Cover
Titel
The Identity of England.


Autor(en)
Colls, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
£ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Langenargen

Der Begriff der Identität erfüllt oft die Funktion eines hermeneutischen Resteverwerters. Er scheint all das zu erklären, was unterm Strich übrig bleibt, wenn das gesamte Instrumentarium empirischer Sozialwissenschaft in Anschlag gebracht, aber nicht jede ursprünglich gestellte Frage hinreichend beantwortet wurde. Historische Sonderwege, sprunghafte Entwicklungsschübe und das Abweichen von einer postulierten Normalgenese versperren nicht länger den Blick aufs große Ganze, wenn sie als Ausfluss einer spezifischen Identität verständlich werden. Chancen und Risiken sind bei diesem Verfahren gleichmäßig verteilt. Einerseits verzichtet man auf eine zwanghafte reductio ad concretum, die darauf brennt, von einem Archimedischen Punkt aus sämtliche Verästelung eines komplexen Entwicklungspfades erklären zu wollen (etwa das Missgeschick des Kaiserreichs aus dem politischen Unvermögen des deutschen Bürgertums). Andererseits läuft man Gefahr, Identität mit stereotyper Folklore zu verwechseln und sie so zu einer reinen Verlegenheitslösung degenerieren zu lassen. Letzteres stößt häufig der britischen Geschichte zu. Sie eignet sich offenbar besonders gut für eine Historiographie mit Augenzwinkern, bei der die ironischen Kabinettstückchen auf Kosten der ernsthaften Analyse gehen.

Robert Colls hingegen versteht Identität nicht etwa als bloße Residualkategorie, sondern gruppiert vielmehr die einzelnen realhistorischen Schichten um sie herum. Er glaubt an eine tiefgreifende Zerrüttung der englischen Nationalidentität in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Beginnend mit der Etablierung erster Komponenten einer rule of law in angelsächsischer Zeit spannt Colls einen weiten Bogen bis zur Gegenwart und analysiert die Aus- und Umformungen, welche die englische Identität seit dem Mittelalter geprägt haben. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und ideengeschichtliche Strömungen erhoben je eigene Ansprüche auf die Gestalt dessen, was es im Kern ausmachte, englisch zu sein. Colls nimmt mit besonderer Verve die Spur der sich im späten 19. Jahrhundert rapide beschleunigenden Transformationsprozesse auf und wählt als Fluchtpunkt seiner eklektizistischen Darstellung die Auflösungstendenzen, mit denen sich die Identität Englands nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sah. Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf eine umfangreiche Sekundärliteratur, die im weitesten Sinne Facetten der englischen Identität traktiert, lässt aber auch zeitgenössische Autoren zu Wort kommen. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte stehen neben dem anthropologischen Zugriff auf die Popularkultur, die hohe Politik kommt ebenso zu ihrem Recht wie deren Reflexion im Prisma der Belletristik.

Colls muss zunächst konzedieren, dass die britische Union selten frei war von Anfechtungen, zumal die keltischen Bundesgenossen ein latentes Unbehagen ob der Dominanz Südostbritanniens nie abstreifen konnten. Doch England schwelgte stets in einer auf Außenstehende beinahe skurril wirkenden Selbstgewissheit, die in der Finest Hour von 1940 zu ihrer Apotheose gelangte, nach Kriegsende freilich auf eine abschüssige Bahn geriet. Colls skizziert zunächst die Entwicklung seit dem Mittelalter, insbesondere die enge Verknüpfung von Rechtssicherheit und Nationalidentität und die im 19. Jahrhundert kulminierende Glorifizierung des „English way“ als den eines kontinuierlichen, bruchlosen Verfassungswandels. Eklatante Widersprüche auf diesem geschmeidigen Weg durch die Geschichte blieben selbst wohlmeinenden Beobachtern nicht verborgen, wurden jedoch elegant aus der Problemzone nationaler Identität hinausexpediert: entweder, indem man sie nach Übersee auslagerte und so in sicherer Entfernung von der innenpolitischen Arena isolierte, oder durch den geflissentlichen Verweis auf die sprichwörtliche englische Exzentrik. Als die Soziale Frage indes nicht nur zu einer Verwahrlosung der Städte führte, sondern auch eine spirituelle Krise heraufbeschwor, intensivierte sich unversehens die Suche nach der „Angleterre profonde“. Das gesteigerte Interesse an topographischen Eigenheiten, die Stilisierung des Landes zur formvollendeten Landschaft, die Kultivierung des Inselgedankens sowie die Herrichtung prächtiger aristokratischer Stammsitze zeugen von dem Wunsch, den Fliehkräften der Industrialisierung die Vision einer im Innersten unbeugsamen, nicht einem nackten Individualismus huldigenden Nation entgegenzusetzen. Die Mittelschicht entdeckte nun die Vorzüge einer bislang verabscheuten Volkskultur, die zur Stabilisierung des nationalen Selbstbildes mit Respektabilität ausgestattet und in den Kreis der bewahrenswerten Traditionen kooptiert wurde. Volkstanz und Dorfhandwerk, Puddings und Gartenarbeit avancierten zum Unterpfand genuin englischer Lebensart, die wie ein basso continuo die verschiedensten Kakophonien der Moderne hinter sich lässt, einen unverwechselbaren Grundton anstimmt, der selbst das schrillste Stimmengewirr dominiert. Premierminister Baldwin brachte in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts dieses Genre einer der Selbstvergewisserung dienenden Introspektion zu einer Hochblüte.

Nach 1945 begannen die Dinge freilich aus dem Ruder zu laufen. Als koloniale Begegnungen plötzlich zu Hause stattfanden, erkannten viele ihr England nicht wieder. Wie Colls plastisch darlegt, musste die Immigration, die bald nach Kriegsende aus der Karibik und vom indischen Subkontinent in Richtung Mutterland einsetzte, die alte „invader thesis“ (S. 138) beinahe unvermeidlich mit neuer Brisanz ausstatten. Das Empire hatte nie tief im Bewusstsein der breiten Masse gewurzelt, die Kenntnisse darüber waren bestenfalls diffus, lediglich eine nach Hautfarbe gestaffelte Hierarchie dürfte sich gewisser Sympathien erfreut haben. 1 Ausgerechnet diese kam aber nun auf den Prüfstand, als britische Bürger aus Übersee ihr Geburtsrecht reklamierten und in der Metropole der Imperialnation die in ihrer Heimat unabgegoltenen Verheißungen einfordern wollten. Verschärft wurde die englische Identitätskrise durch den industriellen Niedergang, der in vielen Regionen grassierte und dazu führte, dass Anfang der siebziger Jahre nicht weniger als die Hälfte aller Engländer in speziellen Entwicklungszonen lebte, die mit Hilfe von Subventionsprogrammen eine Zukunft jenseits der maroden Pionierindustriezweige finden sollten. Doch nicht nur hatten die Leitungsgremien der unter Premierminister Attlee verstaatlichten Unternehmen in Zeiten des Arbeitskräftemangels dafür gesorgt, dass eine den seit den zwanziger Jahren absehbaren Strukturwandel flankierende Diversifizierung ausblieb. Die kalte Logik einer Talente wie Investitionen gleichermaßen magnetisch anziehenden Hauptstadt trieb ebenfalls einen Keil zwischen die einzelnen Regionen Englands und befeuerte zudem die nationalen Bewegungen im Celtic Fringe. 1998 musste der Gouverneur der Bank von England eingestehen, dass die Arbeitslosigkeit, die aus dem industriellen Kahlschlag im Norden resultierte, der Preis sei, den man für die niedrige Inflation im Finanzdorado des Südens bezahle.

Die Auswege, die Colls aus dem Identitätsdilemma sieht, sind vage: weniger Monarchie, mehr Multikulturalismus, weniger Geschichtsvergessenheit, aber auch mehr Zukunftsvisionen. Gerade sein Lob für die englische Offenheit gegenüber anderen Kulturen kollidiert mit den luziden Einlassungen zur Immigrationsproblematik und zum krassen Desinteresse an Britanniens imperialer Mission. Nach den von der Regierung Blair initiierten Devolutionsschritten scheint der partikularistische Furor der keltischen Nationen fürs Erste gestillt zu sein. Deshalb schwächt sich das provokative Moment einer möglicherweise zerfallenden Union und mithin ein Anlass für die Neubesinnung Englands merklich ab. Außerdem wirken alte Mechanismen der Identitätsstabilisierung unvermindert fort. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundene Abgrenzung gegen Kontinentaleuropa akzentuieren weiterhin das englische Wir-Gefühl in Fußballstadien ebenso wie in den Zeitungskolumnen der „chattering classes“. Nichts deutet darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. So gelingt es Colls zwar, die Komponenten der englischen Identität dem Zugriff bloß karikierender Stereotypie zu entwinden. Doch die Schlussfolgerungen aus den im übrigen bisweilen unzusammenhängend präsentierten Entwicklungslinien bleiben oft fragwürdig. 2

Anmerkungen:
1 Als der britische Außenminister Straw in einem Interview unlängst Großbritanniens koloniale Vergangenheit mitverantwortlich machte für die Existenz zahlreicher Krisenherde im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika, taugte dies nicht einmal zu einem Sturm im Wasserglas. Von Seiten der konservativen Opposition verlautete lediglich, man solle Potentaten vom Schlage eines Robert Mugabe nicht ohne Not in die Hände spielen. Vgl. New Statesman vom 18.11.2002.
2 Bestechend hingegen Richard Weight, Patriots. National Identity in Britain 1940-2000, London 2002.

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