Ch. Charle u.a. (Hgg.): Capitales culturelles

Titel
Capitales culturelles – Capitales symboliques. Paris et les expériences européennes XVIIIe–XXe siècles


Herausgeber
Charle, Christophe; Roche, Daniel
Erschienen
Anzahl Seiten
475 S., XXI Abb.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Stunz, Universität Mainz

Ist die Hauptstadt auch die Haupt-Stadt?

I. Paris e(s)t le monde: Berlin, Florenz, Leipzig, Madrid, Moskau, Rom, St. Petersburg, Turin

Das berühmte Bonmot, Paris könne als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gelten, geht auf Walter Benjamin zurück. Die von den Historikern Christophe Charle und Daniel Roche herausgegebene Aufsatzsammlung, Resultat einer internationalen Konferenz am Collège de France im Oktober 1999, untermauert dieses Diktum auf eindrucksvolle Weise. Von Paris ausgehend und mit der französischen Kapitale als Referenzzentrum haben 32 Autoren renommierter Universitäten das Phänomen der europäischen Hauptstadt in den Blick genommen – mit Schwerpunkt auf der Funktion der Hauptstädte für die Kultur und für Herausbildung des Nationalen.

Einen Hintergrund dieses innovativen Ansatzes bildet nicht nur die allgemeine Hinwendung zu kulturhistorischen Themen, sondern im Besonderen eine Überlegung Pierre Bourdieus, die Konvertierbarkeit der Kapitalsorten kristallisiere sich besonders im urbanen Ballungsraum, wenn die Demonstration von politischem Einfluss und ökonomischem Kapital sich in kulturelles und symbolisches Kapital umwandelt. Immerhin verweist auch die französische Sprache auf eine etymologische Verwandtschaft von Kapital und „capitale“.

Die Herausgeber haben sich von drei viel versprechenden Prinzipien leiten lassen: dem vergleichenden Ansatz („histoire au second degré“), der Interdisziplinarität und der „longue durée“, denn der Band umfasst die Zeitspanne von etwa 1750 bis 1930. Einer problematischen Definition des Kulturbegriffs ging man aus dem Weg, indem vor allem Referenten zu Institutionen der Hochkultur – Museen, Oper, Theater, Denkmäler, Literatur – gewonnen werden konnten1. Die europäischen Hauptstädte und deren Repräsentationsorte sollten sich als sehr fruchtbar für diesen Zugang erweisen.

Sechs Sektionen mit verschiedenen Motti sorgen für eine Strukturierung und thematisch und methodisch verschiedene Zugänge zum Phänomen der Kapitale, die im Folgenden in Auswahl vorgestellt werden: Emmanuel Fureix (Paris) geht der Tilgung der Spuren des revolutionären Paris in der Zeit der Restauration nach und fragt nach Möglichkeiten und Medien der Umdeutung des öffentlichen Raums. Schon in diesem Beitrag wird deutlich, dass das Selbstbild der Hauptstadt – hier Paris – in einen spannungsreichen Vergleich mit Bildern und symbolischen Landschaften tritt. Die Rolle, die Feste bei der Konstituierung der drei Hauptstädte Italiens im Risorgimento spielen, analysiert Ilaria Porciani (Bologna): Turin als Stadt der Kontinuität, Florenz als „Capitale reticente“ und letztlich Rom, das sich im nationalen Symbolbildungsprozess durchsetzte und das entsprechend inszeniert. Der Beitrag Bruno Tobias (Rom) in der gleichen Sektion zeichnet ein Itinerar von Spuren festlicher Veranstaltungen und der symbolischen (Re)Konstruktion Italiens zwischen Einigung und Faschismus. Mit Jakob Vogels (Berlin) vergleichendem Zugriff kommen die militärischen Feiern zwischen 1871 und 1914 in der Hauptstadt des Deutschen Reiches und Frankreichs in den Blick.

Der zweite Abschnitt stellt das bipolare Moment in den Mittelpunkt: Etienne François (Paris/Berlin) vergleicht zwei Residenzstädte, beide in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt, beide Zentren von Festlichkeit und höfischer Repräsentation: Versailles und Potsdam. Die Spannungen zwischen Städten, die jede für sich beanspruchen, eine Hauptstadt zu sein, werden am Beispiel St. Petersburg vs. Moskau deutlich, das Ewa Berard (Paris) vorstellt: das St. Petersburg der Intellektuellen und Künste und Moskau als geistliches Zentrum. Einen auch methodisch spannenden Beitrag liefert Celine Braconnier, die Momente des Widerstands desjenigen Gemeinwesens beleuchtet, das dazu ausgewählt ist, Hauptstadt zu sein. Anhand ihres Beispiels, das Paris der 1870er Jahre, werden Momente der “resistance” gegen diejenigen Franzosen greifbar, die in einer Invasion auf “ihre Stadt” begriffen sind und sie nach den Maßgaben der Stadt der Moderne umbauen – ein eindrücklicher Hinweis auf die Bedeutung der Kommunalpolitik und diejenigen Netzwerke, die dafür sorgen, dass eine Kommune symbolische Funktionen einer Hauptstadt übernimmt. Jean Louis Robert (Paris) zeigt in seinem Aufsatz, wie Paris der Toten des Ersten Weltkrieges, derer der Nation, der Stadt und der Quartiers gedachte.

“Les décors urbaines” ist der nächste Großabschnitt übertitelt. Sara Benson (Ithaca NY) nimmt den Kapitol-Hügel unter dem Gesichtspunkt einer “possession virtuelle” im 18. Jahrhundert in den Blick, Jean-Michel Leniaud (Chartres) die Kirchen und deren Sichtbarkeit im Stadtbild. Ein Beitrag zur Oper in Paris im gleichen Jahrhundert darf nicht fehlen und wird von Daniel Rabreau (Paris) geliefert. Die deutschen Hoftheater und deren öffentliche Funktion werden von Monika Steinhauser (Bielefeld) berührt, die auf Rousseau, Schiller und Schinkel eingeht und mit einem Blick auf die Wiener Ringstrasse schließt 2. “Rome n’est plus en Rome”, stellte Christophe Charle mit einem Blick auf den Beitrag Jaques-Oliver Bourdons (Rouen) fest, der Paris als religiöses Zentrum, “cité sacrée”, im “Second Empire” charakterisiert.

Die vierte Sektion widmet sich den Wissensspeichern der Hauptstädte: Die Berliner Museumsinsel ist ein Paradebeispiel nationaler Wissensdemonstration und wird von Thomas Gaethgens (Berlin) kurz vorgestellt. Wo befindet sich die deutsche Nationalbibliothek? Matthias Middel (Leipzig) begibt sich auf die Spuren der Buchhandelsgeschichte und des Börsenvereins und beleuchtet die Entstehung der Deutschen Bücherei in Leipzig sowie die Spaltung der Funktion der deutschen Zentralbibliothek nach 1945. Etwas verwirrend ist, dass sich Frédéric Barbier (Paris) in der nächsten Sektion der Entstehung derselben Institution widmet. Allerdings mit anderer Blickrichtung und sehr umfassend zeigt er Entwicklungsfaktoren wie die Rolle der Messe, die Professionalisierung und die Konzentration des Buchhandels auf; dieser profunde Beitrag verweist mit der Thematisierung der Funktionsdifferenzierung und der föderalen Struktur auf die Grenzen der Vergleichbarkeit Deutschlands mit anderen europäischen Staaten und deren (kulturellen) Hauptstädten. Ein Blick auf die Rolle der Akademien, Universität und anderer kultureller Institutionen in Madrid im 19. Jahrhundert beschließt die Abteilung; mit der Analyse der Rolle der Intellektuellen im Madrid in den Jahren 1900-1930 wird der Faden in der nächsten Sektion von Paul Aubert (Marseille) aufgenommen, die sich den Schriftstellern in den Metropolen widmet.

Noch interessanter als Pascale Casanovas (Paris) Beitrag zur herausragenden Rolle von „Paris als Welthauptstadt der Schriftsteller“, ist Jean-Pierre Charlines (Paris) Seitenblick auf den Provinzialismus der Pariser – ein Hinweis darauf, dass Verdichtung von Macht und Geld nicht immer Hinweis auf Kosmopolitismus sein müssen. Michel Espagne (Paris) skizziert “Les capitales littéraires allemandes” im 18. und 19. Jahrhundert und geht auf Leipzig, Weimar und Berlin ein, während die kleinen Zentren etwas zu kurz kommen.

Mit zwei Glanzstücken, zunächst Eric Darragons (Paris) Beitrag zur Institution des Salons, seiner Rolle in der Kunstszene und als Agentur sozialer Netzwerke, beginnt die nächste Sektion, welche die „émotion aesthétique“ in den Mittelpunkt rückt. Was Darragon anhand der modernen Kunst gezeigt hat, gelingt Myriam Chimenes (Paris) am Beispiel der “promotion” ausländischer Musiker zwischen 1870-1940, z.B. Richard Wagner. Was hier an Mechanismen der Konsens- und Geschmacksbildung gezeigt wird, kann man auch an Berliner oder Dresdner Beispielen studieren. Die Opern in Rom, die Lokalitäten, Schauspieler, Spielpläne und das Umfeld fasst Didier Francfort (Nancy) anschaulich und konzise zusammen. Eine äußerst gelungene Verbindung eines kulturhistorischen Themas mit einem statistisch-sozialhistorischen Ansatz liefert Christophe Charles (Paris), der das Theaterpublikum von Wien, Berlin und Paris unter quantitativen und qualitativen Aspekten analysiert; dabei gelingt es vor allem, Besucherzahlen, die Rolle der Sparten, die Platzauslastung am Beispiel der drei Hauptstädte in Beziehung zu setzen. Die gegensätzlichen Entwicklungen in der Musikszene in Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit beschreibt Jane Fulcher (Bloomington [Indiana]) abschließend und stellt den Begriff der Politisierung des Musiklebens in den Mittelpunkt. Mit diesem Aufsatz sondiert die Musikwissenschaftlerin die 1920er Jahre für eine Verschränkung von Musik- und Politikgeschichte, die sie in zwei grundlegenden Monografien über Frankreich im wechselhaften 19. Jahrhundert bereits mustergültig geleistet und für das 20. Jahrhundert fortzusetzen begonnen hat. Zwei sehr hilfreiche Register erschließen den umfangreichen Band, der zudem einen reichen, farbigen und instruktiven Bildteil aufweist.

II. Umstrittene Hauptstädte – wo sind Macht und Kultur zu Hause?

In der kurzen Vorstellung einzelner Beiträge ist schon angedeutet worden, dass die Kriterien der Zuordnung zu den Sektionen etwas willkürlich ausfielen. Oft wurden Beiträge, die miteinander korrespondieren oder die gleiche Kulturinstitution in den Mittelpunkt stellten, separiert. Die Zuordnung zu der Vielzahl von Abteilungen erscheint mir nicht transparent. Ansonsten kann man den Herausgebern zu diesem Kaleidoskop kulturhistorischer Einblicke und Aufrisse nur gratulieren, gelingt es doch insgesamt, ein kulturelles Panorama europäischer Hauptstädte zu entwerfen, das auch methodisch à jour ist.

Die Grenzen der Tagungskonzeption beschreibt Christophe Charles im Nachwort selbstkritisch und treffend: Zahlreiche Hauptstädte Europas fehlen. London wäre sicherlich genauso spannend gewesen wie Athen, Budapest oder Helsinki; das Thema lädt auch zu Fragen der Nachahmung von Hauptstädten, deren Accessoires und der Genese von Hauptstädten in anderen Teilen der Welt ein. Auch die Spannungen zwischen Städten innerhalb eines Staates, wie sie im Beispiel St. Petersburg-Moskau dargestellt worden sind, wären an weiteren Beispielen ertragreich zu studieren. Um einige prominente Beispiele zu nennen: Bern/Zürich, Warschau/Krakau, Madrid/Barcelona aber auch Paris ist mit Blick auf die Zentralitätsdebatte im Verhältnis zu beispielsweise Marseille und vor allem Lyon zu verorten. Konkurrenzverhältnisse wie die der “ältesten Stadt Frankreichs” und der Hochburg de Gaulles mit dem nie ernsthaft angefochtenen Paris, verweisen auf Spannungen, die oftmals gerade auf dem Feld der Kultur und im Symbolischen ausgetragen werden. Der in der Mediävistik und Landeskunde sehr gewinnbringend angewandte Terminus der Zentralität sowie generell theoretische Überlegungen zu Zentrum und Peripherie stellten sicherlich sinnvolle Ergänzungen des Sammelbandes dar.

Auch der Blick in das 17. Jahrhundert und die Entstehung der Höfe und Residenzen hätte zur Beschreibung der Genese der Hauptstädte beigetragen 3. Die 1950/60er Jahre sind in vielerlei Hinsicht eine Zeit der spannenden Neudefinition des Modells der Hauptstadt, Urbanisierung und Modernisierung stehen im wechselseitigen Einfluss mit Hochkultur und den Medien der Massenkultur – man denke an das Kino aber vor allem an den die Städte verändernden Sport. In Anlehnung an Ortega y Gasset hätte man nach der Populärkultur im Verhältnis zur Elitenkultur im Laufe des 20. Jahrhunderts fragen können.

„Kulturhauptstadt Europas“ sind durch die Kür der EU jedes Jahr gleich mehrere Städte. Welche Rolle dieses symbolische Konzept auch für den Tourismus spielt sowie die Konkurrenz der europäischen Hauptstädte Brüssel, Luxemburg und Strassbourg gerade im Symbolischen und im kulturellen Sektor wären auch reizvolle weiterführende Fragen. Ein meiner Meinung nach ganz zentraler Punkt – auch ihn erwähnt Charle – fehlt völlig: Fragt man, welche Städte die kulturellen Hauptstädte Europas während der Sommermonate sind, so wird man die Antworten Salzburg, Bayreuth, Glyndebourne, Spoleto, Verona oder Aix-en-Provence erhalten. Die ganze Dimension von Musik-, Theater-, und Opernfestspielen fehlt. Auch ausgesprochene Kulturstädte wie Weimar, Heidelberg, München, Verlags- und Pressestädte wie Frankfurt – um nur bei deutschen Beispielen zu bleiben – fallen durch das Raster, zoomt man von der international vergleichenden Ebene auf die nationale. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob man nicht mit Blick auf Deutschland andere Wege gehen muss, nämlich eher bei den Kapitalen der Provinz, der Peripherie, zu beginnen und deren kulturelle Zentralität und Identitätsfunktion zu eruieren 4. Ergiebige Anregungen dazu findet man in Charles und Roches kapitalem Band mehr als ausreichend.

III. Jede Metropole eine (kulturelle) Hauptstadt?

Die Frage nach kulturellen Hauptstädten und symbolischen Städten im nationalen Kontext stellt sich im deutschen Fall völlig anders; Nämliches gilt aber nicht nur für Deutschland, sondern viele europäische Regionen. Was in deutschen Landen im regionalen, nationalen und internationalen Diskurs als kulturelle Kapitale angesehen werden kann, deckt sich nicht mit der jüngeren Entwicklung des Konzepts einer deutschen Hauptstadt.
Mit Blick auf Pierre Bourdieu muss man zudem konstatieren, dass die Ausbildung kultureller Zentren nicht linear der Ballung von Macht und Wirtschaft folgt, jedenfalls nicht immer. Und auch die Hauptstadt kann provinziell oder verarmt sein. Die aus der Perspektive der Vergleichenden Landesgeschichte hoch spannende Genese und Abwechslung kultureller und symbolischer Zentren, ihre Distribution, ihre Infrastruktur und Legitimationsstrategien sowie die Rückwirkungen des symbolischen Kapitals als ‘weicher Standortvorteil’ auf die Wirtschaft sind erst noch zu kartographieren.

Anmerkungen:
1 Folgende Monografien von Beitragenden eignen sich besonders zu ergänzender und vertiefender Lektüre: F. Barbier, L’Europe et le livre, Paris 1996; J.-P. Chaline, Sociabilité et érudition. Les sociétés savantes en France, Paris 1999 ; Chr. Charle, Paris fin de siècle, Paris 1998; E. François , Marianne-Germania 1789-1914, Leipzig 1998; J. Fulcher, French Cultural Politics and Music, Oxford 1999 ; I. Poriani, La festa della nazione, Bologna 1997; J.-L. Robert, Paris, le peuple, Paris 1999 ; B. Tobia, L’Altare della Patria, Bologna 1998.
2 Leider bleibt beispielsweise die einschlägige Studie von Ute Daniel zum Hoftheater im 18. und 19. Jahrhundert unberücksichtigt.
3 Ein richtungweisendes Vorhaben ist die in Vorbereitung befindliche Publikation des Pariser Historikers Stephane van Damme über kulturelle Hauptstädte und den Wissenschaftstransfer im 18. Jahrhundert.
4 Vgl. Deutsche Erinnerungsorte hrsg. v. Etienne François und Hagen Schulze. 3 Bde. München 2001; Constanze Carenac-Lecomte u.a. (Hgg.), Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte. Annäherungen an eine deutsche Gedächtnisgeschichte, Frankfurt u. a. 2000; Etienne François (Hgg.), Lieux de Memoire – Erinnerungsorte, Berlin 1996 sowie Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris 1984-1992.

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