Cover
Titel
Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century


Autor(en)
Jarausch, Konrad H.
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 867 S.
Preis
$ 39.50 / £ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Berlin

Verleger sind vor allem in Europa gegenüber Synthesen zur jüngsten europäischen Geschichte oft skeptisch. Trotzdem werden immer wieder erfolgreiche Synthesen zur europäischen Geschichte geschrieben. Die letzten drei international viel gelesenen Synthesen zum 20. Jahrhundert stammten von dem Griechenlandexperten Mark Mazower1, von dem Frankreichexperten Tony Judt2 und – schon deutlich älter – von Eric Hobsbawm, dessen „Zeitalter der Extreme“ meist als Geschichte Europas, vor allem als eine Geschichte Europas des „kurzen“ 20. Jahrhunderts diskutiert wird, obwohl es eigentlich eine Weltgeschichte ist.3 Was bietet die Synthese von Konrad Jarausch anderes?

Erstens unterscheidet sie sich durch den Autor von den anderen Werken. Jarausch ist einerseits amerikanischer als die anderen Historiker. Er hat seine ganze wissenschaftliche Ausbildung und auch seine Berufskarriere in den USA durchlaufen, zuletzt, seit rund 30 Jahren, als Professor an der University of North Carolina, Chapel Hill. Die anderen Autoren waren nicht so beständig in den USA. Andererseits ist Konrad Jarausch deutscher als die anderen Autoren, die alle britisch geprägt sind. Er verbrachte nicht nur seine Schulzeit an einem deutschen klassischen Gymnasium. Er brachte auch viele Jahre seines Lebens durch Forschungsaufenthalte in Deutschland, daneben auch in Frankreich, in Schweden und in den Niederlanden zu. Vor allem war er acht Jahre lang einer der beiden Direktoren des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Anders als die anderen Autoren ist er auch ein ausgewiesener Deutschlandexperte. Er hat vor allem über die internationalen Beziehungen Deutschlands, aber auch über die Geschichte der Universitäten und über die Geschichte der freien Berufe in Deutschland gearbeitet. Insgesamt war keiner der anderen Autoren so intensiv und dauerhaft gleichzeitig auf beiden Kontinenten tätig und kennt sie so genau. Jarausch bringt daher besonders gute Voraussetzungen dafür mit, sowohl für das amerikanische, als auch für das europäische Publikum zu schreiben. Man ist schon deshalb gespannt, inwiefern Jarausch vor diesem persönlichen Hintergrund die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert anders sieht.

Jarausch wählte zweitens im Unterschied zu den anderen Autoren als Konzept für sein Buch „the modernity“, die Moderne. Er meint damit nicht die Vorstellung einer durchweg positiven, am Ende siegreich in die Demokratie und Marktwirtschaft führenden Modernisierung, wie sie im Kalten Krieg entwickelt wurde, sondern einen Prozess mit vielen Gesichtern. Er war und ist letztlich unausweichlich, blieb unter den Zeitgenossen immer umstritten und besaß darüber hinaus keineswegs nur positive Seiten, sondern konnte auch negative bis katastrophale, inhumane Auswirkungen haben. Europa war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Beispiel für diese schwarze Seite der Moderne. Allerdings ist das Werk von Konrad Jarausch kein geschichtsphilosophisches Traktat zur Illustration von modernitätstheoretischen Konzepten. Es ist das genaue Gegenteil: geprägt von pragmatischer Analyse und von tiefer Skepsis gegenüber vereinfachenden Theorien.

Wichtig als roter Faden für dieses Werk ist deshalb, drittens, sein Grundnarrativ der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Bei Jarausch steht die Geschichte der Sowjetunion nicht so stark im Zentrum wie bei Eric Hobsbawm. Er hat seinem Buch auch nicht den düsteren Titel „Der dunkle Kontinent“ wie Mark Mazower, sondern den eher optimistischen Titel „Out of Ashes“ gegeben. Sein Grundnarrativ: Europa war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein abstürzender Kontinent. Es beherrschte am Anfang des 20. Jahrhunderts noch die Welt und stritt sich in der damals üblichen Weise über die wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und politische Moderne. Der Erste Weltkrieg war nicht nur eine Katastrophe für die humanen Werte Europas. Stärker als anderswo brachte er auch drei bis aufs Messer verfeindete Akteure der Modernisierung hervor: kommunistische Modernisierer, faschistische Modernisierer und liberal-demokratische Modernisierer, die in den 1920er-Jahren noch eine Blütezeit erlebten. Die tödliche Konkurrenz zwischen diesen Modernisierungsakteuren brachte Europa in dem vom NS-Regime angezettelten Zweiten Weltkrieg die weitgehende Zerstörung, viele Millionen von Toten, ethnische Säuberungen und den Holocaust. Aber Europa lernte aus dieser dreißigjährigen Katastrophengeschichte und entwickelte sich danach zu einem Kontinent des inneren Friedens, der respektierten Menschenrechte und Demokratie, des Wohlfahrtsstaates, der einzigartigen supranationalen europäischen Integration und des Respekts vor der Umwelt. Das Lernen aus dieser Katastrophe ist für Konrad Jarausch ein zentraler Bestandteil des Narrativs Europas im 20. Jahrhundert. Er versucht vor allem seinem amerikanischen Publikum zu erklären, welche Vorzüge die europäischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichten.

Konrad Jarausch bietet, viertens, dafür eine andere epochale Einteilung des 20. Jahrhunderts an. Er beschränkt sich nicht auf das kurze 20. Jahrhundert, für das sich Eric Hobsbawm einsetzte. Jarauschs Buch handelt von der langen Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts von den 1890er-Jahren bis in das 21. Jahrhundert hinein, allerdings ohne eine Entscheidung zu wagen, mit welchen Einschnitten das lange 20. Jahrhundert endete. Er unterteilt seine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert in vier Epochen: die Zeit bis 1929, von ihm als „Versprechen des Fortschritts“ betitelt, in der die zerstörerisch verfeindeten Modernisierungskonzepte entwickelt wurden, dabei allerdings das liberal-demokratische Konzept bis in die 1920er-Jahre in der Vorhand zu sein schien. Dann die „Wende zur Selbstzerstörung“, die eigentliche Katastrophe, die 1929 mit der alles entscheidenden Weltwirtschaftskrise und dann der Machtübernahme Hitlers in Deutschland einsetzte und die mit dem zerstörten Europa am Ende des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges 1945 endete. Danach die Epoche, die dem Buch seinen Titel gab: der „überraschende Wiederaufstieg“ Europas zwischen 1945 und 1973, im westlichen Europa massiv unterstützt von den wirtschaftlich überlegenen USA und von der weit ärmeren Sowjetunion im weniger erfolgreichen, einer altmodischen Industrialisierung unterworfenen, östlichen Europa. Schließlich die Epoche der „Konfrontation mit der Globalisierung“ seit dem Umbruch der 1970er-Jahre, dem Ende des Industriekapitalismus und des sowjetischen Imperiums, auch der neuen weltumspannenden Rolle Europas gegenüber der Globalisierung. Die vielleicht überraschendste Entscheidung dieser Zeiteinteilung ist die vorrangige, gut begründete Bedeutung, die Konrad Jarausch den 1970er-Jahren, nicht dem Umbruch von 1989/90, als Epochenwende zuschreibt, obwohl oder vielleicht weil er lange Jahre das Zentrums für Zeithistorische Forschung leitete, das seine Existenzberechtigung aus dem Umbruch von 1989/90 gewann.

Gibt es an diesem fast 900seitigen Werk etwas zu kritisieren? Ein paar Wünsche bleiben offen. Man hätte sich eine breitere globale Einordnung der Geschichte Europas erhofft. Auch eine Einordnung des eigenen Werkes in die zahlreichen Synthesen zur europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, von denen anfangs nur einige wenige erwähnt wurden, hätte man sich gewünscht. Die Literaturhinweise beschränken sich, vermutlich auf Wunsch des Verlags, auf angelsächsische und deutsche Forschung. Jarausch kennt sicher mehr. Man hätte am Ende gerne eine räsonierende Bibliographie gehabt.

Insgesamt ist dieses Opus Magnum die herausragende Leistung eines Historikers in seinen eigenen frühen Siebzigern, einem guten Alter für Historiker. Jarausch wagte es als einer von ganz Wenigen, eine Geschichte Europas des ganzen langen 20. Jahrhunderts zu schreiben. Im engeren Sinne ging dieses Wagnis im englischsprachigen Raum nur Mark Mazower ein. Konrad Jarausch legt ein Werk vor mit einem ganz eigenen, konsistenten Konzept, mit einem voll überzeugenden eigenen Narrativ, mit einer hohen analytischen Schärfe im Großen wie im Detail, mit enormen Wissen und unglaublicher Literaturkenntnis, und mit einer sehr handfesten, auf viel Skepsis und Bodenhaftung beruhenden, ziemlich positiven Botschaft für Amerikaner und für Europäer über die jüngere Geschichte Europas.

Anmerkungen:
1 Mark Mazower, Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, London 1998 (dt. Ausgabe: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert , Berlin 2000).
2 Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, New York 2005 (dt. Ausgabe: Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006).
3 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century: 1914–1991, London 1994 (dt. Ausgabe: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995).