C.-W. Reibel: Das Fundament der Diktatur

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Titel
Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932 - 1945


Autor(en)
Reibel, Carl-Wilhelm
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

Es ist in der jüngeren Forschung weitgehend unbestritten, dass den unteren Parteiinstanzen der NSDAP eine wesentliche Rolle bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung des auf „Verführung und Gewalt“ 1 beruhenden NS-Regimes zukam. Im Widerspruch zu dieser grundsätzlichen Einsicht standen sehr lange die geringen Kenntnisse über diese Herrschaftsinstanzen vor Ort. Erst seit Ende der 80er Jahre sind einige Darstellungen erschienen, die sich mit viel Gewinn ausschließlich oder vornehmlich diesem Forschungsgegenstand zugewandt haben. Diese Feststellung gilt vor allem für die Ebene der Kreisleiter bzw. Kreisleitungen 2. Wer jedoch Näheres über die Ortsgruppenleitungen der NSDAP oder gar über die Zellen- und Blockleiter mit ihren berüchtigten Haushaltungskarteien erfahren wollte, war – obwohl doch gerade diese Herrschaftsebene vertiefte Einblicke in das alltägliche Funktionieren der Diktatur vor Ort verspricht – bis vor kurzem noch weitgehend auf die schon betagte, hauptsächlich die normativen Vorgaben der Parteizentrale referierende Darstellung von Diehl-Thiele 3 angewiesen. Erst durch zwei 1998 erschienene Fallstudien zur örtlichen NSDAP im Zwergstaat Lippe 4 sowie den im Jahr 2000 veröffentlichten Aufsatz Schmiechen-Ackermanns über die „Blockwarte“ 5 wurde auch eine breiter angelegte Erforschung dieser basisnahen Parteiinstanzen angeregt.

Um so größeres Interesse wird das hier zu besprechende Buch erwecken. Es handelt sich um eine von Marie-Luise Recker betreute, im Jahr 2000 an der Universität Frankfurt angenommene Dissertation. Das Ziel des Autors ist es, „Aufbau, Struktur und Wirkungsweise der NSDAP-Ortsgruppen“ darzustellen. Dabei steht für ihn die Frage im Vordergrund, „in welcher Form die NSDAP-Ortsgruppenorganisation ein Instrument zur Stabilisierung der NS-Diktatur war“ (S. 17). Im Rahmen seines „überregionalen Ansatzes“ (S. 20) möchte er dabei nicht nur Entstehung und Inhalt der einschlägigen Vorgaben aus der Parteizentrale rekonstruieren, sondern auch „die Umsetzung der angestrebten Maßnahmen in den Gauen“ (S. 18) untersuchen und die parteitypischen „Provinzialpartikularismen“ (S. 19) aufspüren.

Reibels eigentliches Problem bei der Erfüllung dieser ambitionierten Aufgabe ist eindeutig die schwierige Quellenlage. Aktenbestände von Ortsgruppen sind allenfalls fragmentarisch überliefert. Neben der Auswertung einiger zentraler Bestände aus dem Bundesarchiv Berlin, insbesondere des Reichsorganisationsleiters, des Reichsschatzmeisters und der Parteikanzlei, die ihm vor allem die Perspektive der Reichsleitung der NSDAP erschließt, muss Reibel auf größere, aber keineswegs geschlossene Aktenbestände von Gau- und Kreisleitungen in 6 Staatsarchiven aus Süd-, Südwest- und Nordwestdeutschland zurückgreifen. Diese verstreuten Bestände haben überdies unterschiedliche thematische und zeitliche Schwerpunkte, so dass Reibels Optimismus, eine „reichsweite Untersuchung“ (S. 25) vorlegen zu können, nicht von jedem Leser geteilt werden wird. Eine in ihrer Art wohl einmalige Überlieferung stand ihm in einem umfangreichen, für die Kriegsjahre weitgehend vollständigen Aktenbestand einer Frankfurter Parteizelle zur Verfügung, die im dortigen Institut für Stadtgeschichte verwahrt wird.

Reibel entledigt sich seiner Aufgabe in zwei „Inhaltsblöcken“, die in insgesamt 7 Kapitel untergliedert sind. Der erste, vornehmlich organisationsgeschichtliche „Inhaltsblock“ behandelt zunächst die wechselvolle Geschichte der Organisationsform „Ortsgruppe“ und ihrer Untergliederungen „Zelle“ und „Block“. Auf dieser Grundlage schließt sich eine gründliche Darstellung über das Amt des Ortsgruppenleiters und den sich zunehmend ausdifferenzierenden und bürokratisierenden Mitarbeiterstab aus Amts-, Zellen- und Blockleitern an. Der organisationsgeschichtliche Teil der Arbeit wird abgeschlossen durch drei ausführliche und kenntnisreiche Kapitel, die sich mit der Personalpolitik in den Ortsgruppen, dem parteiinternen Schulungswesen für untere Parteifunktionäre und dem Finanzwesen der Ortsgruppen beschäftigen.

Innerhalb dieses ersten „Inhaltsblocks“ unternimmt der Autor auch eine Auswertung von 161, zwischen 1937 und 1941 geführten „Stammbüchern“ badischer Ortsgruppenleiter, die den ebenfalls überlieferten Personalakten beilagen. Mit Hilfe dieses im Generallandesarchiv Karlsruhe verwahrten Splitterbestandes versucht Reibel, ein Sozialprofil dieser bisher weitgehend anonym gebliebenen Funktionärsgruppe zu erstellen, das nicht nur für das gesamte Korps badischer Ortsgruppenleiter repräsentativ sein soll, sondern auch tendenzielle Aussagen über ihre Amtskollegen in den übrigen Parteigauen erlaubt. Dieser Anspruch bleibt jedoch fragwürdig, da – zumindest für den Leser – völlig unersichtlich bleibt, ob der überlieferte Bruchteil der Stammbücher – insgesamt amtierten in Baden ca. 1600 Ortsgruppenleiter – nicht etwa regionale Schwerpunkte oder andere Besonderheiten aufweist. Trotz dieser Einschränkungen kommt Reibel bei der Auswertung der besagten Stammbücher zu interessanten Einsichten, welche die Ergebnisse anderer Untersuchungen zum Funktionärskorps der NSDAP weitgehend bestätigen. Allerdings hätte das entworfene Funktionärsprofil fraglos noch an Tiefenschärfe gewonnen, wenn es – so etwa bei der Berufsstatistik – mit den entsprechenden Werten für die Gesamtbevölkerung oder die gesamte Parteimitgliedschaft in Relation gesetzt worden wäre. Des Weiteren hätte Reibel sicherlich noch vertiefte Einblicke in seine Untersuchungsgruppe gewinnen können, wenn er weitere Überlieferungen, etwa die restlichen Personalakten, die entsprechenden Akten des ehemaligen Berlin Document Center oder die Entnazifizierungsakten benutzt hätte. Man muss dem Autor allerdings zugute halten, dass dieser zusätzliche Aufwand im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aus arbeitsökonomischen Gründen wohl kaum zu rechtfertigen gewesen wäre. Mit anderen Worten: Die Auswertung besagter Personalakten hätte in Kombination mit zusätzlichen Quellen fraglos eine eigenständige Untersuchung verdient.

Im zweiten „Inhaltsblock“ arbeitet Reibel weitgehend erschöpfend und überzeugend die vielseitigen, unter den Begriffen Betreuung, Indoktrination, Kontrolle und Verfolgung zusammenzufassenden Tätigkeitsbereiche der Ortsgruppenfunktionäre in der Friedenszeit und im Krieg heraus. Hervorzuheben ist hier insbesondere die ausführliche Darstellung der – in der Literatur lange Zeit zu wenig beachteten – tiefen Verstrickung der unteren Parteifunktionäre in die systematische Judenverfolgung. Inmitten dieser Kapitel, die sich mit den „konkreten Einsatzfeldern der NS-Funktionäre in den Ortsgruppen“ (S. 23) befassen, wirkt seine 15-seitige Darstellung über das gigantomanische Bauprojekt von „NS-Gemeinschaftshäusern“ für über 30 000 Ortsgruppen, das über die Planungsphase kaum hinausgekommen ist, nicht nur zu lang, sondern auch seltsam deplaziert.

Trotz einiger klar herausgearbeiteter interner „Funktionsdefizite“ (S. 385) in den Ortsgruppenverwaltungen kam diesen Instanzen auch nach Reibels Auffassung zweifellos eine fundamentale Bedeutung im „Netzwerk aus Betreuung und Verfolgung“ zu. Daher wendet sich der Autor ausdrücklich gegen gewisse „Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung, die für die NSDAP in der Vorkriegszeit eine ‘politische Funktionslosigkeit’ feststellen“ (S. 390). Hier ist Reibel jedoch nur teilweise zuzustimmen. Er verkennt an dieser Stelle die partiell weitgehende, zunächst nicht nur auf dem Papier stehende „Aussperrung“ der NSDAP, vor allem der Ortsgruppenleiter, aus wichtigen Bereichen des kommunalen Verwaltungsalltags, wie sie sich etwa in der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 manifestierte.6 Mit Recht jedoch widerspricht Reibel den Thesen Kershaws 7, der die erstaunliche Stabilität des Regimes hauptsächlich im „Hitler-Mythos“ begründet sieht, dem lokalen Parteiapparat dagegen nur eine „unbedeutende, im Hinblick auf die vermeintlich (sic!) Unbeliebtheit der örtlichen NS-Funktionäre gar eine herrschaftsuntergrabende Rolle“ (S. 395) zuerkennt. Fast im gleichen Atemzug wendet sich Reibel gegen einige Autoren, die dem NS-Regime eine „Planlosigkeit“ (S. 395) und grundsätzliche Destruktivität unterstellen.8 Wenn er statt dessen die organisatorische und ideologisch motivierte Zielstrebigkeit beim Aufbau des Verfolgungs- und Überwachungstaates auf örtlicher Parteiebene betont, steht das allerdings in auffälligem Widerspruch zu der an anderer Stelle betonten „Kakophonie der Befehlsbefugnisse“ (S. 394) über die NSDAP-Ortsgruppenleitungen.

Reibel gelingt es immer wieder, die Brechung und Modifizierung der Organisationsvorgaben und Aufgabenzuweisungen aus der NSDAP-Reichsleitung an den weitgehend eigenständigen Gauleitungen oder den beschränkten Personal- und Sachressourcen vor Ort deutlich nachzuweisen. Aufgrund der lückenhaften Quellenlage bleibt dabei jedoch oft unklar, ob und inwieweit es sich bei den jeweils geschilderten Modifikationen um lediglich lokale Besonderheiten begrenzten Ausmaßes oder um flächendeckende Phänomene handelte. Auch bei dem angestrebten Vergleich zwischen städtischen und ländlichen Ortsgruppen kommt er immer wieder zu interessanten Ergebnissen. Lohnenswert wäre darüber hinaus sicherlich auch eine differenzierende Unterscheidung zwischen Ortsgruppenverwaltungen in alten NSDAP-Hochburgen und in „Problemregionen“ wie etwa ländlich-katholischen Milieus gewesen. Völlig ausgeblendet bleibt leider die Politik der Ortsgruppenfunktionäre gegenüber den Kommunalverwaltungen und unteren Instanzen staatlicher Dienststellen.9

Als Resümee bleibt Folgendes festzuhalten: Man darf sich durch die vorgebrachten Kritikpunkte nicht täuschen lassen: Reibel hat ein gutes und wichtiges Buch vorgelegt. Es bleibt zu hoffen, dass durch seine umfassende Darstellung vertiefende Spezial-, Regional- oder Lokalstudien zur Ortsinstanz der NSDAP angeregt werden. Von der ungünstigen Quellenlage sollte sich dabei niemand vorschnell abschrecken lassen. Kommunale und staatliche Akten, auch die zeitgenössische Tagespresse, können bisweilen hinreichende Ersatzüberlieferungen für so manche Bereiche der Ortsgruppenarbeit darstellen.

Anmerkungen:
1 Zit. n. Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986.
2 Siehe insbesondere Barbara Fait: Die Kreisleiter der NSDAP – nach 1945. in: Martin Broszat u.a. (Hgg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989, S. 213-299; Claudia Roth: Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997; Christine Arbogast: Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920-1960, München 1998.
3 Peter Diehl-Thiele: Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und innerer Staatsverwaltung, München 1969, S. 161-169.
4 Caroline Wagner: Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NS-Machtergreifung in Lippe, Münster 1998; Andreas Ruppert; Hansjörg Riechert: Herrschaft und Akzeptanz. Der Nationalsozialismus in Lippe während der Kriegsjahre. Analyse und Dokumentation, Opladen 1998.
5 Detlef Schmiechen-Ackermann: Der „Blockwart“. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: VfZ 48 (2000), S. 575-602.
6 Horst Matzerath: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970, S. 132-164.
7 Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 88 f.
8 Reibel bezieht sich hier namentlich auf Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 247 sowie auf Hans Mommsen: Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Gerhard Hirschfeld; Lothar Kettenacker (Hgg.): Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 43-72, hier S. 69.
9 Vgl. dazu etwa Horst Matzerath, S. 229-247.

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