G. u. S. Arlettaz: La Suisse et les étrangers

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Titel
La Suisse et les étrangers. Immigration et formation nationale (1848-1933)


Autor(en)
Arlettaz, Gérald; Arlettaz, Silvia
Erschienen
Lausanne 2004: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
€ 18,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Patrick Kury, Historisches Institut, Universität Bern

Die Schweiz verfügt - von einigen Kleinstaaten abgesehen - mit einem Prozentsatz von rund 20,5 über den höchsten Ausländeranteil Europas. Diese statistische Tatsache, die sich teilweise aus der Attraktivität des schweizerischen Wirtschaftsstandortes und des Fluchtlandes Schweiz, teilweise aus der restriktiven Einbürgerungspolitik und -praxis erklärt, führt dazu, dass die Immigration sowie die Präsenz von Ausländern in der Schweiz zu einem gesellschaftspolitischen Dauerthema wurden. Zahlreiche Volksbegehren, insbesondere in den 1920er-Jahren und dann wieder zur Zeit der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg sowie in den aktuellen Debatten über den richtigen Weg in der Asylpolitik, belegen dies ebenso wie die Gründungen von Parteien und politischen Organisationen, die das Thema «Ausländer» zum programmatischen Schwerpunkt ihrer Arbeit erhoben. Beispielsweise hatte in keinem anderen Land Europas der Begriff der «Überfremdung» einen derart grossen Einfluss auf die politische Kultur des Landes wie in der Schweiz, und die Gründung der «Nationalen Aktion für Volk und Heimat» in den 1960er-Jahren war die erste xenophob ausgerichtete Partei Europas der Nachkriegszeit. Auch der aktuelle Erfolg der «Schweizerischen Volkspartei» mit ihrem radikalen, gegen die Integration der Schweiz in die Europäische Union ausgerichteten Kurs basiert in weiten Teilen auf der Reformulierung eines fremdenfeindlichen, antietatistischen Gedankenguts helvetischer Provenienz.

Mit ihrer Studie «La Suisse et les étrangers» legen die Historikerin Silvia Arlettaz und der Historiker Gérald Arlettaz, die seit rund zwei Jahrzehnten unterschiedliche Aspekte der schweizerischen Migrations- und Ausländerpolitik untersuchen, eine kleine, überzeugende und mit einem Quellenanhang versehene Synthese ihres Arbeitens vor. Ausgangs- und Schlusspunkt ihrer Überlegungen bildet die skizzierte gesellschaftspolitische Aktualität von AusländerInnen in der Schweiz. Möchte man die aktuellen, grösstenteils hausgemachten Probleme in der Ausländer-, Flüchtlings-, beziehungsweise Asyl- und in der Einbürgerungspolitik besser verstehen, so fällt gemäss den Autoren der Periode von der Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 bis zum Inkrafttreten des ersten Bundesgesetzes über «Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern» (ANAG) im Jahre 1933 eine besondere Bedeutung zu. In dieser Phase wandelte sich die Schweiz von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland. 1917 wurde zudem die für Immigrationsfragen entscheidende bundesstaatliche Institution gegründet, die eidgenössische Fremdenpolizei. Im selben Zeitraum bildeten sich – teilweise in einem interdependenten Verhältnis zur Einwanderung der Ausländer – die Merkmale des «Nationalen» helvetischer Prägung heraus. In Anlehnung an den französischen Sozialhistoriker Gérard Noiriel stützen sich die Autoren bei der Beschreibung dieses Prozesses auf das Konzept der «formation nationale», das mit der Herausbildung des nationalen Raums umschrieben werden könnte: Auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene avancierte die Nation seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Schweiz zum hegemonialen Wertmodell.1 Davon bestimmt war vor allem auch die schweizerische Migrations- und Einbürgerungspolitik. In diesem Prozess der «formation nationale» stellte der Erste Weltkrieg, so Gérald und Silvia Arlettaz, den zentralen Bruch zwischen einer tendenziell integrativen Phase und einer Phase der Abwehr dar. Entsprechend unterteilen die Autoren den von ihnen gewählten Untersuchungszeitraum in die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg (Die Schweiz - Ort der Immigration) und in die Zeit zwischen 1914 und 1933 (Migrationspolitik der Abwehr).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden Tausende von politischen Flüchtlingen Aufenthalt in der Schweiz, was die Schweiz auch teilweise zu einem mystifizierenden Selbstbild zu nutzen wusste.2 Erschwert wurde hingegen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der Aufenthalt ausländischer Fahrender. Zur gleichen Zeit setzte auch, insbesondere auf deutschen Druck, eine Kontrolle ausländischer, sozialistischer und anarchistischer Aktivisten ein, die in die Schweiz geflohen waren oder von hier aus ihre politischen Ziele zu verfolgen suchten. Aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und der besseren Verkehrsverbindungen stieg der Ausländeranteil in der Schweiz seit den 1880 Jahren rasch an und betrug unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 15 Prozent. Bei den AusländerInnen handelte es sich hauptsächlich um Arbeitsmigranten aus den Nachbarstaaten, wobei Deutsche und Italiener die grössten Gruppen stellten. Die Migranten zogen vor allem in die rasch wachsenden Städte Genf, Basel und Zürich oder arbeiteten an den infrastruktrullen Grossprojekten der Bahnen. Der Bundesrat sowie damalige Experten in Fragen der Sozialpolitik und Demografie erblickten in der fehlenden Ausländerpolitik je länger je mehr eine politische Gefahr. Noch immer lag die Verantwortung betreffen Zuwanderung, Niederlassung und Einbürgerung sowie die entsprechenden sozialpolitischen Konsequenzen fast zur Gänze in der Verantwortung der Kantone und Gemeinden. In Zusammenarbeit mit den hauptbetroffenen Kantonen setzte sich die Bundesregierung zum Ziel, den Ausländeranteil zu senken, was durch eine forcierte und erleichterte Einbürgerunspolitik hätte erfolgen sollen. Doch eine zufriedenstellen Lösung der Einbürgerungsfrage auf gesamtschweizerischer Ebene wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert.

Der Erste Weltkrieg und der «Landesgeneralstreik» von 1918, die grösste sozialpolitische Krise der Schweiz im 20. Jahrhundert, veränderten den Umgang mit AusländerInnen radikal. Trotz eines deutlichen Rückgangs des Ausländeranteils infolge des Ersten Weltkriegs fanden die ersten grösseren innenpolitischen Auseinandersetzungen zur «Fremdenfrage» während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs und während der unmittelbaren Nachkriegsjahre in einer sozial- und wirtschaftspolitisch äusserst gespannten Atmosphäre statt.3 Unter dem Einfluss des Kriegs konkretisierten sich protektionistische Ideen sowohl in wirtschafts- als auch in gesellschaftspolitischen Bereichen. Eine vorerst provisorische Niederlassungspolitik ersetzte die Freizügigkeit im internationalen Personenverkehr. Mit der eidgenössischen Fremdenpolizei beziehungsweise mit deren Vorläuferin setzte seit 1917 eine bundesstaatliche Kontrolle der neuen Politik der Abwehr sowie eine institutionalisierte Form der Beschäftigung mit der «Ausländerfrage» ein. Ihre Hauptaufgabe erkannte die neue Amtsstelle in der Überfremdungsbekämpfung. Im Wechselspiel von polizeilichen sowie wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Überlegungen wurde «Überfremdung» zum Schlagwort, zum beherrschenden Begriff innerhalb der Ausländerfrage. Das Hauptanliegen der Behörden war es, unter Führung der Chefbeamten Ernst Delaquis und Heinrich Rothmund die Zuwanderung durch eine vorerst quantitative, zunehmend aber durch eine «qualitative Auswahl» mitzubestimmen. Dabei wurde von einer inneren Geschlossenheit, von einer inneren Verbundenheit, einer nationalen Verwandtschaft von Schweizern ausgegangen. Mit der eidgenössischen Fremdenpolizei erhielt die Schweiz im Bereich der Migrationspolitik so nicht nur eine zentralstaatliche Institution. Zugleich wurde der Übergang von einer grundsätzlich republikanischen zu einer ethnischen Konzeption von «Nation» und «Fremdenfrage» behördlich verankert. So wurde ein Prozess abgeschlossen, der, gemäss den Autoren, seit 1908 wirksam war (S. 78).

In diesem Tranformationsprozess spielten intermediäre Organisationen wie die 1914 gegründete «Neue Helvetische Gesellschaft» oder kulturelle Foren wie die Zeitschrift «Wissen und Leben» eine bedeutende Rolle. Die ausschliessenden Praktiken sowie die Kriterien eines volkswirtschaftlichen Utilitarismus richteten sich vor allem gegen jüdische und politisch links gerichtete Immigranten. Diese Abwehrideologie hatte massgeblichen Einfluss auf die Ausarbeitung des «Gesetzes über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern» (ANAG) aus dem Jahre 1931. Mit diesem Gesetz erhielten die Behördenvertreter die rechtliche Grundlage und das Instrument für die Praxis der Überfremdungsbekämpfung. Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahre 1933 und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sollte die Überfremdungsbekämpfung oberstes handlungsleitendes Motiv der Beamten bleiben. In einem abschliessenden Teil werden die Kontinuitäten dieses Handelns in der Flüchtlings-, Arbeitermigrations- und Einbürgerungspolitik bis in die Gegenwart nachgezeichnet. So sei die Studie über das Fachpublikum hinaus all jenen sehr empfohlen, die sich für einen problemorientierten und zugleich historisch fundierte Zugang zur schweizerischen Ausländerpolitik interessieren.

Anmerkungen:
1 Noiriel, Gérard, État, nation et immigration. Vers une histoire du pouvoir, Paris 2001.
2 Busset, Thomas, «Va-t'en!». Accueil de réfugiés et naissance du mythe de la «terre d'asile» en Suisse, Lausanne 1994.
3 Garrido-Priscoli, Angela, Les débuts de la politique fédérale à l'égard des étrangers, Lausanne 1987.

Redaktion
Veröffentlicht am
22.06.2005
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