Geschichte quer 11 (2003)

Titel der Ausgabe 
Geschichte quer 11 (2003)
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Weiterer Titel 
Wenn das Feigenblatt fällt... Metamorphosen der Sexualität

Erschienen
Aschaffenburg 2003: Alibri Verlag
Erscheint 
erscheint halbjährlich (März/September), Einzelhefte sind beim Verlag erhältlich
Preis
6,- €

 

Kontakt

Institution
Geschichte quer
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Geschichte quer Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten Ingrid Reuther Helene-Weber-Allee 8 80637 München
Von
Fürmetz, Gerhard

Geschichte quer 11 (2003)
Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten

Wenn das Feigenblatt fällt... Metamorphosen der Sexualität

Euro 6.-

Online: http://www.geschichte-quer.de/html/heft_11.html

Alibri Verlag, verlag@alibri.de,
www.geschichte-quer.de

Auf der Webseite sind neben Inhalt und Editorial auch Rezensionen und Berichte aus den bayerischen Geschichtswerkstätten hinterlegt.

Editorial

Es ist eine nackte Tatsache – aber im Vergleich zu anderen Phänomenen in gesellschaftlichem Gewand gibt es kaum Monographien über die Geschichte der Sexualität.

Geschichte(n) über Sexualität befassen sich mit den Themen Ehe, Geburt, Abtreibung, Prostitution und seit einigen Jahren mit Homosexualität. Nüchtern betrachtet, steht dabei der Körper, vornehmlich der weibliche, im Mittelpunkt. Dort, wo Religionen und Theologen sich mit der Körperlichkeit des Menschen befassten, wurden Reinigungsrituale für bestimmte Anlässe etabliert, was zugleich impliziert, dass es “unreine” Körpersäfte gibt, die dem sexuellen Bereich zugehörig sind. Sexualität war und ist nach christlicher Auffassung wesentlicher und exklusiver Bestandteil der Ehe, davor galt/gilt es, keusch zu bleiben. Verstöße gegen diese Maxime wurden geahndet. Zugleich führte die Zuweisung von Sexualität zur Ehe zur Tabuisierung, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erlebte. Aufklärung fand nicht mehr statt. Anders noch im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, als mit dem populären Medium des Liedes, die Dinge recht deutlich beim Namen “besungen” wurden. Naturgemäß hat sich die Medizin mit den erwünschten und unerwünschten Folgen von Sexualität beschäftigt. Schon im Mittelalter erließen die Städte Hebammenordnungen, regelten die Ausbildung, Aufgaben und Bezahlung. Diese Ordnungen verfassten die Stadtärzte. Das Geburtswesen selbst jedoch lag allein in Frauenhänden. Die große Bedeutung des Gebärens spiegelt sich in den Geburtsfesten wider. Die Gefahren des Gebärens waren für die Mütter Entkräftung und Tod im Kindbett. Die Teilhabe am medizinischen Fortschritt vom Mittelalter bis in die Zeit um 1900 hatte sich für den Großteil der Bevölkerung nicht wesentlich vergrößert. Erst spät haben sich Mutterschutzgesetze durchgesetzt. Unerwünschte Folgen sexuellen Verkehrs zu vermeiden gelang in größerem Stil erst um 1900. Eine Reihe von mehr oder weniger wirksamen Verhütungsmitteln, von der Mutterdusche bis zur Pille, wurde entwickelt. Letzte Möglichkeit war die Abtreibung, was jedoch im Allgemeinen unter einem Strafverdikt stand. Die “Unversehrbarkeit des Körpers” als ein Rechtsanspruch – die Wirklichkeit sah oft anders aus. Abtreibungen wurden im NS-Regime dem rassistischen Kalkül untergeordnet. Die Folgen waren Zwangsabtreibungen bei osteuropäischen “Fremdarbeiterinnen”, und dies noch bis in den achten Monat hinein. Wie das Beispiel Oberfranken belegt, wurden die Abtreibungen in Krankenhäusern und durch Ärzte vorgenommen. Das Eingreifen der Justiz, die Belegung sexuellen “Fehlverhaltens” mit Strafen erstreckte sich nicht allein auf die Abtreibung. Ins Visier geriet in der Frühen Neuzeit vorehelicher Geschlechtsverkehr, was als “Leichtfertigkeit” gebrandmarkt wurde. Hintergrund war eine restriktive staatliche Heiratspolitik, die sich an der Besitzstandswahrung orientierte. Die Folge war eine hohe Rate unehelicher Geburten. Die soziale Diskriminierung lediger Mütter und unehelicher Kinder scheint aber im 19. Jahrhundert größer geworden zu sein; denn zuvor konnte im ritualisierten Alltag in der ländlichen Gesellschaft die Heirat eingeklagt werden. Strafwürdiges Delikt und soziale Diskriminierung – dies galt auch für (männliche) Homosexualität. Der berühmt-berüchtigte § 175 des Reichsstrafgesetzbuches schuf die Grundlage für die Verfolgung, die ihren qualitativen Höhepunkt im NS-Regime fand, als Homosexuelle reichsweit erfasst und in Konzentrationslager gebracht wurden. Ihren quantitativen Höhepunkt fand die strafrechtliche Verfolgung von Schwulen in der Bundesrepublik. Der weiterhin – in der verschärften Fassung aus der NS-Zeit – geltende § 175 brachte mehr Männer vor Gericht als in den zwölf Jahren des “Dritten Reichs”. Lesbische Frauen mussten in Deutschland zwar nicht mit Strafe rechnen, aber auch sie waren dem Diskriminierungsdruck gleichermaßen unterworfen. So ist es für HistorikerInnen heute einfacher, die Geschichte der Schwulen zu schreiben, weil Polizei- und Gerichtsakten eine Fülle von Informationen liefern. Das Leben lesbischer Frauen zu erforschen, ist schwieriger – eine Möglichkeit liegt in Oral-History-Projekten wie das Beispiel aus München zeigt. Sexuelles “Fehlverhalten”, nämlich sexueller Missbrauch und Vergewaltigung, sind bislang kaum Gegenstand historischer Forschung gewesen. Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs wurde als Waffe für den Versuch eingesetzt, unliebsame Personen aus ihren Ämtern zu drängen. Je nach Machtstellung der Angeschuldigten konnte dies gelingen. Es ging also nicht um die Opfer. Und in den Massenvergewaltigungen eine Kriegswaffe zu sehen, diese Anschauung hat sich erst in den 1990er Jahren durchgesetzt. Zuvor wurden diese Vorgänge als “nationales Opfer” interpretiert oder verschämt verschwiegen. Die Doppelmoral zeigte sich gerade bei denjenigen, die aus national(istisch)en Verhaltensmustern ausscherten und sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem ehemaligen Feind einließen. Ausgerechnet diese Frauen stilisierte man zum Symbol des moralischen Verfalls Deutschlands – KZ und Judenvernichtung waren schon vergessen.

Nachsatz: Den Schwächeren Gehör verschaffen, ihnen eine Stimme geben, ist das Anliegen der Arbeit von Geschichtswerkstätten. In diesem Sinne machen wir – außerhalb des Titelthemas – auf einen außergewöhnlichen Beitrag aufmerksam: Es ist die Geschichte eines kleinen Sautreibers, der es in der absolutistischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts wagte, ausgerechnet den bayerischen Herzog Maximilian I. vor dem höchsten Gericht, dem Reichskammergericht, zu verklagen – ein auch für viele HistorikerInnen kaum vorstellbarer Vorgang.

Ingrid Reuther
Eva Strauß

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial

Frauenglieder, Hürnbeln und der Stand der Venus. Sex und Geschlecht im Mittelalter
Nadja Bennewitz

“Der Hensel gab ir bei der Wand ein langen Pfeffer in die Hand”. Anzügliche Lieder aus dem 16. Jahrhundert
Ulrike Bergmann

Fensterln und Bettfreien. “Leichtfertigkeit” in der ländlichen Gesellschaft Bayerns
Stefan Breit

Hebammen und Wöchnerinnen. Geburtshilfe in Nürnberg 1400-1700
Britta-Juliane Kruse

“Dafür bist du eben eine Frau!” - Weibliche Sexualität in der Ehe: beim “einfachen Volk” – lange Zeit ein Tabuthema
Monika Schmittner

“Von der Weiber Reinigung” - Rituelles jüdisches Tauchbad: die Mikwah
Gisela Blume

Von der Mutterdusche zur Antibabypille. Der lange Weg der Frauen zur sexuellen Selbstbestimmung
Monika Schmittner

“Aus der Natur gefallen...” - Klementine Klauke, Jahrgang 1933, lesbisch
Christine Schäfer

“Ihr seid eine neue moderne Welt...” - Wie ein kgl. bayerischer Gymnasialprofessor und die herrschende Doppelmoral aneinander gerieten
Günther Gerstenberg

“Ein Rückfall ist zu befürchten...” - Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus
Inge Breuling/Martin Schieber

Harmloses Wirtshaustreiben? “(Un)Sittlichkeit” als politisches Argument
Klaus Weber

“Rassisch minderwertiger Nachwuchs” - Abtreibungen an Zwangsarbeiterinnen in Oberfranken 1943 – 1945
Peter Engelbrecht

“Ami-Liebchen” und “Veronika Dankeschön” - Bamberg 1945–1952: deutsche Frauen und amerikanische Soldaten
Peter Zorn

Wie ein einfacher Sautreiber Herzog Maximilian von Bayern verklagte
Stefan Breit

Nationalsozialismus in München – Chiffren der Erinnerung: Eine neue Dauerausstellung im Münchner Stadtmuseum

NS-Dokumentationszentrum bald auch in München? Ein Symposium und ein heftig umstrittenes Gutachten
Friedbert Mühldorfer

Freundeskreis “Geschichtswerkstatt Würzburg” - Priorität hat die Sicherung der Bilddokumente
Helmut Försch

Geschichtswerkstatt Augsburg - “Da muss man doch was tun!”
Wolfgang Kucera

Geschichtswerkstatt Kolbermoor - Eine Stadt will vergessen: Zwangsarbeit in Kolbermoor
Andreas Salomon/Klaus Weber

Initiative gegen das Vergessen – Zwangsarbeit in Schweinfurt “Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland 1943–45”
Klaus Hofmann

Frauengeschichtskreis in der Geschichtswerkstatt Augsburg “Frauen schreiben Geschichte” Kalenderprojekt zu 2000 Jahre Geschichte der Frauen in Augsburg
Edith Findel/Anne Kortooms

Von Bürgerinitiativen lernen - Tagung bayerischer Initiativen zur Zwangsarbeit
Sylvia Seifert

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