Entwicklung des Gesundheitswesens Krisen und grundlegende „Ambivalenzen der Moderne“ ab 3. Während dieser Ansatz hinsichtlich des Nebeneinanders von gesundheitsfördernden und verbrecherischen Praktiken wie im Falle der Zwangssterilisationen überaus sinnvoll ist, verbaut sich der Bielefelder Historiker mit einem vorschnellen Abtun der Arbeiten anderer Forscher wie etwa Michel Foucault die Möglichkeit, weitere Facetten dieser Prozesse herauszuarbeiten (S. 13). Gerade Foucaults empirisch operationalisierbares Diskurskonzept zum Beispiel könnte die Ausbildung von Leitwissenschaften und Institutionen weiter beleuchten.

Insgesamt legt Johannes Vossen eine explizit theoriegeleitete und quellengesättigte Studie vor, die in vielfacher Hinsicht ihres Gleichen sucht und einen wichtigen Schritt zu einer erschöpfenden monografischen Betrachtung der Geschichte der Gesundheitsämter in NS-Deutschland auf Reichsebene darstellt.

Anmerkungen:
1 Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987 und Alfons Labisch; Florian Tennstedt: Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und –momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde, Düsseldorf 1985.
2 Diana Schulle: Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik, Berlin 2001.
3 Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987 und David Crew: The Ambiguities of Modernity. Welfare and the German State from Wilhelm to Hitler, in: Society, Culture, and the State in Germany 1870-1930, hrsg. v. Geoff Eley, Ann Arbor 1996, S. 319-344.

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