L. Arndt u.a. (Hrsg.): Dierk Schmidt. The Division of the Earth

Titel
Dierk Schmidt. The Division of the Earth. Tableaux on the legal synopsis of the Berlin Africa conference. Zu rechtlichen Synopsen der Berlin Afrika-Konferenz


Herausgeber
Arndt, Lotte; Kruemmel, Clemens; Schmidt, Dierk; Schmutz, Hemma; Stoller, Diethelm; Wuggenig, Ulf
Erschienen
Köln 2010: Walther König
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für INOGS und H-Soz-Kult von:
Reinhart Koessler, Arnold-Bergstraesser-Institut, Freiburg

Die Berliner Afrika-Konferenz hat seit ihrem 100. Jahrestag 1984 verschiedentlich zu Initiativen Anlass gegeben, an diese im Gedenkkalender eher vernachlässigte Weichenstellung für den Nachbarkontinent Europas und den modernen Kolonialismus insgesamt zu erinnern. Der vorliegende Band leistet zu dieser noch immer notwendigen Auseinandersetzung einen spezifischen, höchst kreativen und in verschiedener Hinsicht weiterführenden Beitrag. Wie schon das große, zunächst unhandlich erscheinende Format andeutet, handelt es sich nicht um eine ausschließlich wissenschaftliche Publikation im landläufigen Sinne. Vielmehr wird hier ein mehrdimensionales, interdisziplinäres Projekt dokumentiert, in dessen Mittelpunkt zwei Serien von Tableaux des Berliner Künstlers Dierk Schmidt stehen, die 2005 im Salzburger Kunstverein und 2007 auf der documenta 12 in Kassel gezeigt wurden.

Die Darstellung der Tableaux und die Dokumentation der mit ihnen bestrittenen Ausstellungen bilden den Kern des Buches, um den sich ein ausführlicher Teil „Seminar/Research/Questions“ sowie eine abschließende Quellendokumentation gruppieren. Der auch später noch erweiterte Gesamtzyklus ist Bestandteil eines größeren Komplexes von Forschungsarbeiten und Debatten, die vor allem 2007-2008 im Kunstraum der Universität Lüneburg mit einer Reihe von Experten und Studierenden durchgeführt wurden und 2008 in einem Workshop über „The Abstractions of International Law and Abstract Image Languages of Art“ an der Universität Lüneburg gipfelten.

Dieser Titel bezeichnet zugleich das zentrale Anliegen des Gesamtunternehmens: Mit den Mitteln künstlerischer Abstraktion soll das abstrahierende Verfahren des Völkerrechtes verdeutlicht werden, mit dem im Fall der Berliner Afrika-Konferenz die rechtlichen Grundlagen dafür gelegt wurden, den Kontinent ohne Ansehen gesellschaftlicher oder auch kultureller Zusammenhänge, oft auch der geographischen Morphologie und vor allem jeglicher indigener Rechte unter europäischen Mächten aufzuteilen. Argumentativer Ausgangspunkt ist daher die für dieses Verfahren entscheidende Fiktion der terra nullius, durch die die umfassende koloniale Landnahme formalrechtlich legitimiert wurde. Wie vor allem die Kunsthistorikerin Susanne Leeb zeigt, positioniert sich das spezifische von Schmidt entwickelte und hier angewandte, an Formen der Kartographie angelehnte Abstraktionsverfahren innerhalb einer breiteren Tendenz in der Gegenwartskunst, mit Mitteln der graphischen Darstellung die Auseinandersetzung mit Verwaltungshandeln und Machtstrukturen zu führen. Schmidt verfolgt dieses Programm in zwei Richtungen: Zum einen möchte er durch die Visualisierung des Geschehens auf der Berliner Konferenz den systematischen Ausschluss der Afrikaner als primär von den dort gefassten Beschlüssen Betroffene verdeutlichen. Zum anderen aber nimmt er die Auseinandersetzung um die 2001 in den USA angestrengte Klage der Herero People’s Reparations Corporation (HPRC) gegen die Bundesrepublik Deutschland und deutsche Firmen auf, die damit ihren Forderungen nach Reparationen für den während der Kolonialkriege 1903-1908 im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, verübten Völkermord Nachdruck verleihen wollen. Auf diese Weise wird zunächst nachdrücklich deutlich, wie die durch die Fiktion der terra nullius sowie andere Aspekte des in der Periode des Hochimperialismus geltenden Völkerrechts geschaffenen Verhältnisse bis in die Gegenwart fortwirken. Dabei arbeitet Schmidt in seinen Tableaux eindrücklich die Inbesitznahme des Territoriums nach dem in der Berliner Generalakte verankerten Prinzip der effective occupation und die darauf folgende Zurichtung des Landes im Dienste in den Kolonialmetropolen beheimateter ökonomischer Interessen heraus. Im Zentrum stehen dabei die Überlagerung der vorkolonialen Verhältnisse durch die Annahme der Herrenlosigkeit und die Verdichtung der externen Verfügung, die in Namibia vor allem an den Eingeborenenverordnungen von 1906/07 festgemacht wird.

Die Neukonstituierung einer kollektiven Herero-Identität in der Auseinandersetzung um den Völkermord und seine Folgen ist Thema des zweiten Teiles des Zyklus. Unter Anknüpfung an die Formensprache, die im Paradieren der oturupa („Truppenspieler“) zum Ausdruck kommt und heute ein zentrales Merkmal demonstrativer Herero-Ethnizität darstellt, wechselt die Symbolsprache von Dreiecken und Ovalen, die Ansprüche auf Land, deren Negation oder Durchsetzung markieren, zu Fußspuren, die unter Verweis auf die rituelle Praxis des Paradeschrittes zugleich das Eintreten heutiger Herero für ihre Ansprüche und Rechte repräsentieren. Dabei geht es zum einen um die Formen, in denen Herero bei rituellen Anlässen ihren Gemeinschaftszusammenhang reproduzieren; Schmidt stellt den Herero-Tag in Okahandja der Otjiserandu in den Mittelpunkt, das bekannteste einer ganzen Serie von Gedenkfesten. Dieses bekannte Ritual kommentiert das Otjiserandu-Mitglied Usiel Kandji aus einer noch immer seltenen Innenperspektive. Zum anderen greift Schmidt die Klage von Herero in den USA auf, in der ebenfalls Handlungskompetenz ebenso zum Ausdruck kommt wie die unabgegoltene Last der Vergangenheit. Zugleich verweist ein abschließendes, durch seine Figürlichkeit aus den übrigen Tableaux herausstechendes Porträt von Heidemarie Wieczorek-Zeul auf die 2004 ausgesprochene Entschuldigung der damaligen Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und damit zugleich auf die größtenteils noch ausstehende Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Kolonialverbrechen.

Die Abteilung Seminar/Research/Questions bringt im ersten Teil zumeist recht knappe Darstellungen und Diskussionsbeiträge, einige davon in Form von Interviews. Hier wird zunächst die Berliner Afrika-Konferenz dargestellt und kontextualisiert. Perspektivisch stehen dabei Gegenwartsthemen immer mit zur Debatte – etwa, wenn Elikia M’Bokolo die retrospektive Wirksamkeit der UN-Konvention gegen Völkermord von 1948 unterstreicht oder Jörg Fisch nach der Erläuterung der Problematik der terra nullius auch zum Fortleben dieser Figur in aktuellen Konzepten wie jenem der „zusammengebrochenen Staaten“ (failed states) Stellung nimmt, das wiederum dazu dient, Intervention, wenn auch nicht unbegrenzte Besatzung zu rechtfertigen. Klingt hier die Frage der Reparation oder Restitution bereits an, wird sie in den folgenden fünf Beiträgen ausführlicher beleuchtet, vor allem durch eine Problematisierung der Forderung nach Schuldenerlass für überschuldete Länder, eine kurze Kritik an den Millennium Development Goals, eine Skizze der Antikolonialen Afrika-Konferenz, die in Berlin 2004 zum 120. Jahrestag der Berliner Konferenz stattfand, und schließlich mit der Dokumentation der Forderung nach Entschädigung für den transatlantischen Sklavenhandel. Darauf wird ebenfalls in recht knappen Beiträgen auf die Hintergründe der Forderungen der HPRC eingegangen. Neben historischen Basisinformationen zur deutschen Kolonialherrschaft in Namibia stehen ausführlichere Hinweise auf die Strategie der HPRC und das komplexe innenpolitische Feld, auf dem sie sich in Namibia bewegt. Weiter wird die komplexe, insbesondere durch Firmenfusionen und Erbgänge gekennzeichnete Gemengelage der beklagten deutschen Firmen, hier am Beispiel von Woermann/Deutsche Afrika-Linien, aufgerollt. Ferner wird hier wie auch im Fall der Deutschen Bank die Weigerung der betroffenen Unternehmen dokumentiert, Auskunft zu geben, ihre Archive zu öffnen oder sich auch nur auf eine Diskussion einzulassen. Die Auflistung der diversen Bundestagsinitiativen, die seit 2005 von Oppositionsparteien gestartet wurden, weist kaum eine aussichtsreichere Perspektive auf. Andererseits verdeutlicht die kurze Darstellung der Landproblematik in Namibia, unter anderem aufgrund von Gesprächen mit dem Generalsekretär der Farmarbeitergewerkschaft Alfred Angula, das Ausmaß der sozialen Problematik und der Erwartungshaltung, die in Namibia besteht. Die symbolische Dimension des Landproblems unterstreicht Karen Kappmeyer durch die Konfrontation von auf offiziellen Karten eingezeichneten kommerziellen Farmen – zumeist mit weißen Eigentümern – mit Preisliedern von Herero. Eindrucksvoll wird so die Bedeutung einzelner Orte und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Familiengruppen belegt.

Die völkerrechtliche Dimension der Reparationsfrage zeigt einmal die Komplexität der Zuweisung und Anerkennung von Schuld und Verantwortung, aber auch rechtlich fassbarer Verpflichtungen auf und verweist andererseits zurück auf die anhand der Berliner Konferenz aufgezeigte Problematik des Ausschlusses der Kolonisierten. Da die Ereignisse in Ablauf und Dimension insgesamt unstrittig sind, wird auch kaum bezweifelt, dass das Vorgehen der deutschen Schutztruppe 1903-1908 aus heutiger Sicht als Völkermord zu ahnden wäre. Eine retrospektive Anwendung der Konvention von 1948 oder anderer neuerer völkerrechtlicher Instrumente verstieße aber gegen zentrale Rechtsprinzipien. Daher ist zu fragen, ob sich ein justiziabler Tatbestand aus zum damaligen Zeitpunkt gültigen Rechtsinstrumenten konstruieren lässt. Während ein Vorgehen wie das der deutschen Schutztruppe in Namibia unter anderen Umständen unter Verbote des Rechtes im Kriege, insbesondere der Haager Landkriegsordnung gefallen wäre, wird dies im vorliegenden Fall durch die eingebauten Asymmetrien des Völkerrechtes ausgehebelt. Vor allem gilt das Völkerrecht nur zwischen Souveränen, und da Kolonisierte schon durch die terra-nullius-Argumentation von diesem Status ausgeschlossen waren, wurden sie auch nicht durch die Schutzmechanismen des noch in den Eierschalen liegenden humanitären Völkerrechtes geschützt. Dementsprechend können diese Bestimmungen auch heute keine Entschädigungsansprüche begründen. Allerdings sieht Malte Jaguttis eine Möglichkeit, zu anderen Schlüssen zu kommen, in der Form der Schutzverträge, die deutsche Beamte zu Beginn der Kolonisierung mit einer Vielzahl von Häuptlingen abgeschlossen haben. Diese seien, so Jaguttis, damit durchaus als Völkerrechtssubjekte anerkannt worden. Dies bezweifelt Jörn Axel Kämmerer, doch bieten auch für ihn die Schutzverträge Anhaltspunkte, die freilich eher von einem „deutsch-namibischen Schiedsgericht“ (S. 89/294) zu verhandeln wären, zudem unter Umgehung möglicher Konsequenzen für andere ehemalige Kolonialmächte, für die dieser Fall zum folgenreichen Präzedenzfall werden könnte. Wie auch immer: Weil die Kolonisierten vor 130 und vor 100 Jahren aus dem Geltungsbereich des Völkerrechtes durch Konsens der Kolonialmächte ausgeschlossen waren, können ihre Nachfahren auch heute, wo das Völkerrecht dem Anspruch nach universalisiert ist, auf diesem Wege nicht zu ihrem Recht kommen. Diese Konsequenz arbeitet M.N. Kaapanda-Girnus unter Bezug auf die postkoloniale Völkerrechtsdebatte heraus, die eben hier ansetzt. Grundsätzlich erweist sich das Völkerrecht als ein provinzielles, das heißt europäisches Konstrukt, das im Zuge der global ausgreifenden Kolonialherrschaft auf den gesamten Planeten ausgedehnt und durch die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien universalisiert wurde. Kaapanda-Girnus plädiert nicht für die im Kontext der postkolonialen Debatte erhobene Forderung, das eurozentrische Völkerrecht ganz aufzugeben, sondern, nicht unähnlich wie Kämmerer, für einen pragmatischen Zugang. Nikita Dhawan fügt dem, gleichfalls aus einer postkolonial-feministischen Perspektive, aber in kritischer Wendung gegen rabiatere postkoloniale Positionen, die grundlegendere Einsicht einerseits in die Gewaltdimension des Rechts, aber auch weitergehend in die Ambivalenz oder das „Paradox“ der Aufklärung hinzu, die trotz ihrer maskulinistischen und eurozentrischen Momente doch für eine emanzipatorische Perspektive „unverzichtbar“ sei. Gerade daher bestehe die Herausforderung darin, Aufklärung – und Recht – „über die Grenzen Europas hinaus“ zu denken (S. 101/305). Einen besonderen Beitrag zu diesen Überlegungen hat Peter Katjavivi geleistet, der damals namibischer Botschafter in Berlin war, sich zugleich aber auch in seiner Eigenschaft als prominenter namibischer Historiker zu Wort meldete. Neben der Forderung nach einem „strukturierten Dialog“ (S. 92/296), der ohne Vorbedingungen, vor allem ohne die immer wieder laut gewordenen Vorgaben von deutscher Seite erfolgen müsse, betonte er noch einmal die schwerwiegenden, vor allem konzeptionellen Folgen der Einteilung der Nationen in zivilisierte und unzivilisierte. Der Band insgesamt gibt eindrucksvolle und eindeutige Belege dafür, dass dieser Zustand noch keineswegs überwunden ist, aber auch Anregungen und Provokationen dazu, Wege zur Emanzipation aus diesen Fesseln zu finden, in denen, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise, beide Seite des postkolonialen Verhältnisses nach wie vor befangen sind.

Der Band besticht durch eine überaus sorgfältige Ausstattung und Verarbeitung. Das gilt nicht allein für die Reproduktionen der Tableaux und die Dokumentation ihrer Präsentationen. Auch die Textteile sind mit informativem Bildmaterial ausgestattet; in den Legenden werden etwa die zeitgenössischen Abbildungen der Berliner Afrika-Konferenz analysiert und zu Schmidts Interpretation in Beziehung gestellt. Die Texte sind insgesamt informativ, wenn sich auch in die Darstellung namibischer Verhältnisse kleinere Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. Problematisch ist allein die sprachliche Form der meisten Texte, deren teils recht komplexe Gedankenführung sich in den englischen Übersetzungen oft nur unzureichend nachvollziehen lässt; hinzu kommen viele sprachliche Ungeschicklichkeiten, so dass man dankbar auf die im Anhang enthaltenen deutschen Originale zurückgreift. Dies allerdings wie bei der Auseinandersetzung mit dem gesamten Buch mit Gewinn – und dieser liegt, wie es sich in diesem Fall gehört, nicht allein in der Rezeption sprachlich kodierter Informationen und Argumente, sondern besonders in der Vertiefung in die Formensprache der Tableaux und den Diskurs, den sie eindrucksvoll kodieren und vermitteln.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem International Network of Genocide Scholars (INOGS). http://www.inogs.com/
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