B. Sorg: Christoph Graupners Musik

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Titel
Christoph Graupners Musik zu zeremoniellen Anlässen am Hof der Landgrafen zu Hessen-Darmstadt. Zwischen 'Frohlockendem Jubel-Geschrey' und 'Demüthiger Andacht und Pflicht vor dem Angesicht des Herrn'


Autor(en)
Sorg, Beate
Erschienen
Norderstedt 2015: Books on Demand - BoD
Anzahl Seiten
470 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Poetzsch, Telemann-Zentrum Magdeburg

Diese Studie, die 2014 als Dissertation von der Universität Mainz angenommen wurde, widmet sich einem Thema, das in der Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts in solch umfassender Weise nur selten behandelt wird. Die Beschäftigung mit den Entstehungs- und Aufführungskontexten von Gelegenheitsmusik erfordert ein hohes Maß an (allgemein-)historischer Quellenarbeit. Die Autorin hat sich dieser Herausforderung mutig gestellt und nähert sich ihrem Gegenstand von verschiedenen Seiten her. Außerdem hat sie sich dankenswerterweise entschlossen, ihre (über den Server der Universitätsbibliothek Mainz bereits zugängliche) Arbeit auch als gedrucktes Buch herauszubringen, was die nachnutzende Beschäftigung mit dieser komplexen Materie sehr erleichtert.

Stehen Kompositionen für diverse Gelegenheiten im höfischen wie auch städtischen Kontext immer wieder im Fokus des Forschungsinteresses, werden sie selten in ihrer Funktionalität als Bestandteil eines Zeremoniells wahrgenommen und beschrieben. Traditionell ist Hofmusik außerdem Gegenstand musikwissenschaftlicher sozialhistorischer Untersuchungen, die auf den Beruf des Musikers, den Kapellmeister eingeschlossen, ausgerichtet sind. Zu Christoph Graupners Leben und Werk gibt es ältere Arbeiten, die jedoch ergänzungs- und korrekturbedürftig sind. Dieses Defizit wird in jüngerer Zeit durch die Aufarbeitung einzelner Werkgruppen und das bereits in Teilen erschienene Werkeverzeichnis ausgeglichen, wozu zu dem das vorliegende Buch ebenfalls einen gewichtigen Beitrag leistet.

Die Untersuchung basiert auf zwei relevanten Quellengruppen: Partituren und Aufführungsmaterialien Graupners mit den zugehörigen, meist gedruckten Texten und den in einiger Vollständigkeit erhaltenen Dokumenten zu den zeremoniellen Anlässen während Graupners Dienstzeit von 1709 bis zu seinem Tod 1760 bzw. den Regierungszeiten der Landgrafen Ernst Ludwig (1667–1738) und Ludwig VIII. von Hessen-Darmstadt (1691–1768). Herangezogen und ausgewertet wurden weiterhin zahlreiche Korrespondenzen, die ebenso viele und bisher unbekannte Informationen über die Lebenswelt der landgräflichen Familie und von Angehörigen des Hofes enthalten. Seitenblicke auf die Bautätigkeit und andere Projekte Ernst Ludwigs beschreiben den Kontext, in den die Hofmusik gehört.

Die Verfasserin entfaltet ihr Thema zwischen den im Titel genannten Polen von Feieranlass und konfessioneller Bedingtheit, denn für das Selbstverständnis der Darmstädter Landgrafen war das lutherische Bekenntnis bestimmend. Ein erstes Kapitel führt in die Geschichte der Residenz und der Landgrafenfamilie ein. Dabei wird die politische Bedeutung des Landes, auch unter dem Aspekt der Konfession, thematisiert. Die Hauptprotagonisten, deren Präferenzen und Bedürfnisse auch ihr repräsentierendes Handeln leiteten – berühmt ist die Jagdleidenschaft der Regenten –, werden vorgestellt und charakterisiert. Beide Landgrafen stellten die Rolle der Musik innerhalb des Systems der symbolischen Kommunikation bei Hofe nicht in Frage. Zudem hatte zu ihrer standesgemäßen Erziehung und Ausbildung Musik gehört, und Ernst Ludwig wie sein Sohn Ludwig VIII., der auch komponierte, musizierten selbst ausgiebig. Die Verpflichtung Graupners 1709 und des Librettisten Georg Christian Lehms 1710 zeugen direkt von dem Willen Ernst Ludwigs, in seinem Einflussbereich eine Musik auf der Höhe der Zeit – und damit von galanter Haltung – zu installieren: Graupner wie Lehms waren vor ihrer Darmstädter Zeit für die Opernhäuser in Hamburg und Leipzig tätig gewesen. Am Ende des Untersuchungszeitraums, als 1768 die Funeralien für Ludwig VIII. anstanden (nicht mehr unter der Leitung Graupners, der bereits einige Jahre zuvor gestorben war), war die Leistungsfähigkeit der Hofkapelle stark eingeschränkt. Wie sich daran schon zeigt, gab es im Verlauf eines halben Jahrhunderts in äußerlich als stabil erscheinenden Verhältnissen Veränderungen, wozu auch gehört, dass in der Regierungszeit des jüngeren Landgrafen kaum noch neue Kompositionen erklangen und auf ältere Werke zurückgegriffen wurde.

Die zu zeremoniellen Anlässen wie Trauerfällen, Hochzeiten, Geburtstagen, politischen und kirchlichen sowie eher privaten Gelegenheiten gehörenden Gattungen (die Geburtstagskantaten für den Geheimrat Johann Jacob Wieger eingeschlossen) sind theatrale Formen, Kantaten und Serenaten. Diese wurden an verschiedenen Spielorten der Hauptresidenz Darmstadt und anderer Besitzungen der landgräflichen Familie aufgeführt. Innerhalb der ihnen zugewiesenen Aufgabenbereiche hatten sowohl die Dichter als auch die Komponisten für die jeweils angemessene Ausgestaltung der Zeremonielle mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Personal an Sängern und Instrumentalisten zu sorgen. Deren Stellung und Situation am Darmstädter Hof wird beleuchtet und in diesem Zusammenhang die Biographie und das Schaffen Graupners vorgestellt, der nach seiner Bewerbung um das Amt des Thomaskantors in Leipzig 1722 in landgräflichen Diensten geblieben war.

Im zweiten Hauptteil werden die erhaltenen Hochzeits-, Trauer- und Geburtstagsmusiken sowie Musiken zu politischen Anlässen systematisch abgehandelt. Dabei wird jeweils zuerst die Quellenlage, die ganz unterschiedlich ist, beschrieben, bevor die über die Entstehungs- und Aufführungszusammenhänge Auskunft gebenden Dokumente ausgewertet werden. Wenn es möglich war, wurden bislang unbekannte Dichter identifiziert. Die Zeremonielle werden in ihrer Darmstädter Ausprägung erfasst, denn jede Feier fand unter besonderen Umständen statt, die zu berücksichtigen und darzustellen waren. Deutlich wird dies insbesondere bei den Trauermusiken. Hier gab es einfachere und opulenter ausgestattete Formen des Trauerzeremoniells mit einem höheren oder weniger hohen Anteil an Musik. Eine besondere Ausnahme bildeten die Umstände des Todes und der Trauerfeierlichkeiten für die Landgräfin Elisabeth Dorothea (Mutter Ernst Ludwigs). Sie war im August 1709 gestorben, das Zeremoniell konnte aber erst Anfang 1710 stattfinden. Außerdem wurde die Landestrauer im Februar 1710 für zwei Tage unterbrochen, um eine anstehende Eheschließung durchführen zu können.

Texte und Kompositionen werden nach ihren Gattungsmerkmalen beschrieben, die den Rahmen für die Gestalt jedes einzelnen Werkes geben, innerhalb dessen jede ein ihr eigenes Profil erhält. Herausgearbeitet wird Graupners Verwendung von Tonarten, der Einsatz von Instrumenten und Stimmlagen und seine Art der musikalischen Darstellung der im Text vorformulierten Affekte. Im Ergebnis der verschiedene Ebenen berücksichtigenden Analysen zeigen sich einerseits topisch-konventionelle und für die jeweilige Gattung typische Vorgehensweisen wie auch die spezifischen Lösungen. Grundmuster der musikalischen Repräsentation, etwa bei den Huldigungsserenaten mit ihrem allegorischen Personal, werden erkennbar wie auch verschiedene Möglichkeiten der künstlerischen Umsetzung. Ein Exkurs zu Graupners bislang noch kaum erforschter Entlehnungspraxis ergänzt die Abschnitte zu den Geburtstagmusiken.

Das Kapitel über die Trauermusiken enthält einen Exkurs über die Aufführungsorte der frühen Vokalkompositionen Graupners. Aus Hinweisen aus den Aufführungsmaterialien, die transponierte oder nicht transponierte Bassstimmen enthalten, kann abgeleitet werden, dass die Trauermusiken in der Stadtkirche, wo sich die Gruft befand, aufgeführt wurden. Die reguläre Kirchenmusik fand in der Schlosskirche statt, die über eine moderne, im Kammerton gestimmte Orgel verfügte. Im Zusammenhang mit den Trauermusiken ergab sich außerdem die Frage, ob einzelne, inhaltlich auf Trauer- und Trostthematik ausgerichtete Perikopenkantaten auch für Trauerfälle komponiert worden sein könnten, worauf die besondere instrumentale Ausstattung und die terminliche Nähe zu Todesfällen schließen lassen könnte. Die Autorin lässt die Frage offen, doch dürfte sie zu verneinen sein, denn die Inhalte der beiden in Frage kommenden Jahrgangsstücke zum Fest Mariae Reinigung und zum 16. Sonntag nach Trinitatis verhalten sich regelrecht zur gängigen lutherischen Auslegung der jeweiligen Evangelien. Zumal in Darmstadt die Kirchenmusik während der Trauerzeiten nicht eingestellt wurde.

Aus dem Wissen um die historischen Fakten und die spezifische Entstehungssituation jedes einzelnen Werkes sowie die lebensweltliche Situation der Verfasser oder der Ausführenden versucht die Autorin – in dem Bewusstsein, dass solche Interpretationsansätze leicht zu kurz greifen können –, in Texten und Musik versteckte Anspielungen oder mögliche kritische Untertöne aufzuspüren, was sich insbesondere bei Hochzeits- und Geburtstagsmusiken anzubieten scheint. Instruktive (und notwendige) Übersichten zu den Werken und Notenbeispiele machen die analytischen Befunde und Beobachtungen zum Stil der Musiken nachvollziehbar und transparent.

Beigegeben sind im Anhang neben den Quellen- und Literaturverzeichnissen eine genealogische Übersicht über die landgräfliche Familie, Verzeichnisse sämtlicher Gelegenheitsmusiken Graupners und ein Register der erwähnten Kompositionen (auch anderer Komponisten), leider fehlt ein allgemeines Personen- und Ortsregister.

Die Untersuchung mit ihrem methodischen Zugriff der „dichten Beschreibung“, in der alle Teilaspekte in Beziehung gesetzt werden, zeigt mit ihrem immensen Ertrag, wie sinnvoll die Erweiterung des musikwissenschaftlichen Horizonts um den historischen ist; zumal bei Gelegenheitswerken, die ihre Entstehung einem Anlass zur Repräsentation verdanken und von diesem kaum zu lösen sind. Die Verfasserin arbeitet schlüssig heraus, dass die behandelten Kompositionen erst in ihren politischen wie personellen Kontexten tatsächlich verständlich werden können, was durch eine spezialisierte Betrachtung der musikalischen Aspekte allein kaum möglich ist. Der der Untersuchung zugrundeliegende Materialreichtum ist durch sinnvoll zielgerichtetes Zitieren immer präsent, ohne zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Dem wiederholt formulierten Bedauern, dass die Akten nur wenig über Musik sagen, stehen die Dichte der mitgeteilten Informationen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse entgegen. Denn gerade die manchmal versteckten oder lapidaren Hinweise auf Musik zeigen, wie selbstverständlich Musik zum gesellschaftlichen, hier höfischen, Leben gehörte.

Möge die vorliegende Untersuchung dazu anregen, Umstände und Hintergründe des anlassgebundenen, zeremoniellen Musizierens auch für andere Höfe neu aufzuarbeiten, auch wenn vielleicht eine weniger große Anzahl von Kompositionen erhalten ist.

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