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Titel
Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen. Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970


Autor(en)
Schlatter, Christoph
Erschienen
Zürich 2002: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
540 S., 20 Abb.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Michelsen, Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaft, Universität Hamburg

Sexualität im Allgemeinen und gleichgeschlechtlicher im Besonderen haftet in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nach wie vor ein gewisser Exotenstatus an, was sich unter anderem in der Tatsache zeigt, dass selbst in manchen neueren Publikationen ein unangemessener Umgang mit diesem Themenbereich festgestellt werden muss: Ausweichen vor der "heiklen" Materie, unkritischer Bezug auf biologistische Theorien 1 oder sensationell aufgemachte "Enthüllungen" 2. Die vorhandene ernst zu nehmende Forschung zur Geschichte gleichgeschlechtlicher Lust und Liebe hat sich bisher überwiegend auf die Entwicklung der Rechtslage, die Organisationen und Publikationen der frühen homosexuellen Emanzipationsbewegung, auf medizinische Theorien sowie die NS-Verfolgung konzentriert. Es mangelt jedoch an umfassenderen Studien, die Fragen nach Kategorisierungen, Lebenskonzepten, Repression und Alltagsgeschichte zusammenführen. Auch archivaliengestützte Untersuchungen der Verfolgungspraxis sind, mit Ausnahme der NS-Zeit in Deutschland, bisher rar. Die Untersuchung von Christoph Schlatter über mannmännliche Sexualität 3 anhand aller einschlägigen Gerichtsakten des Kantons Schaffhausen, die für die Zeit bis 1970 zu finden waren, markiert demgegenüber einen großen Schritt nach vorn, unter anderem, weil er "Homosexualität" und "Homosexuelle" nicht ahistorisch als gegeben voraussetzt, sondern beispielhaft die Genese dieser Kategorien ebenso untersucht wie den Wandel von Lebens- und Verfolgungspraktiken. Dabei berücksichtigt er die Problematik, dass der Großteil seiner Quellen einerseits von der Konfrontation mit staatlicher Verfolgung und womöglich entsprechend strategischem Verhalten der Beschuldigten geprägt ist, andererseits von der Perspektive der Verfolger; umso wertvoller sind einige private Dokumente, die nicht im Kontext des Strafverfahrens entstanden sind und – für die Betreffenden bedauerlicherweise – durch Beschlagnahme in die Akten gerieten. Mit welchen Vorbehalten bei einem solchen Forschungsprojekt immer noch gerechnet werden muss, zeigt eine wahrhaft krähwinklerische Auflage des kantonalen Obergerichts in Schaffhausen: Schlatter musste über die übliche Schutzfrist von 100 Jahren hinaus die Namen aller Betroffenen anonymisieren, also selbst diejenigen aus dem 19. Jahrhundert; er behalf sich mit der Kreierung von als solche gekennzeichneten Pseudonymen. Derartige Beschränkungen dokumentieren nicht nur eine Sicht auf Homosexualität als etwas angeblich Ehrenrühriges, sondern erschweren auch anderen ForscherInnen das Verfolgen von Querverbindungen, in diesem Fall beispielsweise von der Grenzstadt Schaffhausen in die Nachbarländer Deutschland und Frankreich.

In einer – etwas knapp geratenen – theoretischen Einleitung verortet Schlatter seine Arbeit in der sexualitätshistoriographischen Debatte über Essenzialismus versus Konstruktivismus und benennt als seine methodischen Leitfäden den soziologischen "labeling approach" und die theoretischen Ansätze Michel Foucaults. Neueste Weiterentwicklungen wie die Queer Theory klammert er aus. Es folgen eine kurze Skizzierung der Entwicklung Schaffhausens im 19. und 20. Jahrhundert – trotz Industrialisierung eine Provinzstadt mit überwiegend agrarischem Umland – sowie des Prozesses der Medikalisierung gleichgeschlechtlichen Verhaltens seit dem 19. Jahrhundert. Der umfangreiche Hauptteil der Studie teilt sich in die Analyse einerseits von Fremdbildern (Justiz und Polizei, Medizin und Psychiatrie, soziales Umfeld) und andererseits des "Subjekts des Begehrens" (Selbstbilder, Beziehungsformen, Subkultur). Den Abschluss bildet ein kleiner Quellenanhang.

Gerichtsakten als historische Quellen sind maßgeblich durch die jeweilige Rechtslage determiniert. In diesem Fall ist insbesondere die Zäsur zu beachten zwischen dem kantonalen Strafrecht, das bis 1941 galt, und dem gesamtschweizerischen Strafgesetzbuch, das zum 1. Januar 1942 in Kraft trat. Im Schaffhauser Strafgesetzbuch von 1859 wurde jegliche "widernatürliche Unzucht" mit Gefängnis-, in "schweren Fällen" mit Zuchthausstrafen bedroht. Die Tatbestandsdefinition, die noch an den alten Sodomie-Begriff erinnert, konnte sowohl gleichgeschlechtliche Handlungen als auch solche mit Tieren oder nicht zur Zeugung geeigneten Sex zwischen Frau und Mann umfassen. Im seit 1942 geltenden Schweizerischen Strafgesetzbuch wurden gleichgeschlechtliche Handlungen "nur" noch im Falle der "Verführung" einer unmündigen Person zwischen 16 und 20 Jahren, bei Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses oder bei Gewerbsmäßigkeit (Prostitution) gesondert kriminalisiert. 4 Sexuelle Handlungen mit Tieren, die bereits zuvor in den Akten immer seltener auftauchen, wurden nicht mehr erwähnt. Beide Paragraphen betrafen theoretisch sowohl Männer als auch Frauen; tatsächlich ist in den Akten jedoch keine einzige Anklage wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Frauen überliefert. Es zeigt sich hier, ähnlich wie anderswo, die Orientierung der Definition sexueller Handlungen an Männern, die die historische Spurensuche nach Frauen begehrenden Frauen erschwert. In Bezug auf die Männer hat die Änderung der Rechtslage zur Folge, dass ab 1942 das Quellenmaterial nur noch einen sehr viel engeren Ausschnitt widerspiegelt als für die Zeit davor, da einvernehmliche, nicht materiell begründete sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen nur noch selten und zufällig greifbar sind.

Nicht alle Ergebnisse, die Schlatter aus den Akten geschöpft hat, können hier referiert werden. Unter anderem zeigt die Rechtspraxis, dass die strafrechtliche Liberalisierung keineswegs mit mehr Toleranz oder gar Akzeptanz einherging. Auch nach 1942 bemühten sich die Schaffhauser Richter – gestützt auf entsprechende Urteile des Schweizer Bundesgerichts –, möglichst wenige Angeklagte davonkommen zu lassen, indem sie die Kriterien für die Begriffe "Verführung" und "Gewerbsmäßigkeit" extrem weit fassten. Dahinter stand die Vorstellung, ein Jugendlicher könne bereits durch einmalige "Verführung" durch einen Mann homosexuell geprägt werden. Dabei beeindruckte es die Richter weder, wenn das angebliche "Opfer" inzwischen Vater geworden war (S. 100), noch wenn die "Tat" einen Monat vor dessen 20. Geburtstag, dem Mündigkeitsalter, stattgefunden hatte (S. 101). Wenn gar nichts half und das Verfahren eingestellt werden musste, griffen unter Umständen andere Sanktionen. So wurde 1961 ein Kaufmann mit deutscher Staatsangehörigkeit in sein Herkunftsland abgeschoben, unter gleichzeitiger Übersendung der Akten an die bundesrepublikanischen Behörden mit der Bitte um Prüfung, ob der dort noch in der NS-Fassung gültige § 175 – der jegliche sexuelle Handlung zwischen Männern unter Strafe stellte – angewandt werden könne (S. 78). Auch war die Praxis, Angeklagte zur Einwilligung in die Kastration zu drängen, nicht auf Nazi-Deutschland beschränkt; im Kanton Schaffhausen fand der letzte derartige Eingriff wegen Homosexualität 1961 statt.

Mittels zahlreicher Einzelbefunde kann Schlatter für die Zeit ab Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1920er Jahren, auf unterschiedlichen Ebenen den Prozess nachzeichnen, der von einer Auffassung mannmännlicher sexueller Handlungen als Einzelakten hin zur Entstehung der "homosexuellen Persönlichkeit" mit den ihr zugeschriebenen körperlichen und seelischen Merkmalen führte: Das Kantonsgericht ließ von Ärzten immer seltener Anus-Untersuchungen zur Feststellung stattgehabten Analverkehrs durchführen (zuletzt 1938), dafür wurden immer häufiger die Psychiater der Anstalt Breitenau um Gutachten zur Diagnose einer fraglichen homosexuellen "Veranlagung" gebeten. In der Umgangssprache, soweit die Akten darauf Rückschlüsse zulassen, wurden Ausdrücke wie "Spinatstecher", die sich auf den konkreten Akt des Analverkehrs bezogen, abgelöst durch Termini wie "warmer Bruder" und "schwul", die die Person in den Blick nehmen. Als typisches Merkmal galt bei Psychiatern und Bevölkerung effeminiertes Verhalten. Männer begehrende Männer adaptierten aus der Sexualwissenschaft stammende Denkmuster und verwendeten sie – nicht ohne eigenständige Abwandlungen – beispielsweise in Lebensläufen, die sie in der Haft verfassten und in denen sie ihr Sosein zu erklären versuchten. Paare von erwachsenen Männern, die eheähnlich, einschließlich der entsprechenden emotionalen Erwartungen aneinander, zusammen lebten, tauchen in den 1920er Jahren ebenso erstmals auf wie homosexuelle Lokale, ständige anonyme Treffpunkte und Kontakte zur organisierten Homosexuellenbewegung. Feste Institutionen wie Lokale blieben in Schaffhausen allerdings rar und kurzlebig, die dortigen Homosexuellen orientierten sich stark zur nahen Metropole Zürich.

Die Entwicklung der neuen Kategorie "Homosexualität" zeigt eine gewisse provinztypische "Verspätung" im Vergleich zu dem, was aus einigen Großstädten wie Berlin bekannt ist, und erscheint zuerst in den Bildungsschichten. Gleichzeitig verloren ältere, traditionellere mannmännliche Beziehungsmuster an Bedeutung, insbesondere die von Schlatter so bezeichneten "Schlafstubenbeziehungen", das heißt sexuelle Handlungen zwischen – meist jüngeren – Männern, die beispielsweise als Lehrlinge, Handwerksgesellen oder Landarbeiter in Gemeinschaftsunterkünften und nicht selten in gemeinsamen Betten nächtigten. Der Rückgang dieser Beziehungsform dürfte sowohl damit zusammenhängen, dass mannmännlicher Sex nun mit dem Stigma des Homosexuellseins aufgeladen wurde, als auch mit der zunehmenden Realisierung eines Anspruchs auf Privatsphäre, die zum allmählichen Verschwinden der Gemeinschaftsschlafstuben führte. Allerdings konnten sich bis in die 1950er Jahre hinein viele ledige Männer – also gerade auch solche, die ein homosexuelles Lebenskonzept für sich angenommen hatten – keine eigene Wohnung leisten und waren der Neugier von ZimmervermieterInnen ausgesetzt.

Insgesamt bietet Schlatters Buch eine große Zahl aufschluss- und facettenreicher Ergebnisse und ist daher sehr zu begrüßen. Dies gilt, obwohl die Zusammenfassung am Ende etwas summarisch ausfällt und eine deutlichere Zusammenführung und Einordnung mancher Befunde sicherlich möglich gewesen wäre. Es ist zu wünschen, dass diese Studie anregend auf weitere ähnliche Forschungen in anderen Städten und Regionen wirkt.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel bei Schnabel-Schüle, Helga, Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln Verlag 1997, S. 306 (hier in Bezug auf Inzest), S. 317-318. Dennoch ist positiv zu vermerken, dass Schnabel-Schüle aufschlussreiche Fallbeispiele mannmännlicher Sexualität im frühneuzeitlichen Württemberg beschreibt.
2 Ein unverdient breites Echo fand erst kürzlich das wissenschaftlich belanglose, lediglich Klischees reproduzierende Buch von Machtan, Lothar, Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators, Berlin 2001.
3 Der Begriff "Homosexualität" ist eine Schöpfung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verknüpft mit der Entstehung des Konzepts einer "homosexuellen Veranlagung" inklusive spezifischer Persönlichkeitsmerkmale. Im hier behandelten Zeitraum kann dieses Konzept noch nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern Schlatter untersucht exemplarisch dessen Durchsetzung und Modifizierung in einer Region. Daher wird hier für Sexualität unter Männern der neutralere Ausdruck "mannmännliche Sexualität" verwendet.
4 Eine strafrechtliche Gleichstellung homo- und heterosexueller Handlungen erfolgte erst 1992 – allerdings immerhin zwei Jahre vor der Bundesrepublik Deutschland.

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