Cover
Titel
Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954-1966)


Autor(en)
Sälter, Gerhard
Reihe
Berichte und Studien 36
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 6,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sascha Möbius, Institut für Geschichte, Universität Potsdam

Zwischen 1950 und 1989 sind nach internen Angaben des MfS 484 ehemalige oder aktive Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR in die Bundesrepublik geflohen (S. 156), allein 400 vor dem Mauerbau 1961. In 108 Fällen (S. 162) gelang es dem MfS, Überläufer und Überläuferinnen auf verschiedenen Wegen in die DDR zurückzuholen und sie in „Geheimprozessen vor Militärgerichten“ (S. 180, vgl. auch S. 144) oder – gerade in den frühen Jahren – in „MfS-internen Schauprozessen“ (S. 158, 180, vgl. auch S. 52, 67) aburteilen zu lassen. Elf dieser Fälle aus dem Zeitraum 1954-1966 stellt Gerhard Sälter in seinem Buch vor. Mit dem Band des Dresdner Hannah-Arendt Institutes knüpft Sälter an die verstärkt in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückenden Forschungen zu Hauptamtlichen des MfS an. Hatten lange Zeit die IM die Debatte dominiert, so konnte mit der Arbeit von Jens Gieseke 1 in diesem Bereich eine solide Grundlage für weitere Forschungen geschaffen werden (S. 11).

Der vorliegende Band versteht sich bewusst nicht als Studie zum Phänomen der Überläufer und Überläuferinnen, sondern möchte anhand sorgfältig recherchierter Einzelschicksale der internen Repression im MfS nachspüren: „Einerseits soll das Ausmaß an Überwachung und Druck gezeigt werden, den ein Repressionsapparat wie das MfS auch nach innen organisieren musste. [...] Auf der anderen Seite steht die Auswirkung der internen Repression auf die einzelnen Mitarbeiter.“ Dabei verweist der Autor gleich eingangs auf den Umstand, dass der daraus resultierende „psychische Druck“ bei einigen Mitarbeitern erst zur „inneren Distanzierung“ führte (S. 13).

Angesichts der immer noch unbefriedigenden Quellenlage zu den Aktivitäten der westlichen Geheimdienste scheint dieser Ansatz auch viel versprechend. Der Autor skizziert zunächst die Geschichte des MfS und seines internen Aufbaus in dem angegebenen Zeitraum (S. 15-39), um dann in zwei folgenden Kapiteln die einzelnen Schicksale darzustellen. Ausgehend von der oft unterschiedlichen Konfliktlage, in der sich die Überläufer befanden, rekonstruiert Gerhard Sälter die Flucht, Aufnahme in Westberlin, die „Rückführung“ der „Verräter“ und ihre Aburteilung. Am Ende jedes Abschnittes wird auf die in der Regel eingestellten Verfahren gegen die beteiligten Justizfunktionäre nach 1989 verwiesen.

In dem ersten dieser Kapitel werden acht Überläufer und „Verräter“ vorgestellt, die in den 50er Jahren verurteilt wurden – sieben von ihnen zum Tode. Das zweite enthält unter der Überschrift „Endstation Bautzen II“ drei Fälle von „Aussteigern und Doppelagenten der fünfziger und sechziger Jahre, die jeweils zu langen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Den Abschluss bildet ein zusammenfassendes thematisch gegliedertes Kapitel. Die Quellengrundlage bilden Akten des MfS, Interviews und Häftlingsdaten, die die Gedenkstätte Bautzen mit Genehmigung der Betroffenen dem Autor zugänglich machte, und Justizakten, die im Zuge der nach 1989 angestellten Ermittlungen entstanden sind (S. 13).

Dem Autor gelingt es, die sehr unterschiedlichen Konfliktlagen der einzelnen vorgestellten MfS-Mitarbeiter in den Kontext der Entwicklung des MfS einzuordnen. Die in den 50er Jahren noch ungefestigten Strukturen der Staatssicherheit sollten durch Disziplinierung und gegenseitige Bespitzelung konsolidiert werden. Auf diese Weise wurde jedoch nicht nur konformes Verhalten produziert, sondern auch dessen Gegenteil. Dieses konnte sehr unterschiedlich gelagert sein. So zeigt Sälter in einigen Fällen, wie Angehörige des Staatssicherheitsdienstes ihre partiellen Machtbefugnisse ausnutzten, um sich schlicht selbst zu bereichern. Die bevorstehende Aufdeckung entsprechender Vorgehensweisen führte dann zur Flucht nach Westberlin (S. 41f.).

Andererseits konnten die „interne Repression“ und die Methoden der Geständnisproduktion dazu führen, dass sich Angehörige des MfS mit eher idealistischen Motiven von ihrer Behörde abwandten (S. 125) oder sogar bewusst versuchten, ihr zu schaden. In dem Fall des 1953 zu lebenslanger Haft verurteilten Horst Zimmermann zeigt Sälter einen jener Fälle, in denen der Eintritt in das MfS von Anfang an dazu dienen sollte, „dort gegen das Repressionssystem der DDR zu arbeiten“ (S. 116).

Auch die Rolle der westlichen Geheimdienste in den „Sichtungsstellen“ für Flüchtlinge aus der DDR wird von Sälter kritisch untersucht. Hier wird deutlich, dass diese gut über die internen Verhältnisse im MfS informiert waren (S. 157). Zugleich zeigt der Autor auf, dass vor allem der Versuch, die Überläufer für die Anwerbung weiterer MfS-Angehöriger zu gewinnen, oft mit dazu beitrug, dass die Staatssicherheit sie festnehmen konnte (S. 154). Sälter verweist auch auf die Kritik an der engen Auslegung der „vorsätzlichen Rechtsbeugung“ durch die bundesrepublikanische Justiz nach 1990, wenn er auf die zahlreichen Freisprüche für Justizfunktionäre der ehemaligen DDR verweist (Anm. 94, S. 180), die vor dem Hintergrund der nachweisbaren Regie von Parteiführung und MfS in den erwähnten Fällen tatsächlich erstaunen.

Besonderes Gewicht legt der Autor auf die Frage der Festnahme der „Überläufer“. Wurden aufgrund entsprechender Aussagen in internen Papieren und Rundschreiben der Staatssicherheit bisher in den meisten Fällen direkte Entführungen angenommen (vgl. S. 46-48), so kann der Autor aufzeigen, dass diese Texte propagandistischen Charakter trugen, also der Abschreckung potentieller weiterer „Verräter“ dienten. In der Realität scheinen jedoch sowohl Entführungen als auch Festnahmen bei arrangierten Treffen mit „umgedrehten“ Ansprechpartnern der Überläufer vorgekommen zu sein (S. 161-163).

Charakteristisch für einen Großteil der politischen Justiz in der DDR war, dass sowohl die unterschiedliche Motivation der „Überläufer“ als auch der in den vorgestellten Fällen geringe Wert der an den „Gegner“ weitergegebenen Informationen das Strafmaß nicht beeinflussten. „Die Ursachen für die drakonischen Urteile sind also eher im Apparat selbst als bei dessen Opfern zu suchen.“ (S. 155) Es sollte durch die verhängte Todesstrafe ein „Exempel statuiert“ werden. Laut Sälter resultierte dies vor dem Mauerbau aus dem „Problem, Strukturen und Tätigkeit des MfS geheim zu halten“ (S. 156). „Es handelte sich um eine Machtdemonstration gegenüber den eigenen Mitarbeitern, die auf Probleme der Geheimhaltung und das Problem unzureichender Konsolidierung des Personals reagierte.“ (S. 157)

Das Vorgehen gegenüber Überläufern stellt der Autor in den Zusammenhang der allgemeinen Repression in den Jahren nach dem 17. Juni 1953: „Es ist ein Bezug zu der Strategie Wollwebers zu erkennen, durch groß angelegte Verhaftungswellen und nachfolgende Gerichtsprozesse, bei denen Urteile wegen Spionage und Diversion mit sehr hohem Strafmaß verhängt wurden, sowohl gegenüber SED und Öffentlichkeit die Effizienz der Staatssicherheit zu belegen, als auch zur Legitimierung der SED-Herrschaft beizutragen, indem westlicher Einfluss als Ursache für schlechte Versorgung, Kritik und Opposition dargestellt wurde.“ (S. 159) Dass später, besonders nach 1956, lange Haftstrafen die Regel wurden, war wiederum der Konsolidierung des MfS und dem Bau der Mauer geschuldet. „Aber auch später wurden noch justizförmige Methoden des Terrors gegen Überläufer eingesetzt [...]. Bis 1981 wurden auch Todesurteile gegen ‚Verräter’ gefällt.“ (S. 160-161)

Auch Gerhard Sälter kann durch seine Recherchen den Befund von der „extremen Außensteuerung“ 2 der politischen Justiz der DDR durch das Politbüro der SED stützen: „Bei den Todesurteilen was bis auf den Fall Rebenstock immer eine Beschlussfassung der Parteibürokratie auf höchster Ebene im Politbüro nachweisbar.“ (S. 174) Auch bezüglich der in der Forschung unumstrittenen Manipulation der Gerichtsverfahren durch das MfS kann Sälter aufschlussreiche Details hinzufügen. Im Falle der Angeklagten „K.C.“ aus der Zeit 1954-55 wurde aus der Behauptung „dass die Läden drüben [Westberlin, S.M.] voll sind und wer gut verdient, kann sich viel kaufen und wer nicht viel verdient, der kann sich nicht viel kaufen“ eine „hetzerische Verleumdung der DDR“ konstruiert (S. 177).

Dieser Nachweis ist umso erfreulicher, als das Verhältnis zwischen „realem“ Delikt und „Geständnisproduktion“ (bes. S. 168-178) eines der großen quellenkritischen Problemfelder der Forschung zur politischen Strafjustiz in der DDR gelten kann. Anknüpfend an Falco Werkentin kommt der Autor zu dem Schluss, dass die „starre Übernahme der Vorgaben des MfS durch Staatsanwaltschaft und Gerichte“ (S. 177-178) auf die Verunsicherung der Richter durch die ständigen strafpolitischen Kurswechsel der SED-Führung zurückzuführen war. In diesem Rahmen kann Sälter aufgrund seiner Recherchen auf die Besonderheit von Strafverfahren gegen Angehörige des MfS verweisen, wo sich Hinweise darauf finden, „dass die Verfahren stärker als bei Prozessen gegen die politische Opposition vom MfS selbst gesteuert wurden“ (S. 174).

Insgesamt zeichnet sich die Broschüre durch die gelungene Verbindung akribischer Forschung und guter Lesbarkeit aus. Die klare Struktur ermöglicht es, sie in der politischen Bildung zu verwenden, während gerade die sorgfältige Quellenkritik das Fachpublikum interessieren wird. Besonders hervorzuheben ist auch, dass der Autor Mitgefühl und wissenschaftliche Redlichkeit durch Struktur und Stil auf gelungene Weise verbindet. Kritisch anzumerken ist, dass die Einordnung der vorgestellten Fälle in das Gesamtphänomen des Überlaufens von MfS Angehörigen erst am Ende des Buches vorgenommen wird. Hier wären eine kurze Problematisierung und die Skizzierung eines Forschungsausblickes wünschenswert gewesen. Dem Gesamtcharakter der Studie als einer Bereicherung der MfS-Forschung tut dies aber keinen Abbruch.

Anmerkungen:
1 Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Anatomie der Staatssicherheit: Geschichte, Struktur, Methoden (MfS Handbuch, Bd. IV.1), Berlin 1994.
2 Genau herausgearbeitet und belegt in Falco Werkentins grundlegender Studie. Vgl. Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Forschungen zur DDR-Geschichte, Bd. 1), Berlin 1995, S. 394.

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