J. Scherner: Die Logik der Industrie­politik im Dritten Reich

Titel
Die Logik der Industrie­politik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung


Autor(en)
Scherner, Jonas
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 174,IV
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Das Verhältnis zwischen NS-Staat und Unternehmen genießt seit langem große Aufmerksamkeit, und die Charakterisierung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems war von Anfang an kein rein wissenschaftliches Problem. In der Auseinandersetzung zwischen Ost und West waren Antworten ebenso gefragt wie bei der Konstruktion von Manager-Lebensläufen. Betonte man Ende der 1960er-Jahre den Primat der Politik, dann hatte der nationalsozialistische Staat nicht nur die industriepolitische Richtung vorgegeben, sondern im Zweifel mit Zwang interveniert. Dass sich diese Interpretation mit der großen Opfererzählung deckte, die sich zu dieser Zeit in vielen westdeutschen Autobiographien und in noch mehr Unternehmensgeschichten fand, bestärkte die marxistische Opposition nur noch in ihrer These vom Primat der Industriemonopole. Sie sah im "Dritten Reich" nicht nur eine Inszenierung des Großkapitals, sondern verband dies auch mit der Überzeugung, dass in der Kontinuität des kapitalistischen Wirtschaftssystems der eigentliche Skandal liege. Entscheidungen einzelner Unternehmen wurden im Zuge dieser Kontroversen kaum untersucht und kamen erst im Zuge jenes mikroökonomisch fundierten Forschungsbooms in den Blick, den seit den späten 1980er-Jahren vor allem ethisch-moralische Fragen antrieben. In der Auseinandersetzung mit Zwangsarbeit, Raubgold und "Arisierungen" verschob sich der Fokus auf das einzelne Unternehmen – die zuvor noch dominante Systemfrage wurde nun immer seltener gestellt, während die Kenntnisse im empirischen Detail zunahmen.

Diese Vorgeschichte muss kennen, wer Jonas Scherners Mannheimer Habilitationsschrift zur Hand nimmt. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubewertung des NS-Wirtschaftssystems, indem sie unternehmerische Investitionsentscheidungen in den autarkie- oder rüstungswirtschaftlich besonders exponierten Bereichen untersucht. Dabei stellt sich die Frage, unter welchen Umständen die Unternehmen das Risiko von Investitionen eingingen, die politisch erwünscht, jedoch auf lange Sicht nicht immer rentabel waren. Scherner blickt dazu auf die Zukunftserwartungen der Unternehmen und kombiniert dies mit einem elaborierten vertragstheoretischen Instrumentarium. Beim Vertragsabschluss zwischen Unternehmen und Staat war die unternehmerische Erwartungsbildung entscheidend, und es standen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, mit denen die Risiken der Investition auf Seiten des Unternehmens oder des Staates konzentriert oder zwischen beiden Parteien geteilt werden konnten. Je mehr sich der Staat aber am unternehmerischen Risiko beteiligte, desto stärker wollte er mitsprechen.

Unter diesen Prämissen entwickelt Scherner eine nach Anreizwirkungen fein abgestufte Typologie unterschiedlicher Vertragsformen. Sie ist die Grundlage für ein theoretisches Modell, das idealtypisch argumentiert: Wenn bestimmte Risikoeinschätzungen vorlagen, müssen die Parteien demnach einen bestimmten Vertragstypus gewählt haben. Scherner überprüft die anhand des Modells getroffenen Aussagen in mehreren Branchenstudien. Dazu blickt er nicht nur auf den engeren Bereich der autarkiewirtschaftlich besonders wichtigen Benzin- und Kautschuksynthese, sondern untersucht mit dem Drehmaschinenbau und der Herstellung von Hochdruckhohlkörpern auch zwei wichtige Sparten der rüstungsrelevanten Investitionsgüterindustrie. Daneben werden Investitionsentscheidungen im Bereich der chemischen Vorprodukte für die Pulver- und Sprengstoffherstellung analysiert, bei der Produktion halbsynthetischer Chemiefasern, schließlich bei der Gewinnung von Nichteisenmetallen wie Kupfer, Blei, Zink und Aluminium. Diese gut abgewogene Auswahl ist in ihrer Vielfalt für die deutschsprachige Unternehmensgeschichte außergewöhnlich, und in allen Branchen bestätigt sich der modelltheoretisch prognostizierte Befund.

Auf diese Weise ergibt sich insgesamt ein klares Bild: Grundlage der NS-Industriepolitik war ein Festhalten an marktwirtschaftlichen Prinzipien, einschließlich der erforderlichen Rechtssicherheit – stets erwies sich der Staat als verlässlicher Vertragspartner. Von einer Kommandowirtschaft kann aber auch deshalb keine Rede sein, weil es nur in Ausnahmefällen überhaupt zu staatlichen Zwangsmaßnahmen kam. Stattdessen steuerte der Staat, indem er den Unternehmen Risiken abnahm und Investitionsanreize schuf. Das politische Programm der Aufrüstung musste also nicht befohlen werden, sondern schrieb sich auf subtile Weise in die Entscheidungssysteme der Unternehmen ein. Überdies waren die staatlichen Akteure keineswegs so verschwenderisch, wie Generationen von Historikern unter dem Eindruck der Vierjahresplan-Denkschrift geglaubt haben – dort war zwar die Rede davon, dass die Wirtschaft um jeden Preis auf den Krieg vorzubereiten sei; doch zeigt Scherner, dass den Rüstungsoffizieren schon lange vor Albert Speers Reformprogramm bewusst war, dass mit der geschickten vertraglichen Ausgestaltung von Preisvereinbarungen die vorhandenen Mittel effektiver genutzt werden konnten.

Scherners große Erzählung beeindruckt, weil sie die von der älteren Forschung so sehr strapazierte Frage nach dem Wirtschaftssystem geschickt mit der mikroökonomischen Ebene der einzelnen Unternehmen verknüpft. Am Primat der Politik kann mithin kein Zweifel bestehen, nur dass sich die Umsetzung der politischen Ziele eben weitaus subtilerer Instrumente bediente, als früher vermutet worden war – letztlich agierte der NS-Staat also bemerkenswert marktkonform. Um für eine Vielzahl von Investitionen das ökonomische Entscheidungskalkül rekonstruieren zu können, wertet Scherner Wirtschaftsprüfergutachten aus, berechnet Kennziffern, extrapoliert die Entwicklung von Märkten unter kontrafaktischen Annahmen und nutzt die so gewonnen Daten, um die aus dem Modell abgeleiteten Hypothesen zu testen. Bei dieser Vorgehensweise sind freilich einige Fragen nicht relevant, und konsequenterweise werden sie auch nur punktuell thematisiert: Auf welcher Informationsgrundlage entschieden die Unternehmen? Verfügten sie über jene Informationen, die Scherner mit dem heutigen Instrumentarium erhebt? Und gaben diese tatsächlich den Ausschlag für ihre Entscheidungen?

Weil danach nicht systematisch gefragt wird, entsteht ein statisches Bild, dem die Dynamik von historischer Entwicklung und persönlicher Erfahrung weithin fehlt. Dies macht sich auch bei der zentralen Frage nach Zwang und Freiwilligkeit bemerkbar. Zwar wendet sich die Studie dezidiert gegen die Überbetonung jener Fälle staatlichen Zwangs, die in der Forschung immer besonders herausgestellt wurden, von der Junkers-Enteignung über die Pflichtgemeinschaft der Braunkohleindustrie bis zur Gründung der Reichswerke "Hermann Göring". Auch von den persönlich-privaten Motiven von Unternehmern oder Rüstungsbürokraten, die von Studien über einzelne Unternehmen betont werden, will Scherner bewusst abstrahieren. Aber kann man in einer Untersuchung, die Vertragsfreiheit und Rechtssicherheit als gegeben voraussetzt, wirklich alle Bereiche unberücksichtigt lassen, in denen solch elementare Grundlagen zur selben Zeit nichts galten?

Selbst wenn man die große Vermögensverschiebung im Zuge der "Arisierung" mit guten methodischen Argumenten ausklammert, bleiben immer noch genügend Fälle übrig, in denen der NS-Staat Zwang auch jenseits seines rassistischen Referenzrahmens ausübte. Scherner thematisiert sie zwar, bewertet sie jedoch mit einem rein quantitativen Argument: Weil es sich dabei nicht um die Mehrzahl der Fälle handelte, sind sie für seine Interpretation nicht relevant. Was aber ist mit dem Hinweis gewonnen, dass nur ein knappes Drittel der Synthesekapazitäten unter staatlichem Zwang aufgebaut wurde? Über die Frage, ob die Ausübung staatlichen Zwangs in einigen Symbolfällen ganz eigene Entscheidungslogiken in Gang setzte, wird jedenfalls weiterhin gestritten werden dürfen. Scherners Verdienst ist es, für diesen alten Streit ein völlig neues empirisches Fundament geschaffen zu haben.

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