D. Weickmann: Kulturgeschichte des Balletts

Titel
Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870)


Autor(en)
Weickmann, Dorion
Reihe
Geschichte und Geschlechter 39
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesa Ziemer, Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst

Als der Choreograf Johann Kresnik mit seinem Tanzensemble zum Ende des letzten Jahres seinen Vertrag an der Berliner Volksbühne auflösen musste, war die Empörung in der Tanz- und Theaterwelt groß. Obwohl das von ihm entwickelte choreografische Theater schon zu seinen Lebzeiten einen Platz in der Tanzgeschichte ergattert hatte, wollten Vertreter der Berliner Kulturpolitik seine Arbeit nicht mehr weiter finanzieren; die Gelder für den Tanz an der Volksbühne wurden ersatzlos gestrichen. Kresnik machte den Körper zum politischen Feld, auf dem sich Macht, Verletzbarkeit oder Geschlechterfragen zeigen konnten. Er selber, der erst Werkzeugschlosser gelernt und danach eine Tanzausbildung absolviert hatte, beendete seine Solotanzkarriere, weil er die Gleichförmigkeit der makellos, perfekt (über-) trainierten Körper in den Ballettensembles nicht ertragen konnte. Vielmehr waren es widersprüchliche Biografien, wie die von Paulo Pasolini, Francis Bacon oder Frida Kahlo, die er in schmerzhaft explodierenden Bildern auf die Bühne brachte. Es war das Asymmetrische, das Kranke, das Unperfekte, oft der Schmerz und das Leiden, das ihn zu seinen theatralen Phantasien animierte.

Auch die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Dorion Weickmann schreibt in ihrem zweiten Buch 1 eine Geschichte über Körper. Mit ihrer Kulturgeschichte des Balletts legt sie eine umfassende und gut zu lesende Recherche über die Disziplinierung des Körpers in der Ballett- und Tanzwelt zwischen 1580 und 1870 vor. Die Genese des Balletts entwickelt sie in drei Teilen: Analysiert wird der Tanz als Sprache, als professionelle Kunstsparte und schließlich als geschlechtertypologische Ausdrucksform. Methodisch rekurriert die Autorin unverkennbar auf Foucault und Elias. Es ist ihre These, dass die körperliche Disziplinierung im Tanz als zivilisationsgeschichtlicher Prozess verstanden werden kann. Entsprechend wird hier eine Ästhetik des Tanzes geschrieben, in der die Kunst im Kontext von sozialen Bedingungen, vom soziokulturellen Umfeld her, bedacht wird. Die Autorin greift dabei auf heterogene Materialien zurück: Es sind Liebesbriefe, die anonyme Verehrer aus dem Publikum an die wohl erfolgreichste romantische Ballerina Marie Taglioni richteten, theoretische Abhandlungen über die „Choréographie“, wie Raoul Auger Feuillet sie erdachte, Zeitungsartikel, biografische Angaben oder ästhetische Überlegungen zu Anatomie und Anstand, in denen der englische Tanzmeister John Weaver den Frauen empfiehlt, ihre natürlichen Anlagen – und diese seien Schönheit und Anmut – zu vollenden. Wie die Männer sich in Grazie üben könnten, so sollten die Frauen sich en passent die Regeln der Konversation erwerben und somit ihre intellektuellen Mängel kaschieren.

Frankreich stieg ab Mitte des 17. Jahrhunderts mit der danse d’école zur Metropole des Tanzes auf. Der Ursprung und die Entwicklung des klassischen französischen Balletts illustrieren stellvertretend die Geschichte eines gesellschaftlichen Prozesses. Das Ballett diente der Züchtigung des Körpers, der sich als harmonische Gestalt in symmetrischen Ordnungen zu bewegen hatte. Jenseits von Affekten, Leidenschaften oder Trieben wurde die Physis kodifiziert und stellte sich als Präzisionsinstrument in den Dienst des Staates. So sollte sich der Schwerpunkt einer Tänzerin dank zunehmender Körperbeherrschung in die Höhe verlagern, damit sie sich virtuos emporschrauben konnte zu den göttlichen Phantasien des Herrschers. Tanzende Untertanen ordneten ihre Körper zu Buchstaben auf der Bühne und stellten damit den Namen des Souveräns dar, oder sie bildeten visuelle Figuren, versehen mit regierungstreuen Botschaften. Der Tanz war keine Manifestation von individueller Expressivität, sondern diente der physischen Verkörperung und Stabilisierung des autokratischen französischen Staatssystems.

Dorion Weickmann bleibt nicht im kunstimmanenten Diskurs gefangen, sondern sie zeigt, wie politische Umstände ästhetische Auffassungen vom Körper prägten. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts waren Gesellschafts- und Bühnentänze so eng miteinander verflochten, dass nicht nur die perfekte Form des Körper trainiert und kontrolliert, sondern auch die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern eingeübt werden konnten. Das romantische Ballett brachte prominente und ausgiebig bejubelte Frauenrollen hervor; Solistinnen wie Fanny Elssler oder Jules Perrot erfüllten tanzend die Phantasien der Männer, von denen sie fast ausschließlich trainiert wurden 2. Weil im Ausbildungsplan der Pariser Oper keine Allgemeinbildung enthalten war, verdienten sich viele Tänzerinnen ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Aristokraten „protegierten“ ihre Tänzerinnen, machten sie abhängig und das Sozialprestige des Berufes sank. Die Tänzerinnen wurden zu stilisierten Kunstprodukten, die einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen mussten und deren Körper keine Abweichungen, Dysfunktionen oder Alterserscheinungen aufweisen durften. Die bipolare Konstruktion des Geschlechtes mit ihren klaren Zuordnungen wurde durch stereotype ästhetische Darstellungen repräsentiert und immer wieder reproduziert.

Neben dem französischen ist es vor allem das russische Ballett, welches sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker profilierte. Prominentestes Beispiel ist der Tänzer und Choreograph Vaclav Nijinsky, der für die Männer die Tanzbühne zurückeroberte. Von seinem Liebhaber Serge Diaghilev protegiert, gelang ihm mit „L’après-midi d’un faune“ (1912) auch in Paris der Durchbruch. Er begeisterte und empörte das Publikum gleichzeitig, weil er die strenge Technik des Balletts mit Gefühlen wie Leidenschaft, Sexualität und Tod mischte. Sein androgyner Tanz fasziniert noch heute viele Tanzschaffende. Vielleicht, weil er die gängigen Geschlechtertypologien aufbrach oder wegen seiner archaischen Darstellungsfähigkeit oder weil er gespalten schien in seinen Verhältnissen zu den Tanzlehrern, Liebhabern und zu seiner Ehefrau oder weil er später dem Wahnsinn verfiel? Anhand von Nijinskys widersprüchlicher Biografie wäre es möglich gewesen, den manchmal etwas zu evidenten Zugriff auf das Thema aufzubrechen. Das Paradoxe oder Unverständliche an seiner Bühnenpräsenz, die unglaubliche Wirkung seines Körpers, sein besonderes Verhältnis zur Musik von Debussy oder Stravinsky könnten auch zeigen, dass Kunst nicht immer ein linearer Ausdruck von Gesellschaft ist, sondern manchmal auch quer zu dieser verläuft. Gab es keine Abweichungen von der Norm? Der Text formt den Tanz zu einer künstlerischen Ausdrucksform, die in jedem Fall etwas klar zu Benennendes repräsentierte. An einigen Stellen hätte ein bisschen mehr Mut zur Interpretation, zur Eröffnung von Geheimnissen oder auch ein Bekenntnis zum Nicht-Verstehen einer Quelle, den Ton der Forschung heiterer gemacht. Oder glauben wir ernsthaft, dass sich die ungeheure Wirkung des brasilianischen Tänzers Ismael Ivo in den Inszenierungen von Kresnik historisch vollkommen plausibel einordnen ließe?

Im etwas knapp geratenen Ausklang verbindet die Autorin ihre historischen Erkenntnisse mit einigen Aspekten aktueller Debatten in der zeitgenössischen Tanzszene. Soziologische und medizinische Studien belegen, dass auch heute noch viele Tänzer und Tänzerinnen unter massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen das Publikum unterhalten. Eine Balletttänzerin des britischen Royal Ballet bringt es auf den Punkt: „Man lehrt Dich, Deine Kreativität, Deinen Intellekt und Deine Sexualität zu verleugnen, um in ein exaktes, vorgefertigtes Bild zu passen.“ Was wir sehen sind „[...] Reihen von Frauen mit identischen Körpern und Ausdruckformen, die als Schwäne, Nymphen und Geister in perfekter Harmonie tanzen.“ (S. 364) In wohl kaum einer Kunstsparte ist die gleichförmige Dressur der Körper so offensichtlich wie im Ballett. Umso mehr erstaunt es, dass sich diese Kunstform bis heute gehalten hat. Hier wären einige weiterführende Überlegungen zum zeitgenössischen Tanz interessant gewesen. Wie dressieren experimentelle Choreografinnen ihre Tänzer und Tänzerinnen? Unter welchen Arbeitsbedingungen trainieren so genannte freie Gruppen heute?

Wenn in den letzten Jahren Geld in Opern oder Theatern eingespart werden musste, dann stand der Tanz als erstes zur Disposition. Auch Kresnik musste mit seinem Ensemble die Berliner Volksbühne verlassen. Wenn man diesen Vorfall im Kontext der historischen Entwicklung, so wie Dorion Weickmann sie beschreibt, liest, dann bekommt sein Abgang eine besonders Brisanz. Auch er dressierte die (Frauen-)Körper, aber er tat es anders: Er versuchte nie das Schöne, das Gesunde, die harmonische Form zu repräsentieren. In seinen Choreografien tummelten sich die Individuen mit ihren Biografien, die aus Schmerz, Machtverlust oder körperlicher Versehrtheit ihre visuelle Strahlkraft gewannen. So gesehen bekommt das Historische des Buches plötzlich etwas sehr Gegenwärtiges.

Anmerkungen
1 Angaben zur ersten Publikation: Dorion Weickmann. Rebellion der Sinne. Hysterie – ein Krankheitsbild als Spiegel der Geschlechterordnung (1880-1920), Frankfurt 1997.
2 Auch in interkulturellen Debatten wird die Gender-Organisation des Tanzes immer wieder diskutiert. Siehe hierzu z.B. Bose, Mandakranta. Wem gehört der klassische indische Tanz? Die Frage nach den Besitzverhältnissen und die Aufführung auf der globalen Bühne?, in: Huber, Jörg (Hg.): Interventionen, Band 11., Wien 2002. S. 109-128.

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