Titel
Familienbilder. Selbstdarstellung im jüdischen Bürgertum


Autor(en)
Bertz, Inka
Reihe
Zeitzeugnisse aus dem Jüdischen Museum Berlin
Erschienen
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Weber, Bröhan Design Foundation, Berlin

Das Thema Bürgertum ist aktuell wieder in Mode. Als Jens Bisky, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, neulich den endgültigen Tod des Bürgertums proklamierte, welcher seiner Meinung nach nicht erst gestern, sondern bereits vorgestern eingetreten sei, blieb der Artikel nicht ohne Widerhall. Prompt erschienen mehr oder minder empörte Kommentare zu Biskys Kritik am „Bürgerlichkeitsgeschwätz“. Wie man sieht: Totgeglaubte leben länger.

Mit einer Zeit, in der zumindest die Existenz eines deutschen Bürgertums nicht umstritten ist, befasst sich Inka Bertz, Leiterin der Sammlungen für Kunst und Kuratorin des Jüdischen Museums Berlin in ihrem Essay „Familienbilder“. Der kleine und liebevoll gestaltete Band aus der Serie „Zeitzeugnisse“ aus dem Jüdischen Museum ist begleitend zur Ausstellung „Stil(l)halten“ erschienen, die vom 6. Oktober 2004 bis zum 16. Januar 2005 stattgefunden hat. Ausgangspunkt des Essays ist das 1850 von dem Berliner Maler Julius Moser verwirklichte Gruppenporträt der während des Biedermeiers in Berlin ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie Manheimer. Anhand des Gemäldes aus dem permanenten Bestand des Jüdischen Museums will Bertz die Identität des jüdischen Bürgertums zwischen familiärer Intimität und öffentlicher Darstellung exemplarisch verorten. Das Gemälde nehme, so Bertz, eine Schlüsselposition ein, denn es verrate Genaueres und vor allem Allgemeingültiges über den „Wertehimmel“ des jüdischen Bürgertums vom Biedermeier bis in moderne Zeiten.

In den ersten sechs von insgesamt elf Kapiteln befasst sich Bertz ausschließlich mit dem schönen und lebendigen Porträt, das die Familie Manheimer im intimen Rahmen ihrer Wohnstube am Berliner Kupfergraben bei abendlichem Klavierspiel und Masurkatanz zeigt. Dabei geht es in der Familie recht heiter zu. Wie auf einer Bühne scheinen die Porträtierten in Spiel und Tanz zu agieren. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch die bühnenhafte Komposition des Gemäldes. Bertz widmet sich ausgiebig, stellenweise allzu detailverliebt, der Beschreibung des Porträts. Im Rahmen der direkten Werkbesprechung beschäftigt sie sich außerdem ausführlich mit der Familiengeschichte der Manheimers. In der aufmerksamen Betrachtung der schlichten Inneneinrichtung sowie der Einordnung scheinbar unwesentlicher Details wie des Möbeldekors oder des Geschirrs erfahren die Leser/innen Wissenswertes über den Ausstattungsstandard der Berliner Wohnungen im Biedermeier. Auch in ihrer Kenntnis über die wandelnde Bekleidungs- und Frisurenmode der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweist Bertz sich als Spezialistin, die den Leser/innen durch die Einordnung von im Jahr 1850 schon längst als passé gehandelten Keulenärmeln und tiefen Dekolletés einen angenehm lebensnahen Zugang zur Sittengeschichte der Epoche ermöglicht. Ihrem deskriptiven Übereifer zum Trotz versteht die Kuratorin, stets zwischen thematischer Stichhaltigkeit und kompositorischer Notwendigkeit des Porträts von Moser zu unterscheiden. Hingegen wirkt die Verfolgung der Familienschicksale, bzw. der Schicksale der Nachfahren der Porträtierten bis in den Nationalsozialismus und die Zeit der Vernichtungslager reichlich forciert. Das Sujet des Essays wird so zusehends schwammig. Zudem ist die Lektüre der beinahe tabellarisch aneinander gereihten Ahnengeschichte eher unerquicklich und hätte besser durch den übersichtlichen Stammbaum, der am Ende des Essays abgebildet ist, abgehandelt werden können. Trotz oder gerade wegen aller Ausführlichkeit, gelingt es Bertz nicht, das Entscheidende, nämlich die Stellung der Familie Manheimer innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft prägnant zu skizzieren.

Entscheidender als modische Vorlieben und Ahnengeschichte der Manheimers ist ihr Verhältnis zu Kunst und Musik, wie Bertz richtig feststellt. Die Hervorhebung der musischen Begabung der vier älteren Kinder, die tanzend, Klavier spielend oder aber poetisch sinnend von Moser in Szene gesetzt werden sowie die Präsenz des Künstlers im Kreise der Familie dürften auf klare Anweisungen des Auftraggebers zurückzuführen sein. Nicht als Handeltreibende, sondern als dem Bildungsbürgertum zugehörig möchte Familienoberhaupt Moritz Manheimer sich und seine Lieben repräsentiert wissen. Dieses Anliegen ist gerade vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der Zeit interessant, blieb der jüdischen Bevölkerung in Preußen doch unter König Friedrich Wilhelm IV. trotz der neuen Verfassung von 1850 die Gleichberechtigung weiterhin verwehrt. Sogar der entwürdigende Leibzoll musste noch bis 1862 entrichtet werden. Das Gemälde wagt dementsprechend einen selbstbewussten Blick in eine bessere Zukunft.

Im zentralen Kapitel des Essays „Juden – Bürger – Deutsche“ versucht Inka Bertz, das Gemälde in den gesellschaftlichen Kontext der Zeit einzuordnen. Dass das Porträt keine explizit jüdischen Charakteristika aufweist und keinen Hinweis auf die Religion der Dargestellten enthält, lässt darauf schließen, dass – wie bei einem Großteil der jüdischen Familien der Zeit – auch bei den Manheimers kein enger Bezug zur jüdischen Gemeinde bestanden zu haben scheint. Moritz Manheimer gehörte der 1845 gegründeten „Jüdischen Reformgemeinde“ an und ging zum deutschsprachigen Gebet in den „Reformtempel“, währenddessen seine älteste Tochter Babette eine christliche Schule besuchte, welche die Familie ihrer fortschrittlichen pädagogischen Methoden wegen gewählt hatte. Dies sei, so Bertz, typisch für den wohlhabenderen Teil der jüdischen Bevölkerung, der früher als der Rest der Bevölkerung begann, größere Sorgfalt auf die Erziehung weniger Kinder zu verwenden. Sozialer Aufstieg auf der einen, Akkulturation und Verlust der religiösen Bindung auf der anderen Seite sind dem Porträt der Manheimers eingeschrieben und machen es zu einem Dokument seiner Zeit, schließt Bertz ihre Abhandlung zu Mosers Gemälde.

An dieser Stelle des Essays erfolgt eine Zäsur, ab der Bertz sich der Entwicklung des Familienporträts als Genre zuwendet. Die Kapitel zur Gattungsgeschichte vom Biedermeier bis in die Moderne, die den Leser vom Porträt des Freiherrn Martin von Magnus im Kreise seiner Familie – besondere Beachtung verdienen hier die zwei romantisch-revolutionär dreinblickenden Söhne – bis hin zu Otto Dix Porträt der Familie des Rechtsanwaltes Dr. Fritz Glaser führen, bestechen durch die schöne Auswahl an farbigen Reproduktionen. Vor allem das auf Veroneses „Hochzeit zu Kanaa“ gemünzte Porträt des Berliner Verlegers Mosse und seinen in Renaissanceroben gewandeten Familienmitgliedern und Freunden ist eine Entdeckung. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Berlin im Biedermeier eine Vorrangstellung innerhalb des Genres zukam, was vor allem daran liegen dürfte, dass die Stadt zum einen im deutschsprachigen Raum die zahlenmäßig größte jüdische Gemeinde beherbergte und zum anderen eine im Verhältnis zu anderen Städten hohe Künstlerkonzentration aufzuweisen hatte. Zu Recht bezieht sich Bertz auf die erste Generation bürgerlicher Maler/innen mit Daniel Chodowiecki oder Suzette Henry, die die regionale Gattungsgeschichte Berlins geprägt und die nachfolgende Künstlergeneration angeregt hatte. Bertz versucht, für das Familienporträt des Biedermeiers quantifizierende Aussagen über das Verhältnis von jüdischen zu nicht-jüdischen Aufträgen zu treffen, räumt aber gleichzeitig ein, dass dies kaum möglich sei. Dennoch schätzt sie in den blauen Dunst hinein, dass „erstaunlich viele“ jüdisch gewesen zu sein scheinen (S. 81). Worauf sich diese Vermutung stützt, bleibt ein Geheimnis. Vor allem im Kapitel zum Biedermeier tauchen mehrere inhaltliche wie auch sprachliche Ungenauigkeiten auf, die der Schrift ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit nehmen. So wirkt beispielsweise Bertz’ Argumentation, dass Frankfurt trotz seiner recht großen jüdischen Gemeinde keine nennenswerte jüdische Familienporträtkultur besessen habe, weil „wohl vor allem die ungeheuer populären ,Bilder zum jüdischen Familienleben’ von Moritz Daniel Oppenheim, die viele Elemente von Familienbildern enthielten und so starke Identifikationsangebote machten, dass sie die Darstellung der eigenen Familie [...] gleichsam überflüssig erscheinen ließen oder ersetzten“ (S. 69), reichlich schwach.

In der Gründerzeit geriet das Familienporträt zwar langsam aus der Mode, dafür bewiesen die Auftraggeber einen zunehmend wagemutigen Geschmack. Davon zeugt neben dem bereits erwähnten veronesken Gastmahl des Verlegers Mosse auch das 1879 von Anton Werner verwirklichte Wandgemälde der gleichfalls in italienischer Renaissancemanier kostümierten Familie Pringsheim.

Mit der Moderne vollzieht sich im Genre eine verstärkte Individualisierung der einzelnen Dargestellten. Die Familie wird nicht als Kollektiv, sondern als Gruppe von einzeln zu Porträtierenden aufgefasst. In Max Liebermanns Gemälde von 1926, in dem der Künstler sich selbst skizzierend im Kreis seiner Familie festhält, wird diese Entwicklung geradezu prototypisch illustriert. Nicht nur der Maler, sondern auch alle anderen Porträtierten gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach. Es besteht keinerlei Blickkontakt zwischen den Familienmitgliedern. Tochter Käthe, einen Dackel auf dem Schoß, ist gänzlich isoliert und blickt gedankenverloren vor sich hin. Über das Wesen der Familie in der Moderne lässt sich daraus nichts schließen, jedoch über die Selbstauffassung des Künstlers, dem es nicht länger um die repräsentative Darstellung der Familie geht, sondern um die Verwirklichung seines persönlichen künstlerischen Anspruchs.

Eine wie auch immer geartete Verortung der Gemälde im soziokulturellen Kontext ihrer jeweiligen Entstehungsperioden, ein Blick auf die Verschränkung von Kunst und ihren gesellschaftlichen Bedingungen findet nicht statt. Bertz scheint das Porträt als formalistisches und bloßes, dem Zeitgeschmack unterworfenes Dekorum zu betrachten, nicht jedoch als ein historisch signifikantes Zeitzeugnis. Wenn Bertz in Hinblick auf ein Porträt Anton von Werners von 1887 bemerkt, dass „der Wandel, den die Gattung inzwischen durchlaufen hat, [...] am deutlichsten wohl an der Rolle der Kinder im Bild“ (S. 89) zu sehen sei, wird die fehlende Unterscheidung in eine kunsthistorische und eine gesellschaftliche Ebene hier überdeutlich.

Abschließend lässt sich feststellen, dass die kaum differenzierte Struktur des Essays programmatisch für den Inhalt ist. Der gattungsgeschichtliche Teil ist durchaus von Interesse, was jedoch die besprochenen Familienporträts zu explizit jüdischen Werken macht oder wie ihre Aussage über Selbstdarstellung und Identität der jüdischen Bürgerfamilien geartet ist, gerät über oftmals nebensächliche Informationen vollkommen in Vergessenheit. Vor allem die fehlende Gegenüberstellung zu christlichen Porträts der Zeit nimmt dem Essay jegliche Basis. Bertz’ Anliegen bleibt daher während der gesamten Lektüre unklar. Es erfolgt weder eine handfeste Bestandsaufnahme des angekündigten Themas noch eine sinnvolle Einordnung in den historischen beziehungsweise kunsthistorischen Kontext. Dabei hätte beispielsweise Carola Muysers Veröffentlichung zum Wandel des bürgerlichen Porträts 1 im Bereich der Moderne oder Andrea Kluxens Schrift zum „Ende des Standesporträts“ 2 reichlich Vergleichsmaterial geboten. Davon abgesehen kann die Charakterisierung eines Otto Dix-Gemäldes durch seine „scheinbare Biedermeierlichkeit der Malweise“ (S. 98) nur als kunsthistorischer Totalschaden gewertet werden.

Anmerkungen:
1 Muysers, Carola, Das bürgerliche Porträt im Wandel. Bildnisfunktonen und -auffassungen in der deutschen Moderne 1860-1900, Hildesheim 2001.
2 Kluxen, Andrea M., Das Ende des Standesporträts. Die Bedeutung der englischen Malerei für das deutsche Porträt von 1760 bis 1848, München 1989.

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