D. Rucht (Hg.): Protest in der Bundesrepublik

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Titel
Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen


Herausgeber
Rucht, Dieter
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Wiesener, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Kollektiver öffentlicher Protest ist spätestens seit den siebziger Jahren zum allgegenwärtigen und legitimen Ausdruck politischer Partizipation in der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden. So muss der Umstand überraschen, dass es bisher keine ausführliche empirische Untersuchung zur Protestgeschichte der Bundesrepublik gibt, wie Dieter Rucht als Herausgeber des Sammelbandes „Protest in der Bundesrepublik“ betont: „Kaum jemand vermag verlässlich über die zeitliche, räumliche und thematische Verteilung, geschweige denn über Voraussetzungen und Wirkungen von Protesten Auskunft zu geben.“(S. 7)

Sich diesem Problem auf empirische Weise nähern zu können, darin vor allem liegt die Bedeutung des im Band vorgestellten Projektes „Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepublik“ (Prodat), das seit 1992 am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin betrieben wird, und das ermöglicht, Wandel und Kontinuitäten in der bundesdeutschen Protestkultur über den langen Zeitraum von 1950 bis 1994 zu untersuchen. Die Datenquellen sind Berichte zu Protestereignissen aus der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung. Dabei werden nicht konfliktreiche Einzelproteste, sondern ein möglichst breites Spektrum des Protesthandelns thematisch behandelt.

Protest wird dabei als voraussetzungsvolle Interaktion unterschiedlicher Akteure innerhalb eines vielgliedrigen Gefüges verstanden, die immer eine doppelte Signatur trägt: als Protest gegen etwas und für etwas (S. 9). Als Protestereignis definiert Rucht in der Einleitung eine „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (S. 19).

Den einzelnen Beiträgen liegt fast durchweg, aber nicht ausschließlich, das Instrument der Protestereignisanalyse zugrunde, die zu Beginn des Bandes hinsichtlich ihrer methodischen und theoretischen Implikationen dargestellt wird, wobei auch auf die bekannten Nachteile derartiger empirischer Längsschnittstudien eingegangen wird. Den unschätzbaren Vorteilen des breitflächigen und längsschnitthaften Vorgehens (Systematisierung und Objektivierung der Beobachtung des medial vermittelten Protesthandelns) steht gegenüber, dass eine auf Medienberichten beruhende Protestereignisanalyse nur das abbildet, was die Medien anbieten und somit die Defizite der Medienberichterstattung auch in die Analyse mit eingehen.

Darüber hinaus und im Gegensatz zur Bewegungsforschung und zu historischen Studien kann die Protestforschung in den meisten Fällen eben nur die Oberflächenstruktur von kollektiven öffentlichen Protestereignissen abbilden: „Verborgen bleiben dagegen die vorbereitenden Überlegungen und Aktionen, die treibenden Kräfte im Hintergrund, die nachfolgende Verarbeitung des Protestes durch Teilnehmer, Adressaten und Zuschauer“ (S. 17).

Dem „bias“-Vorwurf, der gegenüber der hier zur Diskussion stehenden Untersuchung zwangsläufig erhoben werden kann, begegnen Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt in der längeren Vorstellung und Bilanzierung des Prodat-Projektes (S. 27-70) offensiv. In einer Gesellschaft, die sich selber zunehmend nur durch Medien beobachten kann, sind Ereignisse, die medial unvermittelt bleiben, für den gesellschaftlichen Verkehr nahezu belanglos (S. 62). Somit konzentriert sich die Untersuchung des Prodat-Projektes auf Protestereignisse, die durch mediale Vermittlung einem großem Publikum zugänglich sind und auch den Wahrnehmungshorizont politischer Entscheidungsträger erreichen (S. 63).

Die knappe zusammenfassende Bilanzierung wesentlicher Ergebnisse aus dem Prodat-Projekt bestätigt zahlreiche, empirisch bisher kaum gesicherte Annahmen zur Protestgeschichte der Bundesrepublik. So wuchs seit den sechziger Jahren der politische Druck von unten, der über „protestförmige Basismobilisierung“ ausgelöst wurde und das politische Zentrum von der Peripherie her bedrängte, kontinuierlich an – mit besonderen Eruptionen Ende der sechziger und zu Beginn der achtziger Jahre, die sich in der Protestzahl und den Teilnehmerzahlen widerspiegelten (S. 63). Ebenso zeigt sich die Annahme bestätigt, dass es eine schrittweise Verschiebung der Protestträger von Parteien und Vereinen zu informellen Netzwerken und Initiativen gab (S. 64).

Auch verdeutlicht sich die fortschreitende Internationalisierung von Problemlagen durch die Globalisierungsprozesse (noch) nicht in einer sozialen und politischen Erweiterung der Protestarena. Das dürfte sich allerdings, so kann im Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre vermutet werden, in den späten neunziger Jahren deutlich geändert haben. Für die Protestakteure im Untersuchungszeitraum gilt, dass „der Problembezug ihrer mit Protesten dramatisierten Ansprüche [...] mehrheitlich und sogar in steigendem Maße auf lokale und regionale Thematiken bezogen [bleibt]“ (S. 64).

Anja Corinne Baukloh knüpft mit ihrer Analyse von antinationalsozialistischen Protesten in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre an die Stichproben des Prodat-Projektes an (S. 71-101). Ihre Untersuchung zeigt, dass entgegen der häufig vertretenen Ansicht die fünfziger Jahre keineswegs durch ein generelles Beschweigen der NS-Vergangenheit gekennzeichnet waren, sondern sich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus frühzeitig in kollektiven öffentlichen Protesten gegenüber dem organisierten Rechtsextremismus der Nachkriegszeit äußerte. Dieser Protest wurde zunächst hauptsächlich von Akteuren getragen, die der antifaschistischen Tradition entstammten, zu denen sich in den späten fünfziger Jahren verstärkt Studenten und politisierte Jugendliche gesellten (S. 96).

Angesichts der gegenwärtigen politischen Debatten um das Zuwanderungsgesetz der Bundesregierung gewinnt Ruud Koopmans‘ Beitrag über „alten Rechtsextremismus und neue Fremdenfeindlichkeit“ (S. 103) eine besondere Brisanz. Koopmans verfolgt in seiner ebenfalls auf Prodat-Quellen beruhenden Untersuchung die Frage, ob die Zunahme rechtsextremer Gewalt in den neunziger Jahren historische Vorläufer in der frühen Bundesrepublik hatte oder wir es heute mit einem völlig neuen Phänomen zu tun haben (S. 104). Es wird im Fortgang der Untersuchung recht schnell deutlich, dass von einer Kontinuität des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik keine Rede sein kann. Der rechtsextreme Protest bis in die achtziger Jahre hinein unterscheidet sich nahezu vollständig von den fremdenfeindlichen Protesten der neunziger Jahre (S. 109).

Diese neue Qualität des Protestes stellt auch die bisherigen Erklärungsmodelle (gestörte Familienverhältnisse, Erziehungsmethoden, soziale Benachteiligung, Vergangenheitsdiskussion) auf den Prüfstand. Ausgehend von der Überprüfung durch das Datenmaterial verwirft Koopmans eine Reihe von Krisenszenarien, auf die als Erklärung für den Anstieg von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in beiden deutschen Teilgesellschaften vorschnell zurückgegriffen wird (wirtschaftliche Krisen, Verunsicherung des Einzelnen, Kriminalitätsrate) (S. 112-115) und die insbesondere in den neuen Bundesländern von vielen Menschen hartnäckig gegenüber vergangenheitskritischen Erklärungsansätzen behauptet werden.

Einzig der Perspektive, die Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit als Reaktion auf eine hohe Zuwanderungsrate begreift, räumt Koopmans einen hohen Erklärungswert ein (S. 118). Entscheidend dafür aber seien vor allem die „Sichtbarkeit dieser Neueinwanderung“ in den neuen Bundesländern und die zu Teilen verantwortungslose Unterscheidung zwischen erwünschten Aussiedlern und nichterwünschten Ausländern in den politischen Debatten der frühen neunziger Jahre (S. 119). Zusammenfassend kommentiert Koopmans das Thema in der vergleichenden Langzeitperspektive wie folgt: „Deutschland hat schon seit Jahrzehnten kein Rechtsextremismus- oder Neofaschismus-Problem mehr – jedenfalls kein besonders großes, auch im Vergleich zu anderen Ländern. Es hat jedoch ein Problem mit der Bewältigung der Tatsache, dass es durch Einwanderung zu einer ethnisch und kulturell heterogenen Nation geworden ist und weiter werden wird“ (S. 125).

Auf eine außerhalb von Gewerkschaftskreisen fast schon vergessene kollektive öffentliche Protestform weist Dieter Rucht in seinem Beitrag über den Wandel der 1.Mai-Feierlichkeiten hin (S. 143-72). Der Rückblick auf die Geschichte dieses Protestrituals seit Ende des 19. Jahrhunderts ermöglicht es Rucht, die allmähliche Trivialisierung und Sinnentleerung dieser ehemals bedeutungsvollen Protestform innerhalb der differenzierten Protestgeschichte der Bundesrepublik verständlich zu machen. Als Beispiele dafür lassen sich nicht nur die austauschbaren Mottogebungen anführen (S. 163) oder der 1.Mai als offizieller Empfang der Gewerkschaftsvertreter durch die bayrische Staatsregierung (S. 170). Ebenso ließ die zwischen 1971 und 1973 aus Angst vor der APO-Konkurrenz veranlasste Verlagerung der offiziellen Maifeiern vom Freien in den Saal jedes Selbstbewusstsein dieser Protestform vermissen (S. 157).

„Von der Platzbesetzung zum Verhandlungstisch?“ ist der Beitrag von Dieter Rucht und Jochen Roose über den Wandel des öffentlichen Protestes von Ökologiebewegungen in der Bundesrepublik überschrieben (S. 173). Darin drückt sich vor allem die Vermutung aus, dass die „wilden Jahre“ des ökologisch motivierten Protestes in den neunziger Jahren vorbei seien und sich vielmehr Tendenzen einer Institutionalisierung bzw. Kooptation der Ökologiebewegung aufzeigen lassen, so dass am Ende von einer „Zähmung“ des Protestes gesprochen werden kann. Diesen Eindruck finden Rucht und Roose in ihrer Untersuchung allerdings nicht bestätigt.

Zwar zeigen sich auf allen Ebenen des Protestes Professionalisierungstendenzen, die vor allem der Verstetigung der Bewegung und der fachlichen Anforderung durch zunehmend spezialisierte Konflikt- und Entscheidungsmaterien geschuldet sind (S. 205). Sie betonen aber auch, dass sich weder auf der Protestereignisebene noch der Ebene der Bewegungsorganisationen und auch nicht im Hinblick auf die Bewegungsführer deutliche Anhaltspunkte für Oligarchisierungsprozesse finden lassen. „Die Ökologiebewegung und insbesondere die Anti-Atomkraft-Bewegung bleibt offensiv in ihren Protesten und dezentral in ihren Strukturen“ (S. 204). Auch die Etablierung des Umweltthemas als wichtigem Aktionsfeld institutionalisierter Politik zwingt die Ökologiebewegung nicht per se dazu, ihren politischen Bewegungscharakter preiszugeben (S. 205).

Wenn es Protest gibt, sind Studenten immer dabei. So resümiert Peter Hocke in seinem Beitrag über Studentenproteste und bundesdeutsche Mittelstädte eine weit verbreitete Ansicht. Demgegenüber stehe eine detaillierte Prüfung der Studenten als gesellschaftlichem Unruhefaktor noch aus (S. 211). Bezüglich der These, dass Universitätsstädte zentral für die Protestgeschichte und –dynamik der alten Bundesrepublik waren, verdeutlicht der von ihm auf der Grundlage der Prodat-Materialien vorgenommene Vergleich von Universitätsstädten mittlerer Größe mit gleichgroßen Städten ohne Uni, dass dies nur eingeschränkt gilt. Neben den unbestrittenen Protesthochburgen Frankfurt a.M. und Westberlin zeigt sich dabei vor allem die Bedeutung von Landeshauptstädten für die Ausbildung von Protestmilieus (S. 235).

Für die Überschätzung der Universitätsstädte sprechen nach Hocke die geringe Anzahl von Protesten zu studentischen Anliegen und die geringen Anteile studentischer Trägerschaft an den übrigen Protesten - eine Einschätzung, die manch einen studentischen Aktiven überraschen wird, die von Hocke aber überzeugend nachgewiesen werden kann (S. 236).

Susann Burchardt setzt sich in ihrem vergleichend angelegten Beitrag mit dem Protestverhalten in Ost- und Westdeutschland zwischen 1990 und 1994 auseinander, vor allem mit dem bisher vermittelten Bild, dass sich das ostdeutsche Protestverhalten wenige Jahre nach der Vereinigung an das westdeutsche angepasst habe (S. 241 f.). Burchard hält die These dagegen, dass ein genauerer Vergleich der ostdeutschen und westdeutschen Protestkultur auf der Grundlage des Prodat-Materials gravierende Unterschiede hinsichtlich der Akteure, des Inhalts und der Formen des Protestes ergeben könnte (S. 248).

Diese These wird durch die dargestellten Untersuchungen bestätigt: Klammert man das in beiden Teilgesellschaften am häufigsten dargestellte Feld Rechtsextremismus/ Fremdenfeindlichkeit aus, so überwiegen in den neuen Bundesländern die „alten“ gegenüber den „neuen“ Themen in den alten Bundesländern (S. 261). Das lässt sich ohne Frage auf die Krisenphänomene innerhalb der Transformationsgesellschaft Ostdeutschland zurückführen. Ebenso können die Schwankungen hinsichtlich der Protesthäufigkeit und Protestformen von Burchardt durch die unterschiedlichen Protesterfahrungen in der Bundesrepublik und der DDR erklärt werden (S. 246). Die Proteste um das Themenfeld Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit ausschließlich als „Krisenproteste“ zu beschreiben, dürfte allerdings dem Thema nicht gerecht werden (S. 270 – vgl. dazu den Beitrag von Koopmans).

Burchardt führt zu Recht die ausländerfeindlichen Proteste in den alten Bundesländern nach 1990 an, die das Bild der „Wohlstandsproteste“ nachhaltig gefährden, die aber – und darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu Ostdeutschland – eine massive Gegenmobilisierung durch etablierte Netzwerke hervorbrachten (S. 271).

Im abschließenden Beitrag von Christiane Eilders steht noch einmal das Gesamtprojekt der medienbasierten Protestereignisanalyse auf dem Prüfstand. Anhand eines Vergleichs der für das Prodat-Projekt ausgewerteten Tageszeitungen Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung mit der Berichterstattung in der Berliner tageszeitung werden zeitungsübergreifende Selektionskriterien untersucht und die Frage geklärt, welcher Zusatznutzen sich aus der Benutzung mehrerer Zeitungen ergibt (S. 279). Es überrascht nicht, dass teilnehmerstarke und gewalttätige bzw. konfrontative Proteste zeitungsübergreifend Beachtung erfuhren (S. 306). Dagegen zeigen sich auf der Ereignisebene selbst nur geringe Überschneidungen der drei Zeitungen, und dies lässt sich Eilders zufolge auch nicht durch einen eventuellen Regional-Bias erklären (S. 307). Den Mehraufwand, der sich durch die Erweiterung des Untersuchungsmaterials auf mehr als zwei Zeitungen ergibt, sieht Eilders in forschungsökonomischer Perspektive gerechtfertigt, da vor allem auch qualitativ abweichende Proteste erfasst werden (S. 309).

Der vorgestellte Sammelband überzeugt durch seine inhaltliche Kohärenz und den starken Bezug auf das Prodat-Projekt. Für Forschungen zur Protestgeschichte der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschland verfügen wir damit über eine aussagekräftige Darstellung der wichtigsten Protestthemen und –formen, ihres Wandels und ihrer medialen Erfassung. Am Ende bleibt zu wünschen, dass Historikerinnen und Historiker diese sozialwissenschaftliche Vorleistung für ihre eigenen Arbeiten zur Geschichte der Proteste die entsprechende Anerkennung erweisen.

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