Titel
Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 - Drei Versuche im Westen anzukommen


Autor(en)
Segert, Dieter
Erschienen
Frankfurt/M. u.a. 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jennifer Schevardo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Je näher die erste Osterweiterung der EU rückt, desto deutlicher wird, wie diffus und oszillierend einige der kursierenden Vorstellungen bezüglich des östlichen Teils des Kontinentes sind. Vordergründig geht es dabei zumeist um Sorgen über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der europäischen Integration, dahinter steht aber oft die generelle Unlust, sich mit dem immer fremder Werdenden im Osten zu beschäftigen. Als „philosophisch und historisch interessierter“ (S. 9) Politologe legt Dieter Segert mit seinem Buch erstmals eine, disziplinäre und regionale Schranken übergreifende, Studie vor, die versucht, Osteuropa als Komplex zu erschließen.

Er bezieht Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, den Balkan einschließlich Albaniens und punktuell das Baltikum mit ein, und es geht ihm sowohl um die Erfassung der Gemeinsamkeiten der Region, aber auch um Unterschiede zwischen den Ländern. Ziel des Autors ist es, wie er auf den ersten Seiten einräumt, die Zugehörigkeit des Ostens zu Europa zu demonstrieren. Dieser pädagogische Impetus durchzieht das ganze Buch und macht seinen speziellen Wert, jedoch auch einige Schwächen aus.

Dieter Segert will zunächst seinen Gegenstand als Ganzen definieren und nähert sich diesem über eine Definition, die aus der Region selbst stammt. „Mitteleuropa“ war die Selbstbezeichnung, die in den achtziger Jahren oppositionelle Intellektuelle in der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen verwandten, um sich vom Osten, besonders von der Sowjetunion, abzugrenzen und ihre kulturelle Zugehörigkeit zum Westen zu manifestieren. Zwar bildete diese Positionierung eine wesentliche Komponente dissidentischer Politik, doch, so eine gängige Kritik daran, stellte auch den Versuch dar, die Region als harmonische Einheit zu konstruieren und jegliche Störung zu externalisieren.

Als Indiz dafür, dass die Kohäsion der Staaten in dieser Region tatsächlich eher gering war, sieht Segert den blutigen Zerfall Jugoslawiens, aber auch, weniger drastisch, die stagnierende Kooperation der Visegrad Staaten. Eine weitere Definition ex negativo ergibt sich durch die Kontrastierung mit dem Westen, wobei zumeist die wirtschaftliche Rückständigkeit oder auch die weniger ausgeprägte Zivilgesellschaft betont werden, während die endogenen Entwicklungschancen der Länder und ihre Bedeutung für die Implementierung der seit der Wende importierten Neuerungen, so Segert, generell unterschätzt werden.

Ein weiteres Konstituens für Osteuropa als Ganzes könnte die gemeinsame sozialistische Vergangenheit der Länder sein, der sich Segert an späterer Stelle im Buch noch widmet. Zuvor aber begründet er seinen Gebrauch des Begriffes „Staatssozialismus“, den er abgrenzt von jeglicher „Verteidigung eines guten Programms gegenüber einer misslungenen, schlechten Praxis“ (S. 23). Er versteht ihn als Terminus technicus für eine Gesellschaft, die sich selbst als sozialistisch verstand und dem Staat eine zentrale Rolle beimaß.

Die historische Untersuchung setzt Segert bei der Genese der Nationalstaaten in der Region nach dem Ersten Weltkrieg und einer Charakterisierung ihrer hybriden politischen Systeme an, die sich im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre von fragilen, „importierten“ Demokratien in „autoritäre Diktaturen“ wandelten (S. 34). Dieser wuchtige Begriff und die gesamte Darstellung leiden ein wenig unter dem didaktischen Ansatz des Autors. Die Zwischenkriegszeit fungiert bei ihm primär als Vorgeschichte des Sozialismus und wird in Bezug auf diesen interpretiert. Segert suggeriert eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung, wenn er behauptet, es habe, trotz des liberalen Einflusses der Westmächte auf die politische Ordnung der neuen Staaten, „eine andere Wirklichkeit [existiert], die aufzusteigen begann, als die mannigfaltigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Konflikte dieser Gesellschaften aufbrachen“ (S. 35). Zwar untersucht er diese Konflikte ausführlich, doch bei der anschließenden Typologisierung der Diktaturen wirkt die analytische Brille beengend. Segert etabliert hier einen Kanon an Kriterien: das Nebeneinander von Tradition und Moderne, die kulturnationale Färbung der Politik, die Präsenz physischer Gewalt, der Aufbau eines modernen Verwaltungs- und Machtapparates und die bedeutende Rolle großer Parteien, teilweise „Staatsparteien“, die er bei der Untersuchung des Staatssozialismus wieder aufgreifen kann.

Die Frage, die am Anfang des dritten Kapitels steht – „Warum hatte der Staatssozialismus in Osteuropa überhaupt eine Chance?“– ist nicht kokett gemeint, sondern der Autor weist auf den Umstand hin, dass nach 1989 plötzlich alle Kommunisten verschwunden waren und seitdem in einigen der Transformationsländer eine gewisse Amnesie gegenüber ihrer sozialistischen Vergangenheit herrscht. Anstatt, wie so oft, diese Frage mit dem Hinweis auf exogene Faktoren, v.a. den sowjetischen Druck, zu beantworten, unternimmt Segert eine gründliche Analyse der Gründe und Entwicklungen, die in den einzelnen Ländern zur Machtübernahme der Kommunisten geführt haben. Er erläutert die Bedeutung kommunistischer Gruppen vor 1945, führt den Krieg als Auslöser sozialer und politischer Umwälzung an und nennt Faktoren, die die Anziehungskraft der Kommunisten auf breite Teile der Bevölkerung ausgemacht haben mögen.

Die Stärke des Autors liegt eindeutig im politologischen Bereich, was seine Ausführungen zum Staatssozialismus zeigen. Zu Anfang setzt er sich mit der klassischen Totalitarismustheorie und ihren jüngeren Ausläufern auseinander, denen er eine zu geringe Bereitschaft zur Differenzierung zwischen staatlicher Politik und gesellschaftlichem Leben ankreidet. Er hingegen vertritt einen aufgelockerteren Machtbegriff, der den Blick auf den Eigensinn der Akteure freigibt und die säuberliche Trennung zwischen Beherrschten und Untergeordneten aufhebt. Segert findet sich jedoch nicht mit der Feststellung eines vieldeutigen Vagierens ab, sondern sucht dieses zu personifizieren und greifbar zu machen. Als vermeintliche Repräsentanten der Ambiguität zwischen Unterwerfung und Egoismus im Staatssozialismus identifiziert er die sog. Dienstklasse, deren Wandern von einem Bereich in den anderen dadurch erleichtert worden sei, dass die herrschende Ideologie darauf gezielt habe, eine die politische wie die gesellschaftliche, die öffentliche wie die private Sphäre umfassende gemeinsame Sinnwelt zu konstituieren. Neben gewalttätig-restriktiven Mitteln der Machtsicherung seien also konsensual-gewinnende getreten. Diese beiden stellt Segert jedoch etwas schematisch nebeneinander, so dass deren Vieldeutigkeit wiederum unterschätzt wird.

Insgesamt wirkt die Annäherung an den Staatssozialismus über seine Trägerschichten etwas starr, erweist sich aber dennoch als fruchtbar. Segert bietet eine Analyse der Sozialstruktur der Eliten, der Funktion der Dienstklasse und schließlich der Varianten des Verhältnissen zwischen diesen beiden. Er stellt die bindende Rolle von Ideologie und die damit zentrale Bedeutung der Propaganda dar. Das am Beispiel der DDR erläuterte System der geistigen Steuerung der Bevölkerung markierte gleichzeitig auch die Grenze der Macht. Denn diese musste sich auch an die in der Bevölkerung vorhandenen Lebensziele und Interessen anpassen, ein Prozess, den Segert mit der Herausbildung des „Konsumsozialismus“ (Staritz) in den siebziger Jahren in einigen Ländern bestätigt sieht (S. 144). Weitere Ausführungen widmet er dem Terror als Mittel zur Herrschaftsstabilisierung.

Segert hat eine Typologisierung der osteuropäischen Diktaturen schlechthin im Sinn. Er vergleicht die Regime der Zwischenkriegszeit mit den staatssozialistischen, was ihm durch die bereits vorstrukturierte Analyse der beiden recht leicht fällt. Seine zentrale These ist, dass beide Diktaturen modernisierend auf ihre Gesellschaften eingewirkt haben, „Entwicklungsdiktaturen“ waren (S. 158). Dies zu veranschaulichen gelingt ihm für den Staatssozialismus wesentlich besser als für die Zwischenkriegsregime. Dieses Ungleichgewicht erklärt sich an späterer Stelle im Buch, als er einräumt, eine weitere Intention sei gewesen, den Staatssozialismus zu „entdämonisieren“ (S. 309) und seine positiven und modernisierenden Effekte für die heutige europäische Einigung aufzuzeigen. Die Aussage, der Staatssozialismus habe die Gesellschaften Osteuropas „europäischer“ gemacht, impliziert jedoch eine etwas bemühte ex-post-Deutung.

Nach dem Versuch, Osteuropa als Einheitliches zu konstituieren und in der Zeit zu vergleichen, widmet sich Segert der Diversität und Wandlungsfähigkeit innerhalb der sozialistischen Länder. Er diskutiert einige theoretische Konzepte, die hierfür dienlich scheinen und versucht anschließend, sich auf drei empirischen Feldern dem Phänomen des Wandels anzunähern. Er fragt nach dessen Akteuren, also den Reformkommunisten, untersucht Konzepte und Ausmaß der Wirtschaftsreformen und befasst sich mit unterschiedlichen Ausprägungen von Kulturpolitik und ihren nichtintendierten Wirkungen. Diese Darstellungen leiden ein wenig unter dem großen Konzept, das dem Buch zu Grunde liegt, nämlich dem Versuch, eine ganze Gruppe von Ländern gemeinsam zu untersuchen. Die Folge ist, dass der Gehalt einiger Aussagen sehr verdünnt wird und Ausnahmen immer als solche begründet werden müssen.

Schließlich wendet sich der Autor der Wende und der Zeit danach zu. Wie der Untertitel des Buches bereits verrät, wird diese Phase primär modernisierungstheoretisch interpretiert. Segert zeichnet zunächst eine vergleichende Chronologie des Systemwandels anhand von Kriterien wie abgehaltene Wahlen, die Umbildung der Regierungsinstitutionen oder die Veränderung der Eigentumsordnung. Seine Bilanz ist durchaus kritisch, dennoch resümiert er die Frage, wie es um die heutigen Demokratien in Osteuropa bestellt sei, positiv, wobei aber Kroatien, Serbien und die Slowakei als Problemfälle ausklammert und gesondert untersucht werden. Die Gefährdungen der Demokratie seien im Vergleich zur Zwischenkriegszeit geringer, die Erwartungen der Bevölkerung an die politische Ordnung und die Partizipationsmöglichkeiten gut angepasst. Stärkend auf die jungen Demokratien wirke zudem die internationale Umgebung, die dem gleichen Wertesystem anhänge.

Trister hingegen ist die wirtschaftliche Bilanz, die Segert anhand einer Fülle von Kennziffern zieht. Die anfänglich großen Erwartungen bezüglich eines schnellen Aufholens gegenüber dem westlichen Niveau seien enttäuscht worden. Während er also eine dauerhafte Verankerung der Demokratie in der Region als Ganzes für wahrscheinlich hält, prognostiziert er für die wirtschaftliche Sphäre andauernde Schwierigkeiten und eine weitere Ausdifferenzierung zwischen den Ländern. Eine Absage jedoch erteilt Segert der in den letzten Jahren häufiger vertretenen These von der dauerhaften Spaltung Osteuropas.

Das Buch schließt mit einem fast leidenschaftlichen Plädoyer für die weitere Öffnung der EU nach Osten. Segert argumentiert mit der gemeinsamen Kultur, die den Osten so fest an den Kontinent binde, dass Europa erst mit seiner Integration seine wahre Gestalt bekäme. Dieser Pathos ist nach der vorherigen eingehenden Analyse wohl erlaubt.

Doch eines bleibt weiterhin ungeklärt: Die Grenzen Osteuropas hat Segert mit seiner Länderauswahl bereits vorab festgelegt, wo aber liegen die Grenzen Europas im Osten? Wie viele „Europäer“ empfinden Rumänien als demselben Kulturkreis zugehörig, wie viele Serbien oder etwa Russland? Hinter ökonomisch begründeten Forderungen nach Beschränkung der Integration stecken nur allzu oft dunkle Kollektivängste, die Segert in seinem Buch nicht explizit untersuchen, sondern lediglich mit Euphorie unterlaufen kann. Dies zeigt sich auch in dem historischen Bezug seiner eigenen Europa-Vision, nämlich die paneuropäische Bewegung der Zwischenkriegszeit. Dass diese spätestens durch die ganz spezielle Osteuropaidee Hitlers diskreditiert worden ist, wird hierbei ausgeklammert. Andererseits ist es vielleicht wirklich genau das, was Europa heute braucht: eine klare und positive Vision von einer Gemeinschaft der Solidarität, der Sicherheit und Kultur. Nach der Lektüre von Dieter Segerts Buch glaubt man, dass die Chance vorhanden ist – mehr denn je.

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