G. Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich

Cover
Titel
Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857


Autor(en)
Mettele, Gisela
Reihe
Bürgertum Neue Folge 4
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexander Pyrges, Universität Trier Fachbereich III - Geschichte Universitätsring 15 54286 Trier

Gisela Mettele versteht ihre Studie zur Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert als Beitrag zu einer in den letzten Jahren viel diskutierten ‹Geschichte jenseits des Nationalstaats›. In der überarbeiteten Fassung ihrer 2004 als Habilitationsschrift an der Technischen Universität Chemnitz angenommenen Arbeit setzt sie sich das ehrgeizige Ziel, die Konstitution einer religiösen Gemeinschaft aufzuarbeiten, die quer lag zu den von der Geschichtsschreibung gemeinhin vorausgesetzten Grenzen. Die Herrnhuter wurden bisher nicht nur, wie viele religiöse Gruppen, in ihrer denominationellen Nische untersucht, sondern auch, wie die Verfasserin zu Recht moniert, in proto-nationalen Grenzen. Zwar hat die Geschichtsschreibung die globale Dimension der Brüdergemeine keinesfalls übersehen, doch hat sie sie kaum je systematisch untersucht oder interpretativ ausgelotet. Der bisherigen Forschung aus der Perspektive einzelner herrnhutischer Siedlungen oder Kirchenprovinzen setzt Mettele daher einen strukturierenden globalen Blick entgegen.

In drei Hauptkapiteln arbeitet die Verfasserin die organisatorischen, kommunikativen und narrativen sowie ikonografischen Bedingungen dieser quer zu territorialstaatlichen Strukturen liegenden Gemeinschaft vom zweiten Viertel des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Sie hat zu diesem Zwecke neben Dokumenten aus den Archiven in Herrnhut und Bethlehem Periodika der Brüdergemeine sowie eine Vielzahl zeitgenössisch gedruckter und im Nachhinein publizierter Quellen ausgewertet. Indem sie darüber hinaus die umfangreiche Literatur zu den verschiedenen Regionen und Aspekten herrnhutischen Wirkens im 18. und 19. Jahrhundert aufarbeitet, überwindet sie die bisherige Fragmentierung der Geschichtsschreibung zur Brüdergemeine und stellt die parallele Ordnung des Lebens und Wirkens der Brüder und Schwestern in verschiedenen Teilen der Welt heraus.

Resultat dieser breit gestreuten Analyse mit punktuellen Tiefenbohrungen ist ein facettenreiches Bild herrnhutischer Gemeinschaftsbildung über beinahe anderthalb Jahrhundert hinweg. Weltweit waren Brüder und Schwestern in weitgehend identische Ordnungen eingebunden. Von einer zunächst vor allem charismatischen, nach Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Tod 1760 dann zunehmend institutionalisierten Führung verfügte Statuten regelten das Zusammenleben in geschlossenen Siedlungen. Sie untergliederten die Gemeinden in nach Geschlecht, Alter und Familienstand ausdifferenzierte Chöre und legten die Ausrichtung der Gemeindeökonomien fest. Identische Disziplinierungseinrichtungen und Konfliktlösungsmechanismen, etwa Visitationen oder Losentscheide, sicherten Konformität, und gleiche Lebensrhythmen von den täglichen Losungen bis zu den jährlichen Gedenktagen synchronisierten das Leben von Herrnhutern über grosse Distanzen hinweg. Das überall an der deutschen Sprache ausgerichtete Erziehungssystem der Brüdergemeine glich die Sozialisationsprozesse weltweit an und ebnete kulturelle Differenzen ein.

Die ebenfalls in allen Gemeinorten ähnlich eingerichtete Produktion und Rezeption von Medien garantierte darüber hinaus einen permanenten Austausch zwischen weit verstreuten Herrnhutern. Weltweit dokumentierten Gemeinschreiber das örtliche Geschehen in Diarien, und nach 1760 berichteten Chorvorsteher/innen über die Einhaltung der Statuten. Die aus den Berichten an die Zentrale kompilierten Gemeinnachrichten wurden, bis 1818 handschriftlich, danach im Druck, an alle Gemeinorte verschickt und dort zu festgelegten Terminen öffentlich verlesen, gelegentlich sogar mehrfach. Gleiches galt für die Statuten, die nach 1760 regelmässig neu verlesen wurden, ebenso übrigens wie die Erlasse der ab 1764 einberufenen Synoden. Den Gemeinnachrichten beigelegt waren die Lebensläufe Verstorbener, wie sie von Brüder und Schwestern zur Gänze oder teilweise selbst verfasst, von ihren Angehörigen nach ihrem Ableben kompiliert, komplettiert oder zensiert und von den Redakteuren des Periodikums selektiert und ediert wurden. Die Nutzung des Deutschen als lingua franca, von Übersetzungen sowie einer transkulturell verständlichen Bildersprache erleichterte den globalen Austausch. Dieser blieb nicht auf Medien beschränkt, sondern schloss auch Gelder und Personen ein. Die Siedlungen gaben einen Teil ihres Profits an die Gemeinleitung ab, welche damit Missionsstationen finanzierte und Kredite für Herrnhuter Unternehmen. Bedürftige Gemeinorte genossen die materielle Solidarität weit entfernter Brüder und Schwestern. Auch dem Arbeits- und dem Heiratsmarkt der Brüdergemeine eignete eine translokale Qualität. Gemeinden kommunizierten etwa Vakanzen in bestimmten Handwerkszweigen oder das Fehlen von Frauen im heiratsfähigen Alter und hofften auf die Verschickung entsprechender Personen aus anderen Siedlungsorten. So bildeten sich soziale und ökonomische Interdependenzen heraus, die die Gemeinorte weltweit vernetzten.

Einheitliche Ordnung, intensiver Austausch und Interdependenz begründeten das translokal gültige Wertesystem der Brüdergemeinde. Die Gemeinnachrichten boten Rollenvorbilder für Brüder und Schwestern und leisteten somit einer siedlungsübergreifenden Geschlechteridentität Vorschub. Die Herrnhuter glaubten an die göttliche Ordnung auch alltäglicher Dinge und lasen daher beispielsweise aus Losentscheiden göttliche Autorität heraus. Die Arbeit am Aufbau des Reichs Gottes war das gemeinsame Ziel aller Mitglieder der Religionsgemeinschaft. Spezifische Praktiken der Raumüberbrückung, etwa das Veröffentlichen von Lebensläufen als Todesanzeigen in den global zirkulierenden Gemeinnachrichten oder die Nutzung von Porträts als Platzhalter für abwesende Älteste bei Sitzungen und Festen, liessen unter den Mitgliedern einzelner Siedlungen das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu einer umfassenderen Gemeinschaft entstehen.

Vor allem aber, und dies ist Metteles zentrales Argument, schufen Ähnlichkeiten, Austausch und Interdependenz ein «Gefühl ortsübergreifender Verbundenheit» (191), sie stifteten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Brüdern und Schwestern in aller Welt. Zentraler Mechanismus der Herrnhuter Gemeinschaftsbildung waren die Schaffung und der Erhalt eines solchen Zusammengehörigkeitsgefühls. Mit dieser Deutung knüpft die Verfasserin an ein etabliertes historiografisches Interpretament zu vormodernen wie modernen religiösen Gruppen an. Spätestens seit den sozialwissenschaftlichen Debatten um 1900 haben Historiker ein Gefühl der Zusammengehörigkeit als Grundlage religiöser Vergemeinschaftung von der Antike bis zur Gegenwart identifiziert. Zugleich erfasst sie damit das zeitgenössische Selbstverständnis und ein wichtiges Handlungsmotiv der Herrnhuter. Die Reformsynoden von 1764, 1769 und 1775 zielten auf die Sicherung eines weltweiten gemeinschaftlichen Zusammenhalt, so Mettele. Die Gemeinleitung suchte die Ortsbindung der Brüder und Schwestern möglichst gering zu halten, indem sie etwa Landwirtschaft untersagte, Ortswechsel begünstigte und transterritoriale Ehen förderte. Auch die Gemeinnachrichten sollten «die einheitliche Entwicklung [...] weit verstreuten Gruppe [...] sichern», sie sollten, «das Band der Gemeinschaft [...] erhalten und festigen [...] und uns in naher Bekanntschaft miteinander erhalten» (151), so ein Zitat aus den Verhandlungen des Synodus.

Allerdings scheint dieses Modell der durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gestifteten globalen religiösen Gemeinschaft die komplexe soziale Realität der Brüdergemeine, die die Verfasserin in ihrer Studie so überzeugend entfaltet, kaum angemessen einzufangen. Zum einen erschöpften sich die Bindungen innerhalb der Brüdergemeine nicht in Zusammengehörigkeitsgefühlen. Mettele erläutert wiederholt die ökonomische Verzahnung der Siedlungen der Brüdergemeine durch translokale Arbeitsvermittlung, Akte finanzieller Solidarität, Abgaben an die Zentrale oder von der Gemeinleitung an Unternehmer in den Gemeinorten vergebene Kredite. Sind diese ökonomischen Verflechtungen als Produkte oder Generatoren von Zusammengehörigkeitsgefühlen tatsächlich angemessen erfasst? Handelt es sich dabei nicht vielmehr um soziale Strukturen, die dauerhafte globale Beziehungen zwischen Brüder und Schwestern (zumindest teilweise) unabhängig von Gefühlen der Verbundenheit stifteten und beförderten?

Häufiger noch als auf ökonomische Verflechtungen weist die Verfasserin auf die hierarchische Organisation der Brüdergemeine hin. Im Verlauf der Studie begegnen dem Leser Älteste und Ältestinnen, ein Aufseher-Collegium, Branchenleiter und Führungspersönlichkeiten ebenso wie Chorpflegerinnen, Lektoren, Synoden, die Unitäts-Ältesten-Konferenz und Vorsteher. Die Autorität dieser Organe speiste sich teils aus dem Charisma der Amtsinhaber, teils aus Statuten und wurde durch symbolische Akte stabilisiert. Je nach Kompetenz bestimmten und überwachten Amtsinhaber und Führungsgremium die institutionelle Struktur der Gemeinden und sicherten mittels erzieherischer und disziplinarischer Massnahmen die dogmatische Uniformität der Gemeinschaft ebenso wie die moralische Konformität ihrer Mitglieder. Zusammenfassend charakterisiert Mettele die Brüdergemeine als «Theokratie» (141).

Wie genau sich allerdings Oktroy, institutionelle Einbindung, Kontrolle und Disziplinarmassnahmen zum Gefühl der Zusammengehörigkeit verhielten, bleibt unklar. Das Konzept des Zugehörigkeitsgefühls sieht die Gemeinschaft durch Individuen konstituiert, die sich der Gesamtheit verbunden fühlen. Im Fall der Brüdergemeine wurde Zusammenhalt jedoch auch durch ‹obrigkeitliche› Intervention hergestellt, so Mettele: «Die globale Einheit wurde also nicht zuletzt dadurch erhalten, dass grundsätzlich abweichende Stimmen mundtot gemacht wurden.» (141) Die Verfasserin spricht diese Ambivalenz mehrfach an, ohne daraus allerdings weitergehende Schlüsse zu ziehen für die Verfasstheit der Brüdergemeine. Wie verhielten sich Theokratie und Gemeinschaft zueinander? Waren diejenigen, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlten, zugleich diejenigen, die in Lebenswandel und Rechtsgläubigkeit den Erwartungen der Führungsgremien entsprachen? Der von Mettele ausführlich geschilderte Fall des Ausschlusses von Richard Viney im Jahr 1743 suggeriert, dass ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft nicht gleichbedeutend war mit einer Mitgliedschaft in der Brüdergemeine. Darstellung und Zitate lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass sich Viney vor, während und auch noch nach der Auseinandersetzung mit der Gemeinleitung, die in seiner Ächtung resultierte, der globalen Gemeinschaft der Herrnhuter zugehörig fühlte. Metteles Ausführungen zu den ökonomischen Verflechtungen innerhalb der Brüdergemeine ebenso wie zu ihrer hierarchischen Organisation deuten darauf hin, dass die globale Gemeinschaft als emotionale Gemeinschaft nur unzureichend beschrieben ist. Wurde diese globale Sozialformation nicht vielmehr durch ganz verschiedene Arten von ‹Klebstoff› zusammengehalten, von der ökonomischen Abhängigkeit über die obrigkeitlich Kontrolle, die institutionalisierten Mitgliedschaftsstrukturen und den sozialen Zwang bis zum Gefühl der Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Teilhabe, die je eigene, unter Umständen sogar gegenläufige Dynamiken entfalteten?

Zum anderen eignet dem Modell der auf dem Gefühl der Zugehörigkeit gegründeten Vergemeinschaftung eine dichotomische Qualität, die die verschiedenen von Mettele überzeugend herausgearbeiteten ‹Grade› der Zugehörigkeit nicht angemessen erfasst. Ein (etwas weniger) einfaches Bild bemühend könnte man die verschiedenen Zugehörigkeiten als konzentrische Kreise beschreiben: Auf den ‹harten Kern› der Vollmitglieder, die in den herrnhutischen Siedlungen am Tisch des Herrn sassen, folgen zunächst die noch nicht, die nicht mehr und die nie zum Abendmahl zugelassenen Bewohner der Gemeinden und schliesslich die Mitglieder in der Diaspora, die ‹Freunde› und die Förderer. Weitere Differenzierungen verkomplizieren das Bild: In den Missionsstationen etwa wurden zugewanderte Europäer von «Nationalgehülfen» und Konvertiten unterschieden. Nur am Rande diskutiert Mettele die Afrikaner in den nordamerikanischen Siedlungen, deren sich wandelnde ‹Zugehörigkeit› zur Brüdergemeine Jon Sensbach untersucht hat. (Jon F. Sensbach, A Separate Canaan: The Making of an Afro-Moravian World in North Carolina, 1763–1840. Chapel Hill 1998).

Die verschiedenen Gruppen unterschieden sich im Grad ihrer Einbindung in die gemeinschaftlichen Strukturen, also etwa inwiefern ihr Leben den Rhythmen der Brüdergemeine unterworfen war – die von den Bewohnern der Siedlungen begangenen Gemeintage beispielsweise sind für die Missionsstationen nicht dokumentiert. Besonders aber die globalen Kommunikationskreisläufe der Herrnhuter wiesen ein fein ausdifferenziertes System der Teilhabe auf. Welche Medien der Einzelne rezipierte und zu welchen er beitrug, hing von seiner Position innerhalb der Brüdergemeine ab. Bestimmte Informationen waren Funktionsträgern vorbehalten, andere wurden an den Gemeintagen öffentlich verlesen, wieder andere durften, zum Teil unter Auflagen, auch in der Diaspora oder von ‹Freunden› gelesen werden. Zeitweise wurden für die verschiedenen Zielgruppen sogar unterschiedliche Versionen der Gemeinnachrichten verfasst. Vollends unübersichtlich wird das Bild, wenn man die zeitgenössischen Wahrnehmungen der Herrnhuter berücksichtigt. Sie verstanden sich selbst als Lutheraner sowie als Mitglieder einer die Konfessionsgrenzen transzendierenden unsichtbaren Kirchen, ihre Konvertiten dagegen sahen sie schlicht als (Neu-)Christen.

Letztlich bleibt unklar, wie sich dieses ausdifferenzierte Raster praktizierter und zugeschriebener Zugehörigkeiten zur Vergemeinschaftung durch emotionale Zugehörigkeit verhält. Zeichneten sich die verschiedenen Gruppen von den Vollmitgliedern über die Konvertiten bis zu den Förderern durch verschieden intensive Gefühle der Zugehörigkeit aus? Kann man also von graduell abgestufter Zugehörigkeit sprechen? Oder sahen sich die Herrnhuter als Schnittmenge verschiedener christlicher Gemeinschaften? Galten also etwa Freunde in der Diaspora als Mitglieder der unsichtbaren Kirche, nicht aber der Brüdergemeine? Lässt man sich auf die von Mettele enthüllte empirische Komplexität ein, dann löst sich die Eindeutigkeit auf, welche die dem Modell der Gemeinschaft zugrunde liegende Unterscheidung zugehörig/nicht-zugehörig suggeriert. Sie mag die im Herrnhuter Weltbild fest verankerte Trennung zwischen Innen und Aussen, zwischen Freund und Feind einfangen, nicht aber die soziale Realität dieser Religionsformation.

Überzeugend entfaltet die Verfasserin das soziale Gefüge der Brüdergemeine als translokaler Religionsformation in seinen verschiedenen Dimensionen und in all seiner Vielschichtigkeit. Zukünftige quer zu tradierten Grenzen liegende Untersuchungen (nicht nur) religiöser Gruppen werden sich an dieser Darstellung messen lassen müssen. Zugleich zeigt die Arbeit jedoch deutlich, dass die Vielschichtigkeit von nationale oder andere Grenzen sprengenden sozialen Formationen mit dem klassischen konzeptionellen Instrumentarium der historischen Zunft nur unzureichend eingefangen werden kann. Metteles Studie ist somit zugleich Vorbild und Ansporn.

Zitierweise:
Alexander Pyrges: Rezension zu: Gisela Mettele, Weltbürgertum und Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857, Göttingen, Vandenhoeck&Ruprecht, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 568-572.