Sozial.Geschichte 21 (2006) 2

Titel der Ausgabe 
Sozial.Geschichte 21 (2006) 2
Weiterer Titel 

Erschienen
Bern 2006: Peter Lang/Bern
Erscheint 
3 Ausgaben pro Jahr
Anzahl Seiten
120 Seiten
Preis
Einzelheft: 13.30 €uro Abo: 32.00 Euro

 

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Institution
Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts
Land
Deutschland
c/o
Sozial.Geschichte Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts Fritz-Gansberg-Str. 14, D-28213 Bremen Tel.: (0421) 218-91 25 Fax: (0421) 218-94 96
Von
Redaktion

Die Schwerpunkte von Sozial.Geschichte Heft 2/2006:

ZWEI KRITIKER DER WEIMARER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
GESELLSCHAFTSKRITIK DER FRANZÖSISCHEN SOZIOLOGIE HEUTE (TEIL II)
ADA UND THEODOR LESSING
RE-ORIENTIERUNG IM WELTSYSTEM

Sie können die Zeitschrift im Buchhandel, direkt über den Verlag (www.peterlang.net) oder über die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (www.stiftung-sozialgeschichte.de) bestellen.
Weitere Informationen zur Zeitschrift und den Themenredaktionen von Sozial.Geschichte finden Sie ebenfalls auf unserer Homepage www.stiftung-sozialgeschichte.de

Inhaltsverzeichnis

FORSCHUNG

Sebastian Ullrich:
Ernst H. Kantorowicz und Emil Ludwig: Zwei Kritiker der Weimarer Geschichtswissenschaft und die „Krisis des Historismus“

Lothar Peter:
Neue soziale Bewegungen, soziale Frage und Krise der Arbeit. Sozialkritik in der französischen Soziologie heute (Teil II)

MISZELLE

Jörg Wollenberg:
Ada und Theodor Lessing: Rückkehr unerwünscht

DISKUSSIONSFORUM GLOBALGESCHICHTE (1)

Andrea Komlos:
Historischer Kapitalismus oder endlose Kapitalakkumulation im Weltmaßstab? Plädoyer für die Auseinandersetzung mit Andre Gunder Franks „Re-Orientierung im Weltsystem“

BUCHBESPRECHUNGEN

Afrika als Projektion. Zwei Bücher über Deutschlands imperiales Selbstbild, besprochen von Christian Geulen

Yad Vashem Studies, Band 32 (2004) und Yad Vashem Studies, Band 33 (2005), besprochen von Andreas Mix

Maria Fritsche: Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, besprochen von Albrecht Kirschner

Klaus Tenfelde/ Hans Christoph Seidel (Hg.): Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, besprochen von Kim Priemel

Matthias Steinbach: Universitätserfahrung Ost. DDR-Hochschullehrer im Gespräch, besprochen von Mario Kessler

Friedrich-Ebert-Stiftung/ Institut für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn (Hg.): Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, besprochen von Dominik Rigoll

ANNOTATIONEN

Stephanie Coontz Marriage: A History. How Love Conquered Marriage (MvdL); Wolfgang Benz/ Barbara Diestel (Hg.) : Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1 und 2 (M.B.); Elisabeth Herrmann-Otto (Hg.): Unfreie Arbeits- und Lebensverhältnisse von der Antike bis zur Gegenwart (MvdL); Gaby Weber: Daimler Benz und die Argentinien-Connection. Von Rattenlinien und Nazigeldern (K.H.R.); Kavita Philip/ Eliza Jane Reilly/ David Serlin (Hg.): Homeland Securities. Sonderheft der Radical History Review (O.S.); Jürgen Nordmann: Der lange Marsch zum Neoliberalismus. Vom Roten Wien zum freien Markt – Popper und Hayek im Diskurs (K.H.R.); Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004 (K.H.R.); Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus (K.H.R.)

KONGRESS

World and Global History: First European Congress (Leipzig 22.-24. September 2005), besprochen von Marc Buggeln

SOZIAL.GESCHICHTE EXTRA www.stiftung-sozialgeschichte.de

Heinrich Senfft
„Einer, dem man glaubt“ – Richard von Weizsäckers Erinnerung an Vater und Zeitgeschichte

Claudia Haupt
Hate Speech in den USA – Eine Betrachtung des juristischen Diskurses und darüber hinaus

Stefan Heesch
1968 – Musikkulturen zwischen Protest und Utopie – Ein Tagungsbericht

SUMMARIES

Sebastian Ullrich
Ernst H. Kantorowicz und Emil Ludwig: Zwei Kritiker der Weimarer Geschichtswissenschaft und die „Krisis des Historismus“
In der deutschen Geschichtswissenschaft machte sich nach 1918 ein starkes Krisengefühl bemerkbar. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches trug zu dieser Verunsicherung ebenso bei wie die Infragestellung des wissenschaftlichen Objektivitätsideals und die „Krisis des Historismus“, des ehemaligen Leitparadigmas der Geisteswissenschaften. Gleichzeitig hatte der Erste Weltkrieg zu einem großen Hunger nach Sinnstiftung und historischer Orientierung geführt – ein Bedürfnis, das die professionellen Historiker nicht erfüllen konnten. Sie drohten daher ihre Deutungshoheit über das nationale Geschichtsbild zu verlieren. Das Krisengefühl der Historiker und ihre Angst vor Bedeutungsverlust machten sich insbesondere an zwei jüdischen Autoren erfolgreicher historischer Biographien fest: Emil Ludwig und Ernst Kantorowicz. Es war daher kein Zufall, dass beide Ende der 20er Jahre von der „Historischen Zeitschrift“ attackiert wurden, als die „Zunft“ zur Gegenoffensive überging. Der Aufsatz beleuchtet die biographischen, ideologischen und politischen Hintergründe dieser beiden Herausforderer der Weimarer Geschichtswissenschaft, schildert ihre methodisch-theoretischen Gegenkonzeptionen zum Historismus und arbeitet die geschichtspolitischen Absichten ihrer Biographien heraus.

After 1918, German historians perceived the state of their profession as critical. The breakdown of the Wilhelmine Empire had shaken their political confidence, their ideal of objectivity in historiography was publicly challenged and the so called “crisis of historicism” questioned the foundations of their scientific approach. At the same time, the First World War resulted in a hunger for historical orientation and “meaning” in general – a need which Weimar’s professional historians couldn’t match. Therefore, they feared to loose their impact on the historical imagination of the German nation. Due to their enormous public success, this sentiment of crisis was linked with two Jewish authors of historical biographies: Emil Ludwig and Ernst Kantorowicz. Thus, when the German historical profession launched its counter-offensive in the late 20ies, they were picked as the first ones to be attacked. The essay examines the biographical, ideological and political backgrounds of Ludwig and Kantorowicz and analyzes their theoretical challenges to the historicist paradigm and their politics of history.

Lothar Peter
Neue soziale Bewegungen, soziale Frage und Krise der Arbeit: Sozialkritik in der heutigen französischen Soziologie (Teil II)
Im Mittelpunkt des zweiten Teils dieses Aufsatzes stehen die Themen Krise der Arbeit, soziale Erosion und der Niedergang der traditionellen Arbeiterkultur und wie sie zusammen hängen. Es wird sichtbar gemacht, dass die postfordistische Modernisierung der Arbeit in mehrfacher Hinsicht zerstörerische Auswirkungen hat : Sie untergräbt die kollektive Arbeitserfahrung der Industriearbeiter, schwächt die bisherige Klassenbasis der Arbeiterbewegung und löst soziale Bindungen außerhalb der Arbeit auf. Der soziale, moralische und kulturelle Verfall in den Vorstadtghettos und die Revolten meist ausländischer Jugendlicher sind deshalb auch als Reaktion auf die Krise der Arbeit und der Arbeiterbewegung zu interpretieren. Das Konzept eines "neuen Geistes des Kapitalismus" versucht Antworten auf die Frage zu geben, wie Sozialkritik unter den Bedingungen vernetzter und projektförmiger Arbeitsprozesse begründet werden kann. Die im Artikel referierten und kommentierten Beiträge zu einer sozialkritischen Soziologie in Frankreich heute spiegeln noch immer sowohl den großen Einfluss von Emile Durkheim und der Durkheim-Schule als auch der marxistischen und sozialistischen Denktradition wider.

The central themes of this second part of the article are the labour crisis, social erosion and the decline of the traditional working class culture, and their relation to each other. The author demonstrates that the post-Fordist modernisation of labour has multifaceted, destructive consequences: it undermines the collective work experience of the industrial workers, weakens the present class basis of the labour movement and dissolves social connections beyond labour. Therefore, the social, moral and cultural decline in the suburban ghettos and the revolts of mostly foreign youngsters are to be interpreted also as a reaction to the labour crisis and the labour movement. The concept of a “new mind of capitalism” attempts to answer the question how social criticism can be justified under the conditions of networked and project-shaped processes of work. A review of the current sociocritical sociology literature in France suggests a continuous influence of Emile Durkheim and the Durkheim school as well as of Marxist and socialist thought.

Jörg Wollenberg
Ada und Theodor Lessing: Heimkehr unerwünscht
Mitte März 1933 wurde Ada Lessing (1883-1953) gezwungen, die Leitung der Volkshochschule (VHS) Hannover aufzugeben und auf das Reichstagsmandat für die SPD als Nachrückerin zu verzichten. Fast zum gleichen Zeitpunkt kam der preußische Minister für Wissenschaft und Kunst der Bitte des Rektors der TH Hannover nach, Theodor Lessing (1872-1933) die venia legendi endgültig zu entziehen. Beide emigrierten in die Tschechoslowakei, wo sie ein Landerziehungsheim für jüdische Emigrantenkinder eröffnen wollten. Am 30.08. 1933 wurde Theodor Lessing das erste prominente Opfer eines von der Nazi-Führung beauftragten Mordanschlags im Ausland. Ada Lessing überlebte und wartete nach 1945 in Großbritannien vergeblich auf einen Rückruf aus der Heimatstadt, obwohl prominente Vertreter des englischen Exils sich für sie einsetzten. Auch der eng mit der Familie Lessing verbundene niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme und der einstige Lessing-Schüler Otto Brenner von der IG Metall konnten nichts für sie bewirken. Während sich der national gesinnte Sozialdemokrat Heiner Lotze eher für ehemalige Nazis verwandte als für Remigranten. Denn nicht nur in der roten Hochburg Hannover, die Noske zum Oberpräsidenten gemacht und die Hindenburg zum Ehrenbürger gewählt hatte, dominierte bereits früh die "Ordnungsidee der Volksgemeinschaft" mit ihren Verbindungen in die Arbeiterbewegung hinein. Und bis heute haben die vielfältigen Spielarten des "nationalen Sozialismus" mit seinem Plädoyer für "nationale Standortinteressen" und die Enttabuisierung des Militärischen hier eine wirksame und weit reichende Tradition in der SPD und den Gewerkschaften. Sie dürfen nicht mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, sind aber wirkungsgeschichtlich von ihm nicht zu trennen.

In mid-March 1933, Ada Lessing (1883-1953) was forced to resign her position as managing director of the Volkshochschule Hannover as well as her mandate to the Reichstag. About the same time, the Prussian Minister for Science, Art and Education followed a request by the president of the Technical University in Hannover to strip Theodor Lessing (1872-1933) of his venia legendi (permission to teach). Both emigrated to Czechoslovakia where they intended to open a Landerziehungsheim (boarding school) for Jewish emigrant children. On August 30, 1933, Theodor Lessing became the first prominent victim of an assassination commissioned by the Nazis in a foreign country. Ada Lessing survived. After 1945, while in Great Britain, she waited in vain for an invitation to return to her home town—despite support from prominent representatives of the English exile. Adolf Grimme, Minister of Education for Lower Saxony and closely related to the Lessings, and Otto Brenner of IG Metall and a former student of Theodor Lessing’s, were also unable to help her. All the while, Heiner Lotze, a nationally-oriented social democrat, rather lent his support to former Nazis than re-emigrants. The “concept of Volksgemeinschaft” and its connections to the labour movement dominated early on not only in the red stronghold of Hannover, which had elected Noske its president and Hindenburg an honorary citizen. Even today, the multifaceted rules of “national socialism”, calling for “national interests” and the removal of military taboos, have an effective and far-reaching tradition within the SPD and the unions. They must not, however, be equated with National Socialism, but they were directed by it

Andrea Komlosy
Historischer Kapitalismus oder endlose Kapitalakkumulation im Weltmaßstab? Plädoyer für die Auseinandersetzung mit Andre Gunder Franks "Re-Orientierung im Weltsystem"
Andrea Komlosy setzt sich mit Andre Gunder Franks viel und sehr kontrovers diskutiertem Buch „ReOrient. Global Economy in the Asian Age (1998) auseinander, das sie als Herausforderung für viele zur Selbstverständlichkeit gewordene Erklärungen für Entstehung und Entwicklungsperspektiven des globalen Kapitalismus begreift. Frank unterscheidet sich von anderen Weltsystemtheoretikern dadurch, dass er die Weltwirtschaft am Beginn der europäischen Expansionen bereits als ein weltumspannendes System ansieht, dessen Dynamik allerdings nicht von (West-)Europa, sondern von den in Asien befindlichen kommerziellen Zentren und Exportgewerberegionen ausging. Die Ablösung der asiatischen Hegemonie durch die (nordwest-)europäischen Industriestaaten fand erst im 18., im Fall von China im 19. Jahrhundert statt und leitete eine eurozentristische Interpretation der europäischen Vorreiterrolle in der Welt ein, die nicht zuletzt durch die aktuelle Verschiebung der Wachstumsdynamik nach Asien brüchig wird. Frank stellt eine Reihe von Annahmen, Modellen und Interpretationsmustern in Frage, die für eine kritische Analyse des Kapitalismus (als Produktionsweise, Gesellschaftsformation und Weltsystem) in der marxistischen Theoriedebatte Halt gebend waren und sind. Der Artikel greift einerseits die Rezeption und die Diskussion um das sachliche Zutreffen von Franks Ergebnissen auf und diskutiert andererseits um die möglichen Impulse, die von der Zurückweisung von Eurozentrismus und vom globalistischen Imperativ Franks ausgehen können.

Andrea Komlosy critically examines Andre Gunder Franks’ often discussed and controversial book “ReOrient: Global Economy in the Asian Age” (1998). She finds the book challenges many of the commonly accepted explanations regarding the origins and development of global capitalism. Frank distinguishes himself from other world system theorists by looking at the global economy as a worldwide system during the early stages of the European expansion. Its dynamics are not rooted in the (western) European but in the Asian commercial centres and export regions. The displacement of the Asian hegemony by the (northwestern) European industrial states did not occur until the 18th century and in the case of China not until the 19th century. The result was a eurocentrist interpretation of the European role in the world, which is now weakening due to the current shift in economic growth to Asia. Frank questions a number of assumptions, models and interpretations, which have been necessary for the critical analysis of capitalism (as a production method, societal formation and world system) within the Marxist paradigm. The essay, on the one hand, talks about the limitations of Franks’ conclusions and, on the other hand, discusses the implications emanating from the rejection of eurocentrism and Franks’ global imperative.

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