J. Thiel (Hrsg.): Ja-Sager oder Nein-Sager

Titel
Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961


Herausgeber
Thiel, Jens
Erschienen
Berlin 2011: Aurora Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Albert, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Neuere deutsche Literatur, Freie Universität Berlin

Wozu 400 Seiten umfangreich kommentierter Dokumentationstext für eine zweitägige Veranstaltung, geplant für den 7. bis 9. Dezember 1960 an der Hamburger Universität, schließlich abgehalten dort auf der Initiative der ZEIT, am 7. und 8. April 1961? Die verquere Relation zeugt für die komplexe Vorgeschichte der ursprünglich vereinbarten XII. Generalversammlung des ‚PEN-Zentrums Ost und West’, ebenso wie für die unendliche Wort- und Textgläubigkeit zumindest der östlichen Kulturfunktionäre, der die westlichen recht hilflos gegenüberstanden. Herausgeber Jens Thiel bezeichnet das zunächst am 7. Dezember 1960 begonnene, dann durch Polizeieinsatz abgebrochene Hamburger Spektakulum, wahlweise auch Spectaculum, als „Lehrstück aus dem Kalten Kulturkrieg in zwei Akten“ (S. 7), und an jähen Wendungen, Überraschungsangriffen wie Intrigen fehlte es dem Sujet durchaus nicht. PEN-Brüder ohne Asyl titelte die Allgemeine Sonntagszeitung am 18. Dezember 1960 (S. 101f); die CDU-/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages lobte „die verhinderung der tagung des sowjetzonalen pen-zentrums“ (S. 137) und kritisierte die ZEIT für die erneute Einladung. Diese hätte sich an jene Schriftsteller richten müssen, „die aus der zone nach berlin und westdeutschland“ geflüchtet waren. (S. 138).

Kern des Problems ist die Spaltung des 1948 in Göttingen gegründeten PEN-Zentrums Deutschland in ein ab 1951 eigenständiges Deutsches PEN-Zentrum Bundesrepublik und das verbleibende Deutsche PEN-Zentrum Ost und West, bestätigt 1953 in Dublin.1 Ihm gehörten gelegentlich nur sieben bis acht genuin westdeutsche, dazu auch einige schweizer und österreichische sowie zahlreiche DDR-Autoren an. Nach wie vor offiziell betont, schwand der gesamtdeutsche Charakter zugunsten eines Clubs von DDR-Autoren, „in deren Schlepptau sich auch noch ein paar mehr oder weniger bedeutende bundesdeutsche Mitglieder befanden.“ (S. 9) – etwa der literarisch marginale, bis Mitte 1960 als Präsident amtierende Johannes Tralow. Er hatte schon am 26. Januar 1961 äußerst realistisch an den ehemaligen Emigranten Richard Cahen geschrieben: „Aber Ihr Westler lasst Euch ja alles gefallen, und so geschieht es Euch ganz recht. Ich habe die Neese plein.“ (S. 127)2. Umso mehr beharrte „Dr.“ seinerseits darauf, „dass das deutsche PEN-Zentrum Ost und West nicht eine Propaganda-Organisation ist, sondern dass das deutsche PEN-Zentrum Ost und West eine oder vielleicht die repräsentative Organisation der Literatur des anderen Deutschland, der Literatur des antifaschistischen und humanistischen Deutschland ist.“ (S. 89f.). Natürlich verschwieg er, dass die Institution direkt dem ZK der SED unterstellt war! Seine Bilanz des abgebrochenen ersten Treffens lautete gleichwohl: „So haben wir nur gut gewohnt und unproletarisch luxuriös gefressen und die Huren von Turnbridge besucht und es war ein besonders guter Kongreß.“ (S. 59).

Die überaus ungleiche Verteilung symbolischen Kapitals und literarischen Selbstbewusstseins lässt sich an den Namenslisten für die in Aussicht genommene Zweitauflage des Treffens ablesen: Über Wochen hinweg wurden Listen mit erwünschten oder missliebigen westlichen Rednern ausgetauscht, in denen etwa Marcel Reich-Ranicki zu den in „Wiener Literaturkreisen unbekannte[n], obskure[n] Größen“ zählte und Heinrich Böll als „sozusagen unpolitische[r] Romanautor und Novellist“ allenfalls noch durchging. (S. 168). Im Endeffekt stritten am 7. April 1961 unter der Moderation von Wieland Herzfelde Siegfried Lenz, Martin Walser und der Slawist Ludolf Müller mit Peter Hacks, Heinz Kamnitzer und Stephan Hermlin um Tolstoi und die Krise der Kunst, am 8. April Arnold Zweig, Hans Mayer und Stasi-Informant Carl August Weber (S. 67f.) mit Martin Beheim-Schwarzbach, Marcel Reich-Ranicki und Hans Magnus Enzensberger um die Rolle des Schriftstellers in Ost und West. Dass Moderator und ZEIT-Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt anschließend von einem „Pult-Trauma“ (S. 299) sprach, lässt sich an den folgenden 46 Dokumenten (einschließlich Auswertung der Presse, vgl. S. 29, Anm. 56) deutlich nachvollziehen. Den 110 Seiten Tagungsdokumentation stehen genauso viele medialer Rezeption und nachträglicher Reflexion gegenüber. Dies spricht für die Brisanz, wenn auch nicht unbedingt für die diskursive Produktivität des Themas „Ja-Sager oder Nein-Sager?“ (S. 198), hier übrigens im Gegensatz zum Buchtitel mit Fragezeichen! Die ausgetauschten Argumente fielen so erwartbar aus wie sie es schon beim „[E]rsten Gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß nach dem Zweiten Weltkrieg im Ost-Sektor Berlins vom 4. bis 8. Oktober 1947“ gewesen waren (vgl. die Grundsatzkritik von Ludwig Marcuse, S. 392-400).4 Spannung kam immer dann auf, wenn die Disputanten als Personen, nicht als Staatsvertreter sprachen und dabei zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellte. „Wann lügen wir?“ fragt unter starkem Beifall „Dr. Martin Walser“ (S. 285) und lieferte so zahlreichen Journalisten eine willkommene Formulierungshilfe (vgl. S. 333).5 Differenzierter als das Podium reagierte oft das Publikum mit seinen spontanen Zurufen, Beifalls- und Missfallenskundgebungen; es wird später von Rudolf Walter Leonhardt im Einklang mit einem Besucher als „das intelligenteste Publikum, das ich je erlebt habe“ (S. 301), qualifiziert.

Der Herausgeber delegiert weitere Forschungen zum Thema an Diskurs- und Rezeptionsgeschichte (S. 27, Anm. 9). Aber auch einer psychodynamisch und kulturanalytisch informierten Geschichtswissenschaft sollte es möglich sein, die impliziten Spannungen, nicht nur deutsch-deutscher Diskurse, nachzuvollziehen.6 Der Rezensent der Nürnberger Zeitung brachte es am 10.4.1961 auf den extremen Punkt: „[M]it Leuten, die sich durch eine freie Meinungsäußerung selbst in höchste Gefahr bringen, sollte man kein öffentliches Gespräch veranstalten. Man stellt sie vor die Frage, zu heucheln oder sich selbst zu gefährden. [...] Und darum war das Gespräch in Hamburg nicht nur unnötig, sondern auch unmenschlich.“ (S. 327).

Anmerkungen:
1 Vgl. Dorothée Bores, Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951-1998. Ein Werkzeug der Diktatur?, Berlin/New York 2010 sowie Christine Hörnigk, Art. „P.E.N.“, in: Michael Opitz/Michael Hofmann (Hrsg.), Metzler-Lexikon DDR-Literatur, Stuttgart/Weimar 2009, S. 251-252, allerdings ohne Erwähnung der hier behandelten Veranstaltung.
2 Johannes Tralow (1882 Lübeck – 1968 Ost-Berlin) hatte durch historische Romane, besonders über die osmanische Herrschaft, zu reüssieren versucht, war aber mangels Erfolg um 1960 in die DDR übergesiedelt. Sie bildete ihn immerhin auf einer Zehn-Pf.-Briefmarke ab und gönnte ihm ein Grab auf dem Ost-Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof.
[3] Sie wurden auch von Brecht/Weills Macky Messer frequentiert. Eine Aufführung der Dreigroschenoper in Hamburg ist im Dezember 1960 allerdings nicht nachweisbar. Hacks sah das Stück erst einige Tage später am Berliner Ensemble (S. 59).
4 Vgl. die gleichnamigen, von Waltraud Wende-Hohenberger herausgegebenen Protokolle, zunächst Privatdruck Siegen 1987, dann Frankfurt am Main 1988, sowie die wesentlich umfangreichere, durch eine Einführung und zahlreiche Verzeichnisse erschlossene Dokumentation: Ursula Reinhold/Dieter Schlenstedt/Horst Tannenberger (Hrsg.), Erster Deutscher Schriftstellerkongress 4.-8. Oktober 1947. Protokolle und Dokumente, Berlin 1997.
5 Entsprechend fällt auch die „Einschätzung“ der Kulturabteilung des ZK der SED sehr verhalten aus: Die DDR-Delegation habe „die gebotenen Möglichkeiten nicht (offensiv C.A.) genutzt (S. 379), in Zukunft sollten „Provokateure wie Reich-Ranicki“ isoliert (S. 381) und „politisch feste und zuverlässige Schriftsteller“ nach Westdeutschland entsandt werden (S. 382).
6 In diese Richtung geht auch die Rezension des in Anm. 4 erwähnten Bandes von 1997 von Friederike Eigler, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), S. 626-628.

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