D. Flückiger: Strassen für alle

Cover
Titel
Strassen für alle. Infrastrukturpolitik im Kanton Bern 1790–1850


Autor(en)
Flückiger, Daniel
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 88
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Erika Flückiger Strebel, ViaStoria - Zentrum für Verkehrsgeschichte

Die Arbeit von Daniel Flückiger zum Strassenbau im Kanton Bern zwischen 1790 und 1850, die 2009 als Dissertation an der Universität Bern entstanden ist, präsentiert einen breiten Strauss von Fragestellungen, die der Autor mittels vielfältiger methodischer Zugänge und theoretischer Konzepte zu beantworten sucht. Primär steht die Frage nach den Motoren der modernen Infrastrukturpolitik im Kanton Bern im Vordergrund. Der Autor hinterfragt dabei die lange Zeit gängige These, wonach der Ausbau der Infrastrukturen primär ein Werk der zentralstaatlichen Politik und Bürokratie gewesen sei, und stellt das staatliche Handeln in einen grösseren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang.

Die Arbeit untersucht einen Zeitraum, der nicht nur für die Strassengeschichte des Kantons Bern, sondern für die Verkehrsgeschichte der ganzen Schweiz von zentraler Bedeutung war. Zwischen 1740 und 1850 erlebte das Schweizerische Mittelland und mit ihm der Kanton Bern einen sukzessiven Ausbau der Hauptstrassen zu befestigten Kunststrassen und Chausseen. Dieser Ausbau führte zu einer Hierarchisierung der Verkehrswege, zur Herausbildung eines grenzüberschreitenden Wegnetzes und zur verkehrstechnischen Integration des schweizerischen Flachlandes. Im Kanton Bern stand im 18. Jahrhundert mit dem Bau der Neuen Aargauerstrasse der Ausbau der Ost-West-Handelsroute im Zentrum der staatlichen Strassenbaupolitik. Der Ausbau beruhte auf wirtschaftspolitischen Erwägungen: Die Angst, vom Handels- und Transitverkehr wegen schlechter Strassen gemieden und umfahren zu werden, war die grösste Motivation für den Bau neuer und den Ausbau bestehender Strassen, was übrigens eine Konstante der schweizerischen Verkehrspolitik bis in die heutige Zeit bleiben sollte. Nach der durch Kriegswirren und Finanzknappheit bedingten Einstellung der Bauprojekte während der Helvetik lancierte Bern nach 1815 mit der Sustenstrasse und der Simmentalstrasse erstmals Bauprogramme in den Bergregionen des Kantons, wobei diese Bauvorhaben nicht nur zur Förderung des Warenverkehrs gedacht waren, sondern auch als Beschäftigungsmöglichkeit für die arme Bevölkerung.

Einen regelrechten Strassenbauboom erlebte der Kanton Bern ab 1831 nach dem Wechsel zur liberalen Regierung. Diese forcierte primär aus volkswirtschaftlichen Erwägungen den flächenhaften Ausbau des Wegnetzes im ganzen Kanton, um den Warenverkehr auch in den peripheren und bisher schlecht erschlossenen Gebieten wie dem Emmental, dem Oberland oder dem Schwarzenburgerland zu verbessern. Daniel Flückiger hat berechnet, dass der Kanton in dieser Phase die Netzdichte seiner Staatsstrassen von 80 auf 280 Meter pro Quadratkilometer ausbaute, womit er bereits nahe an die heutige Netzdichte von 350 Meter/km2 herankam. Wie der Autor aufgrund der Auswertung der bernischen Staatsrechnungen nun belegen kann, bescherte diese Parforceleistung dem Staat erstmals einen Negativsaldo in der Strassenrechnung, indem die Ausgaben für Strassenneubauten und -unterhalt die Einnahmen aus Weggeldern und Zöllen überstiegen. Die Zeit des liberalen Strassenbaus zwischen 1830 und 1850 erweist sich aus zweierlei Hinsicht als spannende Phase in der schweizerischen und bernischen Strassengeschichte: einerseits brachte der Bauboom dieser Jahre die wohl grundlegendste Änderung der Strassensituation mit sich, indem man nicht mehr nur auf die Transitrouten, sondern auch auf den Ausbau eines regionalen Hauptstrassen netzes setzte. Anderseits führten die oft heftig geführten Diskussionen zwischen Verfechtern regionalpolitischer versus handelspolitischer Argumente zu einer Politisierung des Strassenbaus.

Daniel Flückiger stellt die Strasseninfrastrukturgeschichte Berns in einen direkten Zusammenhang mit der Herausbildung einer modernen Staatsverwaltung bis 1850. Damit legt er das Augenmerk auf einen spannenden Aspekt der Verkehrsgeschichte. Nicht nur die Zahl und die Grösse der einzelnen Strassenbauprojekte, sondern auch der stetig zunehmende Bedarf an Unterhaltsarbeiten – nicht zuletzt bedingt durch die zahlreichen neuen Strassen – erforderten zusätzliches und gut ausgebildetes Personal sowie die Äufnung neuer Finanzierungsquellen. In Bern kam es 1818 zur Schaffung einer allerdings noch mehrheitlich ehrenamtlich arbeitenden Strassenkommission, aus der sich erst 1836 das Baudepartement mit fest angestellten Bezirksingenieuren und Strasseninspektoren entwickeln sollte. Anders als in anderen europäischen Staaten verlief die Professionalisierung der bernischen Strassenverwaltung damit eher gemächlich und wurde noch in der Phase des Baubooms der 1830er-Jahre primär von ehren- oder nebenamtlich arbeitenden Kommissionsmitgliedern, Landvögten und Gemeindevertretern getragen. Wichtigere Faktoren der Professionalisierung des bernischen Strassenbaus waren dagegen der zunehmende Einbezug privater Bauunternehmer, die allmähliche Ablösung der Fronarbeit durch bezahlte Lohnarbeit und die Schaffung eines Strassenfonds als neue Finanzierungsmöglichkeit, um die Finanzierung von Strassenbauprogrammen langfristig zu garantieren.

Anhand zweier Fallbeispiele, der Simmentalstrasse im Berner Oberland und der Wannenfluhstrasse im Emmental, erarbeitet der Autor die vielfältigen Aspekte der Verflechtung von Infrastrukturprojekten und politischem Diskurs, der Verwaltungsmodernisierung und der Zusammenarbeit zwischen Staat und Gemeinden. Dabei weist er den Gemeinden eine zentrale Bedeutung nicht nur beim Bau, sondern auch beim Unterhalt der neuen Strassen zu. Dank einer vom bernischen Strasseninspektor zwischen 1820 und 1837 konsequent eingesetzten billigeren Strassenbautechnik sparte der Staat Kosten für Baumaterial und teure Facharbeiter, während der Aufwand der Gemeinden, die für den Transport, das Zerkleinern und die Verteilung des Strassenschotters verantwortlich waren, so hoch blieb wie bisher. Die Anfänge einer modernen Infrastrukturpolitik wurden damit im Kanton Bern gemäss Ansicht des Autors zu grossen Teilen von den Gemeinden getragen. Erst mit dem Machtwechsel von 1831, bei dem die regionalen Eliten an politischem Einfluss gewannen, setzte eine Neuverteilung der Unterhaltslasten zwischen Gemeinden und Staat ein. Der Autor betont damit die zentrale Bedeutung der regionalen und lokalen Eliten für eine erfolgreiche Umsetzung der staatlichen Infrastrukturpolitik und formuliert daraus seine Schlussfolgerung, dass der bernische Staat nur dank dem starken Einbezug der Gemeinden eine moderne Infrastrukturpolitik betreiben konnte.

Die Arbeit von Daniel Flückiger vermittelt dank ihrer vielfältigen Fragestellungen und methodischen Zugänge neue und bemerkenswerte Erkenntnisse zur bernischen und schweizerischen Infrastruktur- und Verkehrsgeschichte, zur Verwaltungs- und Institutionengeschichte, zur Elitenforschung und zur Rolle der politischen Akteure. Mit ihren Ergebnissen zur Rolle der Gemeinden im Strassenbau und -unterhalt relativiert sie den bisherigen Forschungsstand, der die zentralen Verwaltungen als die hauptsächlichen Agenten des vormodernen Strassenbaus ansah, und eröffnet damit eine wichtige neue Sichtweise auf den Wandel der Infrastrukturpolitik im 18. und 19. Jahrhundert. Die Arbeit von Daniel Flückiger leistet einen wichtigen und lesenswerten Beitrag zur Erforschung der bisher von der Geschichtswissenschaft eher stiefmütterlich behandelten Sattelzeit zwischen Ancien Régime und modernem Verwaltungsstaat.

Zitierweise:
Erika Flückiger Strebel: Rezension zu: Daniel Flückiger: Strassen für alle. Infrastrukturpolitik im Kanton Bern 1790–1850 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 88). Baden, Verlag hier + jetzt, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 507-509

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 507-509

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