N. Karafyllis u.a. (Hgg.): Zugänge zur Rationalität der Zukunft

Titel
Zugänge zur Rationalität der Zukunft.


Herausgeber
Karafyllis, Nicole; Schmidt, Jan
Erschienen
Stuttgart 2002: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Böschen, Institut für Soziologie, Universität Augsburg

Spannungsfelder wissenschaftlicher Rationalität und die Frage nach der Zukunft der Moderne

Das Buch verfolgt eine ambitionierte Fragestellung, die durch eine unauflösliche Spannung provoziert wird: zwischen der Würdigung der Pluralität von Rationalitäten einerseits und der Suche nach ihrer Einheit andererseits. Es war das große Projekt der modernen Wissenschaft, eine Form der Rationalität zu entwerfen, welche in der Lage war, Wissen vom bloßen Meinen und Für-Wahr-halten abzutrennen und es als objektives Wissen zu verbürgen. Erkenntnistheoretisch war dieses Projekt allerdings immer auch umstritten, doch die Erfolge bei der Umsetzung wissenschaftlichen Wissens in technische Innovationen ließen bis in die 1960er Jahre die Wissenschaft als Garanten für einen wachsenden sozialen Fortschritt erscheinen. Die Zeiten haben sich allerdings geändert. Der gesellschaftliche Konsens einer Gleichsetzung von wissenschaftlichem und sozialem Fortschritt ist einem Dissens über die Angemessenheit unterschiedlicher Wege wissenschaftlich-technischer Zivilisation gewichen. Mit seismographischem Gespür haben schon in den 1980er Jahren zum einen Richard Rorty (v.a. 1987), zum anderen Jean-François Lyotard (1986) bestimmte Prämissen wissenschaftlicher Rationalität zum Fragwürdigsten gemacht. Nach Rorty dürfen wir keine letzten Gewissheiten mehr erwarten, allenfalls eine bestmögliche, kritische Prüfung von Aussagen. Lyotard verweist darauf, dass wissenschaftliche Rationalität sich nicht aus sich selbst begründen kann, sondern legitimierender Erzählungen bedarf, von denen die Aufklärung die bisher Folgenreichste war. Somit scheint nach dem Ende der großen Erzählungen ein Rationalitätsstreit auf, zumal etablierte Angebote nicht recht befriedigen: Zwar scheint der starke Rationalitätsanspruch von Jürgen Habermas nicht mehr zu halten, jedoch sollte dies nicht dazu führen, den Begriff der Rationalität, wie bei einigen systemtheoretisch inspirierten Autoren, aufzugeben. Deshalb muss es um eine Debatte über Formen und Voraussetzungen von Rationalität gehen, damit sie in einem humanen Sinne wirksam werden kann. Nachdem das Projekt der Moderne zutiefst eines der Rationalisierung ist, bedeutet eine solche Debatte in letzter Konsequenz einen Streit um unterschiedliche Formen von Modernisierung.

Trotz der vielfältigen Spannungen des Rationalitätsbegriffs zielt das Buch jenseits einer "vordergründigen Relativierung" (Karafyllis; Schmidt 2002b, S. 13) auf eine programmatische Konzeption von Rationalität: "Rationalität ist weder Einheit noch Vielheit. Vielmehr ist Rationalität kontextuell und perspektivisch im Zugang, aber individuell verbindlich in Genese, Geltung und Anwendung" (ebd.). Konsequenterweise streben die Autoren eine relative Öffnung der Wissenschaft an, die bisher als alleinige "Hüterin der Rationalität" (ebd., S. 22) fungierte und andere Wissensformen dem Generalverdacht der Irrationalität anheimgeben konnte. Entsprechend haben Karafyllis und Schmidt keine Abkehr von Rationalität überhaupt im Visier, sondern eine "tiefere Differenzierung von Rationalität im Hinblick auf den Anspruch des Menschseins, in Gesellschaft und in Wissenschaft" (ebd., S. 23). Damit kommt jener Blickwinkel in die Wissenschaft hinein, für den sie in ihrer neuzeitlichen Variante programmatisch blind ist: der Normative (vgl. Lepenies 1997). Das Buch versucht dabei die Pluralität von Rationalität in den unterschiedlichsten Perspektiven zu entwickeln, wobei im Folgenden aus der Vielzahl der interessanten Beiträge allein diejenigen herausgegriffen werden, die für die Konturierung eines "Modernisierungsstreits" besonders interessant erscheinen.

1. Vom Wandel wissenschaftlicher Rationalität

Dieser Wandel lässt sich an der prominentesten wissenschaftlichen Disziplin, der Physik, demonstrieren. In der Studie von Jan C. Schmidt "Komplexität und Kontextualität. Ein physikalischer Zugang zur Rationalität" (Schmidt 2002) wird der Versuch unternommen, Veränderungen in den Rationalitätskonzeptionen dieser Wissenschaft aufzuzeigen. Zunächst präpariert Schmidt anhand der klassisch-modernen Physik, welche die klassische Physik wie die modernen Theorien der Quantenmechanik und Relativitätstheorie umfasst, die verschiedenen Rationalitätsaspekte heraus. Im einzelnen: 1) Erklärungsrationalität (Bedeutung von Theorienstrukturen und Propositionssystemen). 2) Entwicklungsrationalität (Aussagen über die zeitvariante Theoriendynamik und Evolution von wissenschaftlichen Theorien etc.). 3) Experimentierrationalität (Besonderheit empiriebezogenen Handelns im Experiment). 4) Strebensrationalität (anthropologische Kennzeichnung, die sich im Streben des Menschen nach Erkenntnis äußert, z.B. "im Streben nach einer fundamentalen vereinheitlichten Theorie." (ebd., S. 147, Herv. im Original). 5) Naturrationalität (bezieht sich auf die platonische Einsicht, dass Rationalität nicht allein auf epistemischer, sondern ebenso auf ontologischer Ebene liege). 6) Technologierationalität (Betonung des Stellenwerts der Technik in den Naturwissenschaften). Die "nachmoderne Physik" problematisiert, ergänzt und erweitert nun das klassisch-moderne Verständnis der Physik. 1 Denn die unter ihrem Dach sich findenden Theorien "problematisieren Aspekte des Wissenschaftsverständnisses der klassisch-modernen Physik hinsichtlich impliziter Annahmen wie Reproduzierbarkeit, Mathematisierbarkeit, Berechenbarkeit, Testbarkeit," um gleich hinzuzufügen: "Mit der Modifikation im Wissenschaftsverständnis einher gehen Problematisierungen der sechs Rationalitätstypen, jedoch ohne diese zu eliminieren oder deren Pluralität aufzuheben" (ebd., S. 150f.). In diesen Problematisierungen zeigen sich auch schon die Erweiterungen zu einem Rationalitätsverständnis, das Schmidt mit den beiden Begriffen der Komplexität und Kontextualität umgreift. Die Erklärungsrationalität wird dadurch problematisiert, dass die mathematische Berechenbarkeit in vielen Fällen nicht gegeben ist. Zudem kommen durch die Wahl von Komplexitätskenngrößen Ziele und Zwecke in die Beschreibung hinein. Des Weiteren ist offenkundig, dass sich die nachmoderne Physik keinem prominenten entwicklungsrationalen Modell fügt. Sie umfasst zunehmend andere Bereiche und lässt sich als eine "interdisziplinär ausgerichtete Struktur- und Methodenwissenschaft charakterisieren" (ebd., S. 152). Sie kann sich deswegen auf die unterschiedlichsten Phänomengruppen beziehen, sei es aus der Medizin, Biologie, Ökologie oder gar den Sozialwissenschaften. Neben dieser Sensibilität für normative Momente erwächst mit der "strukturwissenschaftlichen Erweiterung" (ebd., S. 164) der Physik eine Offenheit für die Unterscheidung wünschbarer Zukünfte.

Einen besonderen Fokus entwickelt der Aufsatz von Albert Schirrmeister (2002), der sich der Frage nach dem Status von Träumen bei der Konstitution neuzeitlicher Rationalität zuwendet. Es ist auffallend, dass sich drei so bedeutende Philosophen wie Montaigne, Descartes und Pascal mit der Frage nach dem "Verhältnis von geträumtem und im Wachen erworbenem Wissen" (Schirrmeister 2002, S. 95) auseinandersetzten. Denn die Suche nach Gewissheit, wie sie mit der neuzeitlichen Naturforschung anhob, musste ja die Frage beantworten, ob wir die "reale Welt" träumen oder so wahrnehmen, wie sie ist. Als skeptischer Humanist anerkannte Montaigne die Wirklichkeit der Träume und ihre Verbindung zu unserer Rationalität des Wachzustandes als ein spezifisches Humanum mit all seinen Ambivalenzen. Descartes jedoch, der geradezu verzweifelt den Grund der Gewissheit auszuloten versuchte, wurde zum Ahnvater moderner wissenschaftlicher Rationalität (vgl. Toulmin 1991) mit ihrer Trennung von Rationalität und Traumbewusstsein. Jedoch bleibt die andere Seite der Rationalität immer eine wesentliche Quelle der Inspiration. Denn: "Im Gelingen der wilden Phantasie, in der Darstellung der Unordnung eröffnen sich [...] neue Horizonte" (Schirrmeister 2002, S. 103). Den Anschluss an die soziologische Frage nach den institutionellen Konstitutionsbedingungen neuzeitlicher Wissenschaft erhält er durch die Beobachtung einer zunehmenden "Theatralisierung des Denkens in der Frühen Neuzeit" (ebd., S. 99), wobei die theatralischen Praktiken auf ein "außerprofessionelles höfisches Publikum" (ebd.) verwiesen. Vor diesem Hintergrund formte sich der Typus des "Gentleman-Wissenschaftlers", welcher "die gegenläufigen Praktiken und Anforderungen wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichen Lebens miteinander versöhnen" konnte (ebd., S. 100). Denn als Forscher war die Einsamkeit ein zentrales Bestimmungsmoment, jedoch galt es zugleich für die Forschungen Aufmerksamkeit und damit finanzielle Zuwendungen zu erlangen. Zwar gehörten Träume noch zum Habitus der Gelehrten der Frühneuzeit, dieser wurde jedoch zunehmend von einer institutionalisierten Haltung ersetzt, die auf einen vereinheitlichten und nachprüfbaren Wissenserwerb zielte. Die Spannung zwischen "Traum" und "Rationalität" gehört also zu den Grundlagen der sich entwickelnden modernen Wissenschaft, und vertiefende Studien zu diesem Wechselverhältnis dürften für das Verständnis der Entwicklungsdynamik moderner Wissenschaft von enormem Interesse sein. Leider bleibt Schirrmeister hier zurückhaltend und so lesen sich seine Ausführungen als Vorarbeiten einer Geschichte von "Traum und Erkenntnis" im Entwicklungsgang moderner Wissenschaft. Betrachtet man diese beiden Arbeiten, so zeigt sich, dass offenkundig nicht nur die Bezugnahme auf moralische Urteile als epistemologisch relevante Größe wächst, sondern auch die "irrationale Basis" von Rationalität immer deutlicher hervortritt.

2. Von der Technisierung der äußeren zur Technisierung der inneren Natur

Diese Veränderungen werden vor allem im Diskurs um die Humantechnik deutlich sichtbar, in dem die Suche nach gangbaren Wegen alte Lager neu sortiert, alte Rationalitätsvorstellungen neu gewichtet (z.B. Habermas 2001) und die Frage nach angemessenen Entscheidungsoptionen wie -verfahren immer bedeutender wird. Vor diesem Hintergrund befragt Christoph Rehmann-Sutter in seinem Beitrag "Prädiktive Vernunft" die "medizinische Genetik hinsichtlich ihrer Rationalität im Umgang mit Zukünftigem" (Rehmann-Sutter 2002, S. 204), was wesentlich bedeutet, "[...] die Gegenwart als Möglichkeitsraum freizuhalten [...] der Zukunft ihren eigentümlichen Charakter der Unverfügbarkeit [zu lassen] [...]" (ebd., S. 205f.). Um die Besonderheiten menschlicher Aneignung von Zukunft in der Gegenwart herauszuarbeiten, geht Rehmann-Sutter auf die Geschichte des Ödipus nach dem Drama des Sophokles (Oidipus tyrannos) ein. Er analysiert diese unter dem Blickwinkel des Orakels, seiner Anrufung, seiner Antworten sowie deren Interpretation. Offenkundig ist das "Hören des Orakels" problematisch, weil eine ganze Reihe von Interpretationsakten notwendig ist. Deshalb diskutiert Rehmann-Sutter zwei Formen diskursiver Voreinstellungen: die der "Programmtheorie des Genoms" und die der "Systemischen Theorie des Genoms". Legt man die erste zu Grunde, dann bedeutet das Vorhandensein beispielsweise eines Krebsgens die "latente Präsenz dieser genetischen Instruktion bereits in der Gegenwart", sie ist eine "Anlage", "Disposition" (ebd., S. 218, Herv. im Original). Vor dem Hintergrund der zweiten Theorie ist dieses Vorhandensein allenfalls ein "Indiz", die "Sequenz selbst macht die Krankheit nicht schon in latenter Form gegenwärtig" (ebd., Herv. im Original). Aber nur in der zweiten Deutung ergibt sich eine Zukunft als eine "echte" Zukunft im Sinne des Noch-Nicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich "Genetische Souveränität" (Rehmann-Sutter 2002, S. 228) durch vier Grundlinien kennzeichnen: (1) "Ein vernünftiger Umgang mit Prädikationsmöglichkeiten setzt nicht nur Kontextsensitivität voraus, sondern die Sensitivität für Kontextdifferenzen." (2) "Ein vernünftiger Umgang mit Prädikationsmöglichkeiten erfordert eine Klärung der verwendeten metatheoretischen Ideen." Hier verfolgt der Autor die interessante Idee einer "Hermeneutischen Qualitätssicherung" in Ergänzung zu einer technischen Qualitätssicherung im Labor. (ebd.) (3) "Prädiktion ist auf die Zusammenfügung einzelner Umstände, Indizien, Elemente, Faktoren, Tendenzen, Anzeichen etc. zu einem Gesamtbild möglicher Situationsverläufe angewiesen." Eine solche Erkenntnis ist auch um den Blick und die Kenntnis der Grenzen des Wissens bemüht. (4) "Zuallererst muss ein Umgang mit Prädikationsmöglichkeiten aber souverän sein. [...] Verteidigt werden muss die Gegenwart gerade vor den ‚rational' erscheinenden Ansprüchen der gesundheitlichen Risikominimierung durch Prognosenmaximierung" (ebd., S. 229). Angesichts der gegenwärtigen Diskurslage kein leichtes Unterfangen. Damit, so kann man weitergehend folgern, muss die soziologische Analyse sich den unterschiedlichen institutionellen Nebenfolgen widmen sowie (prozedurale) Lösungsansätze entwickeln (vgl. May 2002).

3. Konkurrierende Rationalitäten: etablierte und neue Metaphern

Moderne Industriegesellschaften sind ganz wesentlich durch die ökonomische Rationalität geprägt. Dies bedeutet nicht allein, dass diese in Form kapitalistischer Märkte institutionalisiert ist, sondern darüber hinaus, dass ihre Denkmuster - welche sich gleichsam im Effizienzkriterium bündeln - eine enorme Prägekraft auch jenseits des unmittelbaren ökonomischen Kontextes haben. Nicole C. Karafyllis verfolgt die These, dass "das Effizienzkriterium mittlerweile Lebensbereiche des Menschen bedroht, die gerade sein Menschsein ausmachen" (Karafyllis 2002, S. 169). Nicht eine generelle Ökonomiekritik ist dabei ihr Anliegen, sondern eine Beurteilung der Angemessenheit des Effizienzkriteriums in unterschiedlichen Lebensbereichen. Mögliche Spannungsmomente zwischen Effektivität und Effizienz, die vielfach synonym verwendet werden, sind diesem Anliegen gemäß von zentraler Bedeutung. Begrifflich lässt sich nämlich "Effektivität als die Maßgröße für die wirksame Aufgabenerfüllung [verstehen], wohingegen Effizienz als Maßgröße für die wirtschaftliche Zielerreichung (Ouput-Input-Relation) dient" (ebd., S. 171; Herv. im Original). Letztere ist an extern formulierte Ziele und Rahmenbedingungen gebunden, in denen sie dann Prozesse optimieren kann. Diese wichtige Voraussetzung wird allerdings vielfach übersehen und bringt je besondere Probleme mit sich, z.B. im Umgang mit der Natur, auch wenn Effizienzüberlegungen vor allem auch im Nachhaltigkeitsdiskurs unter der Rubrik "Ökosystemforschung" erheblichen Zuspruch finden. Die Beschreibungsperspektive als Ökosystem erlaubt zwar nicht die hinreichende Abbildung in einem technischen Modell, führt aber die Idee von "Funktionen" in die Natur und suggeriert dadurch Möglichkeiten ihrer Optimierung (vgl. ebd., S. 186). Im Grunde spiegeln sich dahinter Kontrollideen wider, die der Ursprünglichkeit des Menschen als Naturwesen zuwiderlaufen, die u.a. auch einer Non-Funktionalität bedarf. "Der individuelle Mensch [kann] nur durch grenzsetzende Erfahrungen mit der Natur sich gegenüber der Natur als Kulturwesen abgrenzen - dabei aber immer um seine Möglichkeit wissend, mit der Natur als dem "Anderen", weil nicht Kontrollierbaren, überhaupt Erfahrungen machen zu können" (ebd., S. 189f.). Eine Steigerung erhält diese "Effizienzdiktatur" bei der Selbstanwendung auf Menschen. Die Entwicklung könnte dahin laufen, dass Menschen sich im Vergleich zu den funktional optimierten und effizienten Artefakten als technisch unvollkommenes Biofakt begreifen lernen (ebd., S. 191). Neben der Effizienzmetapher sei dabei vor allem die verführerische Sprache der Programmierung von (genetischen) Codes entscheidend: "Die Metapher des Programms stellt die Frage nach dem Programmierer und auch die Frage, durch wen wir Menschen gedenken, uns ‚Vor-Schriften' machen zu lassen" (ebd., S. 194). Diese Entwicklung führe zu einem "zunehmenden Auseinanderfallen von individueller und gesellschaftlicher Rationalität", wodurch die "kulturellen Grundlagen des Humanismus" gefährdet würden. Somit verlange die Pluralität der Rationalität einen "entscheidungsfähigen ordnungspolitischen Rahmen, der unveräußerliche gesellschaftliche Werte gleichermaßen garantiert wie die Freiheit des Individuums" (ebd., S. 198).

Kontrapunktisch zu dem für die Moderne typischen Kurzschluss zwischen Rationalität und wissenschaftlichem Wissen diskutiert Peter Wehling (2002) das Spannungsverhältnis von Rationalität und Nichtwissen. Max Weber hatte mit seinen Studien zur Entstehung moderner Gesellschaften auf die zunehmende Durchsetzung des Typus des zweckrationalen Handelns hingewiesen, die sich als zunehmende "Entzauberung der Welt" darstelle. Zugleich sah er in der Wissenschaft diejenige Instanz, die "die Rationalität individuellen wie kollektiven Handelns sowohl gewährleistet als auch erweitert, indem sie den Akteuren immer mehr Wissen zur Verfügung stellt" (ebd., S. 258). Im modernistischen Selbstverständnis war es nicht nur Aufgabe der Wissenschaft, Wissensdefizite zu begleichen, ihr wurde auch unterstellt, dass sie jederzeit dazu in der Lage sei. Damit war die Frage nach der Wissensgrundlage rationalen Handelns zunächst einmal gelöst. Gerade die Gewissheit über das Rationalisierungspotenzial des wissenschaftlichen Fortschritts ist jedoch in der jüngsten Zeit zunehmend Erosionstendenzen ausgesetzt worden. Dies hat nun nicht zu einem generellen Vertrauensentzug in die Fähigkeiten von Wissenschaft zur Wissensakkumulation geführt, jedoch mit steigender Dynamik die andere Seite des Wissen, das Nichtwissen, ins Spiel gebracht. Entsprechend ist es das Anliegen von Wehling, die bisher gültige Lösung der Frage nach der Wissensgrundlage rationalen Handelns durch eine Analyse von Formen des Nichtwissens zu erweitern. Denn es geht ihm nicht um ein "Anything goes". Vielmehr sieht er erhebliche Chancen zur Erweiterung und Neujustierung von Rationalität durch die Reflexion auf Nichtwissen, welches zunehmend Gegenstand einer soziologischen Analyse wird (ebd., S. 261f.; vgl. hierzu ausführlicher: Wehling 2001). Jedoch hat die Unterspülung rationaler Wissensgrundlagen erhebliche Folgen für das Legitimieren von Entscheidungen. Der dadurch mögliche Rationalitätsverlust politischen Entscheidens kann zu einem Einfallstor für unterschiedlichste Interessen werden. Vor diesem Hintergrund tut eine Reflexion auf mögliche "Modelle eines Entscheidens unter Nichtwissen" Not. Um solche zu entwickeln, verweist Wehling zunächst auf zentrale Unterscheidungsdimensionen von Nichtwissen, um das Phänomen Nichtwissen konzeptuell prägnanter zu konturieren. Sehr plausibel stellt er drei solcher Dimensionen in den Vordergrund (vgl. Wehling 2002, S. 266f.): (1) Wissen des Nichtwissens mit den beiden idealtypischen Polen des explizit gewussten sowie des vollständig nicht-gewussten Nichtwissens; erster Fall ist der Anfang von Forschung, zweiter verweist auf die Grenzen gesellschaftlich etablierter Erwartungshorizonte. (2) Intentionalität des Nichtwissens bewegt sich zwischen den beiden Polen des ausdrücklich gewollten Nichtwissens sowie des gänzlich unbeabsichtigten Nichtwissens; hierbei spielt vor allem auch die Frage nach einem "Recht auf Nichtwissen" hinein. (3) Zeitliche Dauerhaftigkeit von Nichtwissen, wobei hier die Pole durch temporäres Nichtwissen ("Noch-Nicht-Wissen") und unauflösbares Nichtwissen ("Nicht-Wissen-Können") gebildet werden; gerade für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Nichtwissen spielt diese Dimension eine entscheidende Rolle, weil sie für die Handlungsstrukturierung wichtige Randbedingungen abgibt. Lernen unter Nichtwissensbedingungen muss deshalb nach der Auffassung von Wehling noch einen Schritt weitergehen, als es noch Collingridge (1980) in einer einflussreichen TA-Studie mit Blick auf Nichtwissen entwickelt und zu einer "fallbilistischen Auffassung von Rationalität" (Collingridge 1980, S. 29) ausbaute, weil überhaupt erst die Rahmenbedingungen für ein solches Lernen gegeben sein müssten. Im anderen Fall sei eine solche Vorgehensweise im höchsten Maße irrational (Wehling 2002, S. 270). In ihrer empirischen Bedeutsamkeit unterstrichen werden diese Überlegungen durch die Diskussion zweier "Modelle", die sich aus der neuen Chemikalienregulierung und der Diskussion um Verfahren der Humantechnik ergeben. Der erste Fall zeigt eine explizite Anerkennung von Nichtwissen in der Forschung und Regulierung, der zweite ist durch das Problem der Bewahrung von Autonomie und Chancengleichheit gekennzeichnet. Dabei zeigt sich, dass "mit der Forderung nach einem Recht auf Nichtwissen vielleicht erstmals in modernen Gesellschaften die scheinbar unhintergehbare Verknüpfung von Wissenssteigerung, individueller (Handlungs-)Autonomie und Rationalität wirksam in Frage gestellt wird." (ebed., S. 274).

4. Anfänge eines Modernisierungsstreits

Heidegger bemerkte einmal, Besinnung sei der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen. In diesem Buch wird es deutlich: Die Zukunft der Rationalität ist ein gesellschaftliches Projekt, das Besinnung fordert - und dies in einem ganz emphatischen Sinne. Die Entwicklung spätmoderner Gesellschaften hat ein Stadium erreicht, das die Traditionsbestände der Moderne selbst thematisch werden lässt. Und zu diesen zählt ganz offensichtlich die direkte Verbindung von Rationalität mit wissenschaftlicher Rationalität. Die verschiedensten Konflikte (wie BSE, Stammzellforschung, Grüne Gentechnik, Neue Chemikalienpolitik etc.) zeichnen aber eine Dynamik vor, die gerade diesen Rationalitätsversprechen zuwider läuft. Sie sind charakterisiert durch fortlaufendes Nichtwissen, normative Ambivalenz und kategoriale Uneindeutigkeit, ohne dass sich aus der modernen Tradition entsprechende Heilmittel finden ließen - diese verstärken vielmehr noch den Problemdruck. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Emergenz eines neuen Politikfeldes ab: der Wissenspolitik, welches die Produktion und Kontrolle von Wissen zur Verbürgung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zum Inhalt hat. Natürlich bleibt sich die Moderne insofern treu, als sie weiterhin ein Projekt der Rationalisierung sein wird. Jedoch können Wissensungewissheiten und damit Rationalitätskonflikte immer weniger über einen Schiedsspruch der Wissenschaft gelöst werden, sondern erhalten zunehmend einen politischen Charakter. In die Bandbreite der sich dabei anbahnenden Diskussions- und Konfliktlinien bei der Wahrung von Rationalität gibt das Buch einen überzeugenden Einblick.

Literatur
Habermas, J. (2001): Glauben und Wissen. Frankfurt a.M. 2001.
Karafyllis, N.C.; Schmidt, J.C. (Hgg.) (2002a): Zugänge zur Rationalität der Zukunft. Stuttgart 2002.
Karafyllis, N.C.; Schmidt, J.C. (2002b): Rationalität und Pluralität. Versuch einer einführenden Bestimmung im Horizont von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, in: dies. (Hgg.) (2002a), S. 9-28.
Lepenies, W. (1997): Benimm und Erkenntnis. Frankfurt a.M., 1997.
Lyotard, J.-F. (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986.
May, S. (2002): Institutionelle Entgrenzungen durch Nichtwissen. Professionssoziologische, rechtstheoretische und rechtspolitische Analysen zur Theorie reflexiver Modernisierung, Diss., München 2002.
Rehmann-Sutter, Chr. (2002): Prädiktive Vernunft. Das Orakel und die prädikative Medizin als Erfahrungsbereiche für Rationalität, in: Karafyllis, N.C.; Schmidt, J.C. (Hgg.) (2002a), S. 203-232.
Rorty, R. (1987): Der Spiegel der Natur, Frankfurt a.M. 1987.
Schirrmeister, A. (2002): Rationalität und Geschichte. Zum Status von geträumter Wahrnehmung in spezifischen kulturellen Kontexten der Frühen Neuzeit, in: Karafyllis, N.C.; Schmidt, J.C. (Hgg.) (2002a), S. 95-111.
Toulmin, S. (1991): Kosmopolis. Über die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt a.M. 1991.
Wehling, P. (2002): Rationalität und Nichtwissen. (Um-)Brüche gesellschaftlicher Rationalisierung, in: Karafylliys, N.C.; Schmidt, J.C. (Hgg.) (2002a), S. 255-276.

Anmerkung:
1 Als Ansätze, die diesem Bereich zugeordnet werden müssen, benennt Schmidt die Physik komplexer Systeme, Chaostheorie, Nichtlineare Dynamik, Fraktale Geometrie, Synergetik, Selbstorganisationstheorien, Physik dissipativer Strukturen u.a.

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