E. Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923)

Titel
Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923).


Autor(en)
Troeltsch, Ernst
Herausgeber
Hübinger, Gangolf; Mikuteit, Johannes
Reihe
Kritische Gesamtausgabe 15
Erschienen
Berlin 2002: de Gruyter
Anzahl Seiten
658 S.
Preis
€ 198,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit den „Schriften zur Politik und Kulturphilosophie“ aus den Jahren 1918 bis 1923 liegt nunmehr der dritte Band der auf insgesamt 21 Bände angelegten kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs vor. Nachdem in den letzten Jahren Trutz Rendtorff und Stefan Pautler Troeltschs wichtige Schriften über die „Absolutheit des Christentums“ und die „Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ vorgelegt haben 1, sind jetzt auch die späten kultur- bis allgemeinpolitischen Texte des Theologen, Religionshistorikers und Philosophen in historisch-kritischer Edition greifbar. Die reich annotierte und kompetent kommentierte Ausgabe belegt, welche bedeutende Rolle Ernst Troeltsch für die intellektuelle Gründung der Weimarer Republik gespielt hat.

Der Heidelberger Gelehrte, der eine Zeitlang zusammen mit Max Weber in dessen Haus an der Ziegelhäuser Landstraße gewohnt hatte, war zum Frühjahr 1915 an die Berliner Philosophische Fakultät auf einen eigens für ihn zugeschnittenen Lehrstuhl für „Religions-, Sozial- und Geschichts-Philosophie und die christliche Religionsgeschichte“ berufen worden. Schnell kam er mit den liberal-konservativen Kreisen um Hans Delbrück und Friedrich Meinecke in Kontakt. Noch im selben Jahr sprach er sich gegen die annexionistischen Kriegszielforderungen seines Fakultätskollegen Reinhold Seeberg aus, dessen Eingabe immerhin über dreihundert Hochschullehrer gefolgt waren. Als sich Alldeutsche und Siegfriedenspropagandisten 1917 zur „Deutschen Vaterlandspartei“ zusammenschlossen, stellte sich Troeltsch an die Spitze des vor allem von den Gewerkschaften organisatorisch getragenen „Volksbundes für Freiheit und Vaterland“, der für innenpolitische Reformen und einen Verständigungsfrieden eintrat. Im Winter 1918/1919 trat Troeltsch schließlich der kurz zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Partei bei und zog für diese in die Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung.

Troeltschs Ausflug in die aktive Politik - von März 1919 bis Juni 1920 bekleidete er das Amt des Parlamentarischen Unterstaatssekretärs im preußischen Kultusministerium - blieb trotz allem jedoch nur eine Episode. Seine eigentlichen Wirkungsfelder blieben weiterhin der Katheder und die Publizistik. Kurz vor seinem Tod erschien im Herbst 1922 in zwei Lieferungen sein spätes Hauptwerk: „Der Historismus und seine Probleme“ - ein Buch, das erst in jüngster Zeit, vor allem durch die Arbeiten Otto Gerhard Oexles 2, in seiner Bedeutung für eine kulturwissenschaftliche Erneuerung der Geschichtswissenschaft erkannt wurde. Denn „Historismus“ war für Troeltsch - anders als für Meinecke - weniger eine vom Untergang bedrohte geistesgeschichtliche Epoche als vielmehr eine fundamentale Modernitätserfahrung: „die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“ (S. 437), die den Menschen beständig der Gefahr von Relativismus und Orientierungslosigkeit im Angesicht der historisch erfahrbaren „Anarchie der Werte“ (S. 448) aussetze, wie Troeltsch 1922 in seinem berühmten und im vorliegenden Band wiederveröffentlichten Aufsatz über die „Krisis des Historismus“ geschrieben hat.

Die von Gangolf Hübinger und Johannes Mikuteit vorbildlich edierten Texte kreisen um die beiden Pole des intellektuellen Engagements Troeltschs in dessen letzten Lebensjahren: den Einsatz für die Stärkung der „sozialen Demokratie“ (S. 219), die er - ohne ein „eigentlicher Demokrat“ zu sein (S. 257) - als „praktische Notwendigkeit“ (S. 218) empfand und das Ringen um eine neue historische Kultur in Deutschland, die mit der „Krisis des Historismus“ zugleich die in den Kriegsjahren so häufig bemühte Gegenüberstellung von ‚Deutschem Geist und Westeuropa‘ zugunsten einer europäischen „Kultursynthese“ (S. 454) überwinden sollte. Neben Wahlaufrufen und tagespolitischen Kommentaren, ob sie nun in Ferdinand Avenarius’ „Kunstwart“ oder in der „Königsberger-Hartungschen Zeitung“ erschienen waren, enthält der Band Troeltschs wirkungsgeschichtlich einflussreiche Texte über „Deutsche Bildung“, „Die Zufälligkeiten der Geschichtswahrheiten“ sowie über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ - Troeltschs berühmten Vortrag von 1922, den Gangolf Hübinger in seiner Einleitung zu Recht Carl Schmitts „Geistigen Grundlagen des heutigen Parlamentarismus“ von 1923 gegenüberstellt.

Während Schmitt „mit einer dezisionistischen Theorie des Parlamentarismus der Weimarer Republik den ‚Todesstoß‘ zugedacht“ hatte, habe Troeltsch ihr eine geistesgeschichtliche Fundierung geben wollen: „Die Rückkehr zur ‚gemeineuropäischen Naturrechtstradition‘, die im 19. Jahrhundert zerfallen sei, könne, so ist Troeltschs Position gegen die Schmitts gestellt worden, dem republikanischen Deutschland die nötige Stabilität verleihen.“ (S. 30)

Hübinger schildert Troeltsch als einen engagierten Denker, der zwischen der ehrwürdigen Rolle des „Gelehrtenpolitikers“ in der Tradition der liberalen „Paulskirchenprofessoren“ und dem modernen, seit der Dreyfus-Affäre bekannten Typus des „Intellektuellen“ changiere. Trotz aller Aufrufe zur „Wahlpflicht des Intellektuellen“ (S. 423ff.) und seiner Bekenntnisse zur Demokratie (S. 374ff.) blieb er im Grunde seines Herzens jedoch immer ein Geistesaristokrat: Denn jede Demokratie, so Troeltsch, bedarf „der Führer und Herrscher, der Vordenker und Erzieher, der kulturellen und politischen Talente“ (S. 276), von denen Troeltsch das erwartet, was die „public opinion“ - wie Troeltsch vor einer Gruppe englischer Studenten im Frühjahr 1922 ausführt - nicht mehr zu leisten vermag: die geistig-kulturelle Synthese von Vergangenheit und Gegenwart, die dem neuen Gemeinwesen einzig und allein Zustimmung und Legitimität vermitteln kann. Darin liegt für Troeltsch die Idee einer „konservativen Demokratie“ (S. 224), die aus der Tradition heraus „Verbindungslinien zu einer geistig-ethischen Auffassung der Demokratie“ schaffen soll. (S. 222)

Troeltsch war, wie Hübinger schreibt, der Repräsentant eines „Gebildeten-Republikanismus“ (S. 25), der die Gelehrten und die akademische Jugend für den Aufbau des neuen Staatswesens bewusst in die Pflicht nehmen wollte. Als Troeltsch am 1. Februar 1923 plötzlich und unerwartet verstarb, galt er als einer der bedeutendsten Gelehrten der Weimarer Republik, wie nunmehr in einem Band mit Nachrufen auf Ernst Troeltsch in beeindruckender Fülle nachgelesen werden kann 3. Weder Max Weber noch Konrad Röntgen, der kurze Zeit nach Troeltsch starb, erhielten ähnlich viele Würdigungen in der deutschen und ausländischen Presse. Das Bild, das die Nachrufe zeichnen, gewinnt durch den von Gangolf Hübinger und Johannes Mikuteit vorgelegten Band an Farbe und Plastizität. Er zeigt das enge Ineinander von politischer Reflexion und intellektuellem Schaffen, von Tagespolitik und weit ausholender geistesgeschichtlicher Geste im Denken Troeltschs. Was die bisherigen Ausgaben - vor allem die wirkungsgeschichtlich so bedeutsamen von Hans Baron 4 - fein säuberlich aufgetrennt haben, erscheint hier zusammen.

So ist die Entscheidung der Herausgeber zu begrüßen, die von Baron besorgte Textsammlung „Deutscher Geist und Westeuropa“ zugunsten der chronologischen Ordnung aufzulösen, auch wenn die Texte von vor 1918 damit aus dem vorliegenden Band herausfallen. Die - ebenfalls von Baron edierte - Sammlung von Troeltschs „Spektator-Briefen“ aus den Jahren 1919-1920 wurde hingegen in den vorliegenden Band nicht mit aufgenommen, sondern einer separaten Veröffentlichung in Band 14 der „Kritischen Gesamtausgabe“ vorbehalten. So wird man noch einige Zeit warten müssen, bis der ganze späte Troeltsch in seinen Texten greifbar wird. Doch auch so ist der vorliegende Band schon dick genug ausgefallen, was nicht zuletzt an den akribisch recherchierten editorischen Berichten liegt, die den einzelnen Texten beigefügt sind. Weit mehr als bloße Rekonstruktionen der Textgenese lesen sie sich teilweise wie Bausteine zu einer künftigen Troeltsch-Biografie und erschließen zusammen mit den Kommentaren zukünftigen Troeltsch-Interpreten ein reichhaltiges Material, das diese dankbar aufgreifen werden.

Anmerkungen:
1 Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin 1998; ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), hg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin 2002.
2 Otto Gerhard Oexle: Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996; ders.: Troeltschs Dilemma, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs ‚Historismus‘ (Troeltsch-Studien, Bd. 11), Gütersloh 2000, S. 23-64.
3 Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees (Troeltsch-Studien, Bd. 12), Gütersloh 2002.
4 Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik, 1918-1922. Mit einem Geleitwort von Friedrich Meinecke, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1924; ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1925; ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften, Bd. 4), hg. v. Hans Baron, Tübingen 1925.

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