J.-P. Richardot: Die andere Schweiz

Cover
Titel
Die andere Schweiz. Eidgenössischer Widerstand 1940-1944


Autor(en)
Richardot, Jean-Pierre
Erschienen
Berlin 2005: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
297 S.
Preis
€ 19,90
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Zsolt Keller, Seminar für allgemeine und schweizerische Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die Schweiz, die bis Mitte der 1990er-Jahre mit ihrer Vergangenheit im Reinen war, wurde durch äusseren Druck dazu gezwungen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Jean-Pierre Richardots feuilletonistisches Buch über „Die andere Schweiz“ ist Balsam für die geschundene Schweizer Nationalseele. Oder wie es Jürg Altwegg im Vorwort zur deutschen Ausgabe nennt: „ein Segen“.

Das Buch aus der Feder des französischen Schriftstellers und Journalisten Jean-Pierre Richardot, der als jugendlicher Flüchtling die Zeit zwischen September 1942 und März 1945 in der Schweiz verbrachte, zeichnet ein anderes Bild der Schweiz, als sie die rund 25 Studien der „Unabhängigen Expertenkommission – Schweiz Zweiter Weltkrieg“ (UEK) im Jahre 2002 der Öffentlichkeit vor Augen führten.1 Richardot skizziert in seinem Buch das Bild einer „mutigen“ Schweiz, die sich dem drohenden Einfluss des Nationalsozialismus in der Zeit der Krise von 1933 bis 1945 entschlossen und vehement entgegenstellte. Eine Schweiz, die Tausende von Flüchtlingen aufnahm und die sich bewusst dem europäischen Widerstand als Drehscheibe zur Verfügung stellte.

Im Mittelpunkt der lebendigen Darstellung steht das Umfeld des 10. Mai 1940, dem Tag des Überfalls der Nazi-Truppen auf die Benelux-Staaten, sowie die Rede von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz am 25. Juni 1940 nach der Kapitulation der französischen Truppen, in der sich die schweizerische Landesregierung für eine sanfte Anpassung an das „neue Europa“ aussprach. Hier ortet Richardot den Punkt grösster Gefahr, in dem Defaitismus und Resignation in weiten Kreisen der Schweizer Eliten und Bevölkerung Überhand zu nehmen drohten. Diese Grundstimmung aufgreifend erzählt Richardot die Geschichte der Schweizer „Offiziersverschwörung“ um Alfred Ernst, Hans Hausamann, Max Waibel, August Lindt und Walter Allgöwer. Die Geschichte einer Gruppe von jungen Armeeangehörigen, die sich den Widerstand gegen nazifreundliche Strömungen in der Landesregierung und in der Spitze der Armee zur Aufgabe machte und die bereit war, sich nötigenfalls auch mit einem Putsch Gehör zu verschaffen. In der Folge formierten sich auch zivile Kreise in der so genannten „Aktion Nationaler Widerstand“. In Richardots Darstellungen wird die Rolle Hans Hausamanns fassbar, der unter dem Namen „Büro Ha“ ein unabhängiges und äusserst effektives Spionagenetz unterhielt und mit dem Nachrichtendienst der Armee eng zusammenarbeitete. Ein weiteres Augenmerk richtet Richardot auf die Bedeutung der Schweiz für die Operationen der französischen Résistance. Berichtet wird unter anderem vom französischen Spion Michel Hollard, welcher der englischen Armee die Nachricht über den Bau von Abschussrampen für die deutsche V1-Rakete in der Normandie überbrachte und damit die Stadt London vor einem grösseren Unglück bewahrte.

Richardot präsentiert seine Schweiz in einer Vielzahl von packenden Geschichten über Verschwörungen, Spionage und erfolgreiche Rettungen. Zudem lässt er in seinem Buch Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen. In den Fokus seiner Darstellungen kommen neben prominenten Mitgliedern des „Eidgenössischen Widerstandes“ (ein etwas fremd anmutender Begriff im Kontext der Schweizer Geschichte, der zumindest im französischen Untertitel so auch nicht steht) 2 auch ganz „gewöhnliche“ Menschen, die sich in ihrem Umfeld für Not leidende Flüchtlinge engagierten.
Richardots Œuvre ist keine akademische Studie im strengen Sinne des Wortes. Seine bunte Sprache ist nicht die eines Wissenschaftlers. Seine Quellen sind literarisch angereichert. Richardots Buch wirkt wie ein Drehbuch: Seine Figuren bewegen sich in einer klaren Szenerie. Die Rollen sind klar verteilt. Auch die Widersacher haben Gesichter.3
Richardots Blick auf die Schweiz ist stets wohlwollend, hat er als Jugendlicher die (welschen) Schweizer während des Zweiten Weltkrieges weder als betont nazifreundlich oder als gierige Bankiers noch als Fremdenhasser erlebt. Wohl mit dem Hintergrund dieser prägenden Erfahrung bleiben einige Bilder, die Richardot malt, etwas unscharf. So die – wenn auch differenzierte – Darstellung des „Gotthard-Bundes“, der bei all seinen betont patriotischen Verdiensten, die schweizerische Unabhängigkeit zu bewahren, dem Antisemitismus huldigte und keine Schweizer Juden in seine Reihen aufnahm.

Jean-Pierre Richardots „andere Schweiz“ bietet einen Kontrast zu den Darstellungen der voluminösen Studien der UEK. Richardots „andere Schweiz“ verdeutlicht, wie eine anders geartete Optik auf historische Ereignisse zu einem anderen und in mancherlei Hinsicht relativierenden Bild der Konstruktion verschiedener historischer Wirklichkeiten führt. In diesem Sinne ist Richardots Buch ein unverzichtbarer Beitrag zur Schweizer Erinnerungskultur, der erst noch spannend zu lesen ist.

Anmerkungen:
1 Siehe die Sammelrezension unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-071>; siehe auch http://www.uek.ch.
2 Franz. Original: Une autre Suisse 1940-1944. Un bastion contre l'Allemagne nazie.
3 Als Versuch einer literarischen Aufarbeitung siehe: Walter, Otto F., Zeit des Fasans, Reinbek bei Hamburg 1988.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.03.2006
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