A. Jah u.a. (Hrsg.): Nationalsozialistische Lager

Titel
Nationalsozialistische Lager. Neue Beiträge zur NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und zur Gedenkstättenpädagogik


Herausgeber
Jah, Akim; Kopke, Christoph; Korb, Alexander; Stiller, Alexa
Erschienen
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für INOGS und H-Soz-Kult von:
Andreas Mix, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Das Fort Oberer Kuhberg in Ulm gehört zu den zahlreichen Orten in Deutschland, an denen zwischen 1933 bis 1935 politische Gegner des Nationalsozialismus interniert wurden. In der öffentlichen Erinnerung an die NS-Verbrechen stehen diese „frühen Lager“ im Schatten der nach Kriegsbeginn errichteten großen Konzentrations- und Vernichtungslager. Umso verdienstvoller ist es, dass diesen Orten von der Forschung in jüngster Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. 1 Einen Beitrag dazu leistet der Sammelband „Nationalsozialistische Konzentrationslager“. Er dokumentiert die Ergebnisse des im Herbst 2004 in Blaubeuren bei Ulm veranstalteten Doktorandenworkshops. Die seit 1994 jährlich stattfindenden Workshops bieten Nachwuchswissenschaftlern die Möglichkeit, ihre Forschungsprojekte zur Diskussion zu stellen. In Blaubeuren waren erstmals auch Teilnehmer aus Mittel- und Osteuropa dabei. Diese Internationalisierung eröffnet der KZ-Forschung neue Perspektiven und Impulse.

Das Buch ist klar gegliedert: Vier Beiträge befassen sich mit den nach der nationalsozialistischen Machübernahme errichteten Lager („Absicherung der Macht: ‘Frühe Lager“ 1933-1939’“), fünf Artikel behandeln Aspekte der nach 1939 gegründeten Lager („Rassismus, Deportation, Genozid: Nationalsozialistische Lager während des Krieges“) und zwei Texte thematisieren Theorie und Praxis der pädagogischen Arbeit in den KZ-Gedenkstätten. Irene Mayer fragte in ihrem Beitrag über die SA-Haftstätte am Wassersturm im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, ob der häufig gebrauchte Begriff des „wilden Terrors“ die Verfolgungspraxis in den ersten Monaten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme hinreichend erfasst. Ein altes Maschinenhaus im Wasserturm diente von März bis Juni 1933 als Haftstätte für politische Gegner des NS-Regimes. Der Wasserturm gehörte damit zu einem von insgesamt 150 Orten in Berlin, an denen die SA 1933 politische und weltanschauliche Gegner inhaftierte und misshandelte. Mayer weist darauf hin, dass die Verfolgung keineswegs spontan oder willkürlich verlief, sondern sich gezielt gegen tatsächliche oder potentielle Gegner richtete. Mayer unterschätzt dabei jedoch die Eigendynamik des Terrors. Das Ideal des disziplinierten „politischen Soldaten“ entsprach keineswegs der Realität in den SA-Einheiten, die vielmehr von Gewalt und dem Willen zur Abrechnung mit dem Gegner geprägt waren. 2

Am Beispiel der Selektion polnischer Arbeiter in den Lagern der Umwandererzentralstelle (UWZ) im Wartheland zeigt Gerhard Wolf, wie die ambitionierte Volkstumspolitik der SS mit den Bedürfnissen der deutschen Kriegswirtschaft kollidierte und schließlich scheiterte. Um den akuten Arbeitskräftemangel zu beheben, entschloss sich das NS-Regime bereits im Herbst 1939 dazu, Polen als Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich zu deportieren. Der Zustrom polnischer Arbeitskräfte widersprach dabei den bevölkerungspolitischen Zielen der SS. Die Ethnokraten der SS bemühten sich darum, mit einer differenzierten Selektion der polnischen Bevölkerung sowohl den Bedürfnissen der deutschen Kriegswirtschaft als auch der ideologisch motivierten Bevölkerungspolitik zu entsprechen. Die dafür im neuen „Reichsgau Wartheland“, dem „Exerzierplatz des praktischen Nationalsozialismus“ (Röhr), im Frühjahr 1940 errichteten Umwandererzentralstellen sollten sicherstellen, die polnischen Arbeiter vor ihrer Deportation in das Reich einer aufwendigen „rassischen Musterung“ zu unterziehen. Die SS scheiterte jedoch mit dem Versuch, auf diesem Weg ihren Einfluss auf dem Gebiet des Arbeitskräfteeinsatzes zu stärken. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion steigerte sich der Bedarf der deutschen Wirtschaft an Arbeitskräften so sehr, dass bevölkerungs- und rassepolitische Erwägungen demgegenüber zurücktreten mussten. Die Herrschaftsrationalität – so Wolf – erwies sich als wirkungsmächtiger als die nationalsozialistische Ideologie.

Mit der Gruppe der „Volksdeutschen“ in den Konzentrationslagern befasst sich Alexa Stiller. „Volksdeutsche“ waren gemäß der amorphen nationalsozialistischen Definition Deutsche, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen und außerhalb des Reichs lebten. Da die „Volksdeutschen“ keine offizielle Häftlingskategorie bildeten, ist über ihre Rolle in den Konzentrationslagern praktisch nichts bekannt. Stiller weist nach, dass die KZ-Haft ein Mittel zur Zwangsgermanisierung war, „Volksdeutsche“ aber auch wegen politischer Opposition in „Schutzhaft“ genommen wurden. „Volksdeutsche“ waren jedoch nicht nur Häftlinge, sondern auch Bewacher in den Konzentrationslagern. Ab der zweiten Kriegshälfte leisteten mehrere Tausend „Volksdeutsche“ als Angehörige der Waffen-SS Dienst in den Wachmannschaften der Lager. Welche Auswirkungen der massenhafte Einsatz von „Volksdeutschen“ für das KZ-System hatte, ist dabei weitgehend unerforscht.

Mit dem Lager Jägala in Estland beleuchtet Meelis Maripuu eines jener „Lager im Osten“ (Wildt), über das kaum gesicherte Erkenntnisse vorliegen. In das im Frühjahr 1942 errichtete Lager Jägala, das der estnischen Sicherheitspolizei unterstellt war, wurden mehr als 2.000 deutsche und tschechische Juden deportiert. Fast alle wurden nach ihrer Ankunft von Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei erschossen. Maripuu skizziert die Geschichte von Jägala, das im Zuge der Reorganisation der Haftstätten im besetzten Estland entstand, und den Prozess, der 1961 gegen Angehörige des estnischen Lagerpersonals in Tallin geführt wurde. Maripuu belegt, dass die sowjetischen Behörden mit dem Verfahren klare außenpolitische Ziele verfolgten. So sollten unter anderem die estnischen Emigranten als Kollaborateure der Nationalsozialisten diskreditiert werden.

Der Sammelband belegt eindrucksvoll, dass die Geschichte der Konzentrationslager noch lange nicht ausgeforscht ist. Die Mehrzahl der Beiträge beleuchtet bislang kaum beachtete Aspekte der Konzentrationslager. Die Artikel dokumentieren dabei erste Ergebnisse laufender Forschungsarbeiten. Sie werden das Bild von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern schärfen und weiter differenzieren.

Anmerkungen:
1 Die ersten drei Bände der von Wolfgang Benz und Barbara Distel im Metropol Verlag herausgegebenen Reihe „Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945“ dokumentieren die frühen Konzentrationslager. Als Monographie ist außerdem in der Reihe erschienen: Baganz, Carina, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933-1934/37, Berlin 2005.
2 Longerich, Peter, Geschichte der SA, München 2003, S. 176; Reichardt, Sven, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem International Network of Genocide Scholars (INOGS). http://www.inogs.com/
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