Titel
Aristokraten und Poeten. Die Grammatik einer Mentalität im tolosanischen Hochmittelalter


Autor(en)
Rüdiger, Jan
Reihe
Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 4
Erschienen
Berlin 2001: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
538 S.
Preis
€ 74,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Oberste, Institute for Advanced Study, Princeton

Die bei Achatz von Müller (Basel) entstandene Dissertation Jan Rüdigers regt aus verschiedenen Gründen sehr zum Nachdenken an. Sie versteht sich selbst als Versuch zu der Frage, “auf welche Weise die Aristokraten und Poeten im tolosanischen Okzitanien um 1200 ihre Wahrnehmung von sich und ihrer Welt organisierten”. Rüdiger möchte soziale Praktiken der aristokratischen, insbesondere der patrizischen Eliten in und um Toulouse aus ihren sprachlichen und kulturellen Codes verstehen, aus dem, worüber (und wie darüber) im Rahmen höfischer Literatur gesprochen und geschwiegen wird. Als theoretischer Fokus dient ihm dabei das Konzept der Mentalität, verstanden als “jene endliche Menge von Optionen, aus denen die Menschen in der Praxis ihre Wahl treffen”. Dieser praxisbezogene Ansatz, den der Autor im Sinne der “histoire totale” als Schlüssel für soziale Vorstellungen, Wahrnehmungen, Haltungen und Aktionen in umfassender Weise zur Geltung bringt, stellt hohe Ansprüche an die Untersuchung und ihre Leser, wirft jedoch auch gewichtige methodische Probleme auf.

Für die soziale Verortung einer aristokratischen Mentalität im Toulousain konzentriert sich die Arbeit auf das Patriziat der Grafen- und Bischofsstadt Toulouse, und hier aus arbeitsökonomischen Gründen auf 18 Familien, deren regelmäßige Mitwirkung an den kommunalen Entscheidungsgremien als Selektionskriterium dient. Insbesondere aus den Arbeiten John Mundys kennt man seit langem den Reichtum der Toulousaner Archive hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Interaktionen dieser städtischen Eliten für das 12. und 13. Jahrhundert. Rüdigers Vorgehen liegt nun keineswegs im systematischen Vergleich der weitgehend unedierten Archivalien, etwa der mehr als 70 sozial einschlägigen Testamente zwischen 1165 und 1297, mit den Themen und ‘Reden’ der Trobadors; seine Hypothese liegt vielmehr darin, in eben jener poetischen Rede der Sänger und Dichter in Toulouse den Schlüssel zu den Konzeptualisierungen sozialer Organisation im Milieu des Patriziates in der Hand zu halten. Mit welchen Resultaten? In überzeugenden Kapiteln weist er Zentralbegriffe der höfischen Rede wie pros (probus homo, ‘Ehrenmann’ zur Selbstbezeichnung der Patrizier), cortesia (entsprechend etwa mhd. höveschheit) oder paratge (als Begriff für die soziale Seite der cortesia, der je nach Kontext ‘Verwandtschaft’, ‘Abkunft’ oder ‘edle Geburt’ meinen konnte) vielschichtig im Denken und Verhalten der städtischen Aristokratie nach. Etwa die Solidarisierungen der Toulousaner im Albigenserkrieg untereinander, mit einem Großteil der okzitanischen Aristokratie und nicht zuletzt mit König Peter von Aragon lassen sich in diesen Termini besser verstehen.
Gravierender indessen sind die Mißverständnisse, die sich aus dieser Hypothese ergeben. Dafür nur drei Beispiele: 1. In dem Prozeß, den eine päpstliche Gesandtschaft im Jahre 1178 gegen einen der führenden Toulousaner Katharer anstrengt, verweigert dieser schließlich den von ihm geforderten Wahrheitseid. Für Jan Rüdiger ein Beleg für das Konzept des pros, dessen Wort als Ehrenmann auch ohne Eid genügt; für den gesamten Rest der Forschung eine Konsequenz aus dem religiös begründeten Schwurverbot für katharische Perfekte.

2. Im Jahre 1202 kommt es im Konsulat von Toulouse zu einer auffälligen Häufung neuer Namen, hinter denen das ältere Patriziat zurücktritt. In der Perspektive ihres kulturellen Habitus möchte der Autor hier eine populare Partei am Werk sehen, was auf grundlegende Spannungen in der politischen Führung der Kommune hindeute. Untersucht man jedoch die besser faßbaren ökonomischen Bedingungen dieses ‘Wachwechsels’, zeigt sich, daß hier solche kaufmännischen und wirtschaftlich erfolgreichen Bürger in das Konsulat aufsteigen, bei denen nicht nur ein Großteil des älteres Patriziates hoch verschuldet ist, sondern mit denen auch Heirats- und Geschäftsbündnisse eingegangen werden. In diesem Sinne ist eher von einer ökonomisch notwendigen Erweiterung des Patriziates zu sprechen, als von einem Machtkampf zwischen Popularen und Patriziern. Die politischen Spannungen in Toulouse im Vorfeld und in der Frühzeit der Albigenserkriege verlaufen nicht vertikal zwischen verschiedenen sozialen Niveaus oder etwa zwischen Katharern und Katholiken, sondern gerade innerhalb der städtischen Führungsgruppen mit ihren konkurrierenden politischen, sozioökonomischen und religiösen Ambitionen.

3. Die Trobadors schweigen über kirchliche Fragen, Kleriker kommen in ihrer Lyrik nicht vor. Rüdiger zieht daraus den abenteuerlichen Schluß, die Kirche sei in den Dispositionen des Toulousaner Patriziates absent; er spricht von der “geringen säkularen Wirkungsmacht der Kirche” und davon, daß “die Oberschicht anscheinend keinen Wert auf Präsenz in kirchlichen Institutionen legte”. Die Kirchenarchive mit ihren in die Zehntausende gehenden Zeugnissen für rechtliche und ökonomische Interaktionen der Toulousaner sprechen eine deutlich andere Sprache. Gerade die von Rüdiger herangezogenen Familien zeichnen ihre soziale Vorrangstellung nicht zuletzt durch den Aufbau von Netzwerken mit den lokalen Kirchen aus: geschäftliche Verbindungen und Rechtsbeistand, Seelenheilstiftungen im hohen Umfang, ausführlichste Vorkehrungen zu Begräbnis, Memoria und Armensorge in den Testamenten, die Gründung von Hospitälern und Bruderschaften, deren Leitung und Mitgliedschaft, die Selbstübergabe an Kirchen als Donaten, der Eintritt als Laienbruder, Laienkanoniker oder gar die vollständige Konversion zur Vita religiosa – all diese Modi religiösen Verhaltens sind für die Toulousaner Eliten in hohem Maße kennzeichnend, wie es in anderen Fällen auch das Bekenntnis zum Katharismus ist. Unter Toulousaner Patriziern kommen um 1200 gar Fälle von ‘Doppelreligiosität’ vor, wenn man das Sterben nach Empfang der katharischen Sakramente und den ausdrücklichen, mit viel Geld erkauften Wunsch nach einem Begräbnis im Kreuzgang des Wallfahrtszentrums Saint-Sernin so bezeichnen will. Ausdruck für eine veräußerlichte ‘kaufmännische’ Religiosität, die das Risiko des Totalverlustes durch die Investition in beiden Religionen auffangen will.

Wenn Rüdiger in seinem Buch der ‘Mentalität’ des Toulousaner Patriziates in der von ihm selbst behaupteten ‘Totalität’ der Analyse nachgehen will, ist die Außerachtlassung des kirchlichen Aspektes, der florierenden monastischen und Pilgerkultur Okzitaniens und der ausgeprägten Partizipationsansprüche städtischer Eliten gegenüber kirchlichen Institutionen mehr als eine läßliche Sünde. Selbst wenn man diesen Anspruch ausklammert und nach der eigenen Leistung der höfischen Rede gerade für städtische Eliten fragt, bleibt überraschend unscharf, wo im sozialen Leben des Patriziates der Literaturbetrieb eigentlich untergebracht war. Die performative Seite der höfischen Literatur beleuchtet der Autor, wohl mit gutem Grund, ausschließlich an den Höfen der raimundinischen Grafen und seiner (ländlichen) Vasallen. Eine der wenigen Aussagen über die literarischen Vorlieben des Patriziates, die Rüdiger anführt und die aus einer im Toulousaner Dominikanerkonvent verfaßten Regula mercatorum (um 1315) stammt, ist gerade kein originär tolosanischer Beleg. Sie gehört zum Beispielvorrat der mendikantischen Bußlite-ratur und ist bereits 100 Jahre früher in Italien anzutreffen. Eine ausgewogene “histoire totale” hätte wohl unerläßlich die umfassende Kenntnis der archivalischen Quellen, die Rüdiger nur aus den mit ganz eigenen Interessen entstandenen Arbeiten John Mundys bezieht, oder zumindest der wichtigsten typologischen Forschung zu dieser Textgruppe: Mireille Castaing-Sicard, Les contrats dans le très ancien droit toulousain (Xe-XIIIe siècle), Toulouse 1959, erfordert. Mißt man die Arbeit nicht an diesem Anspruch, sondern an ihren theoriegesättigten literatur- und kultursoziologischen Überlegungen zur Rede der okzitanischen Trobadors, so bleibt sie dennoch ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zur hochmittelalterlichen Okzitanistik und zur methodischen Vermittlung von Literar- und Sozialhistorie.

Kommentare

Von Rüdiger, Jan21.02.2002

H-SOZ-U-KULT ermöglicht rasche Reaktionen, und das möchte ich mir hier zunutze machen, um auf die hier vor kurzem erschienene, von Jörg Oberste verfaßte Rezension meines Buches 1 zu antworten. Derlei ist zwar nicht Usus, in diesem Falle aber angebracht. Es geht dabei nicht darum, daß Oberste das eigentliche Thema und Anliegen des Buches nicht weiter behandelt und sich auf die sozialgeschichtlichen Prolegomena konzentriert. Das ist selbstverständlich das gute Recht jedes Rezensenten, zumal Oberste auf dem Feld selber gearbeitet hat 2. Auch seine methodischen Zweifel sind, wiewohl ich anderer Meinung bin, selbstverständlich legitim. Anders verhält es sich mit seiner Darstellung und Kritik einiger Ergebnisse des Buches. Oberstes Monita hinterlassen möglicherweise den Eindruck, als hätte das Buch tatsächlich die in der Rezension aufgeführten Mängel. Diesem Eindruck möchte ich hier im Wege der Richtigstellung vorbeugen.

Oberstes Hauptkritik gilt meiner Behandlung der Religiosität, die er als "abenteuerlichen Schluß" kennzeichnet. Er bezieht sich dabei auf eine einzige Formulierung, die er der achtseitigen Zusammenfassung am Schluß des Buches entnimmt, wo es zur "geringen säkularen Wirkungsmacht der Kirche" heißt, daß "die Oberschicht anscheinend keinen Wert auf Präsenz in den kirchlichen Institutionen legte" (506) - bezogen auf die aus dem Gemeinerbensystem erwachsende fehlende Notwendigkeit zur Versorgung von Söhnen sowie um die Hilflosigkeit des Episkopats gegenüber dem Katharismus. Wer nicht "Kirche" und "Religiosität" ineinssetzen will, dem muß deutlich sein, daß damit noch nichts über Frömmigkeit gesagt ist. Oberste zählt eine Reihe von Formen religiösen Verhaltens in der tolosanischen Oberschicht auf: Engagement in lokalen Kirchen, Gründung von Hospitälern und Bruderschaften, Eintritt als Laienbruder oder Laienkanoniker, daneben das Bekenntnis zum Katharismus oder Fälle von 'Doppelreligiosität'. All das kann man auch in meinem Buch nachlesen (u.a. 66-69 sowie das gesamte Kapitel 6 zu den "Religiositäten", 101-114); ich kann mir nicht erklären, wie Oberste das alles übersehen konnte. Im übrigen entwickle ich einen neuen Deutungsansatz zu dem besonderen Charakter der tolosanischen Religiosität (109f.), der in der Rezension nicht vorkommt.

Zum zweiten wirft Oberste mir vor, ich wolle beim 'Wachwechsel' im Konsulat von Toulouse 1202 "eine populare Partei am Werk sehen". Das ist im Wortsinn richtig - und geht auch so aus der Zusammenfassung hervor, der Oberste im übrigen alle wörtlichen Zitate entnimmt (ohne die Seitenzahl zu vermerken), soweit sie nicht aus der Einleitung sind. Aber "popular" ist eben nicht "populär", und im entsprechenden Kapitel 21 erläutere ich den (in diesem Sinne in der Forschung seit den 1950er Jahren etablierten) Begriff, der in Anlehnung an die römische Republik gewählt ist, wo die "Popularen" ebensowenig ein niedriges soziales Niveau vertraten, wie dies in Toulouse der Fall war. Danach wirkt es auch mißverständlich, daß Oberste diese Partei ausführlich als aufsteigende kaufmännische, wirtschaftlich erfolgreiche Bürger beschreibt, mit denen das ältere Patriziat dann auch Heirats- und Geschäftsbündnisse eingeht. All das, einschließlich der Erörterung von einschlägigen Einzelfällen, steht nämlich auch bei mir auf S.337-347 und 360-363 nachzulesen, und auch hier ist mir nicht klar, wieso Oberste das nicht bemerkt hat.

Oberstes dritter Punkt ist anders gelagert: in bezug auf die Verweigerung der Eidesleistung durch einen Patrizier vor einer mit dem Ketzerkampf beauftragten päpstlichen Delegation konstruiert er den Gegensatz zwischen meiner Deutung und dem "gesamten Rest der Forschung", der hier "eine Konsequenz aus dem religiös begründeten Schwurverbot für katharische Perfekte" sehe. Abgesehen von der Fragwürdigkeit des Meinungsmengen-Arguments wäre es an dieser Stelle redlich gewesen, zumindest darauf hinzuweisen, warum ich die - oft vom häresiegeschichtlichen Interesse geprägte - gängige Meinung für ergänzungebedürftig halte (S. 278ff.), anstatt zu insinuieren, daß ich einmal mehr die religiöse Dimension außer acht ließe. Abschließend sei noch bemerkt, daß auch das eine Werk, dessen Nichtberücksichtigung mir Oberste ankreidet 3, in Wirklichkeit angeführt ist (S. 79 n. 57).

Ich glaube gern, daß mein Buch auch so, wie es vorliegt, Ansatz für Kritik bietet. Da aber Oberste - aus welchem Grund auch immer - sich nicht mit den Passagen auseinandersetzt, in denen ich die von ihm angemahnten Themen behandle, hielt ich es für angebracht, hier die entsprechenden Verweise beizubringen, um eventuell interessierten Lesern die Auseinandersetzung mit ihnen zu ermöglichen.

1 Jan Rüdiger: Aristokraten und Poeten. Die Grammatik einer Mentalität im tolosanischen Hochmittelalter. Berlin 2001 (Europa im Mittelalter, 4); Rezension in H-SOZ-U-KULT, 23. Januar 2002

2 Z. B. Jörg Oberste: ...nihil deficeret in presenti seculo et in morte salvarentur. Le catharisme et les élites urbaines dans les villes languedociennes (XIIIe-XIVe siècles), in: M. Tymowski (ed.), L'anthropologie de la ville médiévale. Ses aspects matériels et culturels. Paris 1999, S. 157-172, sowie in seiner angekündigten Habilitationsschrift.

3 Mireille Castaing-Sicard: Les contrats dans le très ancien droit toulousain (Xe-XIIIe siècles). Toulouse 1959.


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