A. Joss: Anhäufen, Forschen, Erhalten

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Titel
Anhäufen, Forschen, Erhalten. Die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums 1899 bis 2007


Autor(en)
Joss, Anna
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anja Früh, Berlin

Anna Joss hat eine kluge, kenntnisreiche und leidenschaftliche Geschichte der musealen Arbeit am Schweizerischen Nationalmuseum (1889−2007) vorgelegt. Sie ist das Ergebnis ihrer an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich angesiedelten Dissertation.

Die Autorin fasst unter dem Begriff «Sammeln» alle Tätigkeiten im direkten Umgang mit der Sammlung, angefangen vom «Kaufen, Schenken, Aufbewahren, Ausleihen, Weggeben» bis zum «Ausstellen und Einlagern» (S. 17). Damit erweitert sie den Blick von Museumsforschungen, die sich hauptsächlich für die Ausstellungspraxis interessieren. Anders als es der Untertitel des Buches vermuten lässt, geht es hier also weniger um die Geschichte der Sammlung als um die Geschichte des Sammelns in diesem umfassenden Sinn. Die damit verbundenen Fragen nach den Akteuren, ihren sich wandelnden Beweggründen, Ansprüchen und Vorstellungen, die sich in der Museumspraxis materialisierten, bettet Joss in übergeordnete Fragen nach den jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten ein.

Dieses komplexe Erkenntnisinteresse moderiert die Autorin, indem sie die grossen Linien der Geschichte der musealen Arbeit in den Blick nimmt. Drei Leitbegriffe strukturieren ihre Darstellung thematisch und chronologisch: «Anhäufen» (1900er−1920er Jahre), «Forschen» (1930er−1960er Jahre) und «Erhalten» (1970er−2000er Jahre) stehen für die Titel der drei aufeinander folgenden Kapitel und verweisen zugleich auf die Schwerpunkte der jeweiligen Sammlungspraktiken.

Der mengenmässige Erwerb erfüllte während der ersten zwei Jahrzehnte nach der Museumsgründung die Funktion der institutionellen Festigung bis es Ende der 1920er Jahre zu einer Zäsur kam (vgl. S. 83). Nicht mehr das «Anhäufen », so der Titel des ersten Kapitels, sondern die Beschränkung der Erwerbstätigkeit wurde dann legitim. Gleichzeitig lösten sich die «Museumsbehörden» vom Anspruch, die Sammlungsstücke vollständig zeigen zu wollen. In der Folge wurden Depots und Studiensammlungen eingerichtet.

Anna Joss beleuchtet im zweiten Kapitel das «Forschen» als bedeutsame Tätigkeit im Zeitraum von 1930 bis 1970. Das neue Interesse an der historischgenealogischen Dimension der Objekte und am Materialzustand erklärt sie als Folge veränderter Handelsbeziehungen und der Professionalisierung des Kunstmarktes in den 1930er Jahren. Diese Entwicklung war zugleich mit späteren institutionellen Bemühungen um eine neue Legitimation als nationale Forschungsanstalt innerhalb der schweizerischen Museumslandschaft verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die naturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsarbeit Einzug im Museum. Die gezielten Investitionen in wissenschaftliche Infrastruktur folgten internationalen Trends arbeitsteiliger Spezialisierung, der Etablierung von Grundlagenforschung und der Professionalisierung der Untersuchungsmethoden, insbesondere im Bereich der Restaurierung und Konservierung (vgl. S. 133, 141f.).

Im dritten Kapitel geht es um die grundlegenden Neuerungen der Museumsarbeit
seit den 1970er Jahren bis in die 2000er Jahre: Gegenwartsbezogene erlebnisorientierte Ausstellungsarbeit, so lautete die Antwort auf die neue Herausforderung, wie «historisches Wissen» fortwährend lebendig zu «erhalten» sei (S. 160). Das Ausstellen avancierte neben den Bemühungen um den materiellen Erhalt der Sammlungen zu den wichtigsten Feldern der musealen Arbeit. Die neue Orientierung an einer publikumsbezogenen Museumsarbeit ging mit der Vervielfältigung der Formen der Wissensvermittlung und der durch die Einrichtung von Zweigstellen im gesamten schweizerischen Raum erweiterten Präsenz einher. Nicht mehr die kunsthistorisch informierte Stil- und Gattungslehre leitete die Museumsarbeit, sondern die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.

Joss will die Leistung ihrer Arbeit als ergänzenden und differenzierenden Beitrag zur bisher vernachlässigten Geschichte der Praktiken musealer Arbeit verstanden wissen. Dies ist ihr grossartig gelungen. Ihre Studie reiht sich in einen Forschungstrend ein, der das Depot als Ort begreift, an dem Innovationen generiert werden und Deutungsmacht verhandelt wird. Sie macht diese Dynamiken sichtbar und konterkariert so das museumskritische Klischee der stagnierenden, absterbenden Institution. Überzeugend revidiert sie auch die museumstheoretische Annahme vom Museum als «ökonomiefreie Zone» (S. 81). Sie beleuchtet das Museum unter diesem Aspekt beispielsweise als Akteur auf dem Kunstmarkt im 20. Jahrhundert und thematisiert die Handelsbeziehungen des Landesmuseums mit dem «Schweizer Händler des ‹Dritten Reiches› par excellence» (S. 130). So erweitert sie die Forschung zur neueren und neusten Geschichte des Museums um einen wichtigen Aspekt, der bereits für die Gründungsphase (1883−1902) bearbeitet wurde.1

Die Autorin rekonstruiert diese Entwicklungen überzeugend, indem sie eine Vielzahl unterschiedlicher Quellengattungen kombiniert; neben Inventarbüchern und Objektdatenbanken, schriftlichen Quellen des Museums- und Bundesarchivs, bezieht sie auch Objektbiografien sowie ethnografisches Material und Leitfadeninterviews in ihre Untersuchung ein. Durch ihre praxeologisch ausgerichtete historische Arbeit gibt Joss wertvolle Impulse für die museumshistorische Forschung und durch ihre historisch-vergleichende Perspektive Anregungen für die gegenwartsbezogene kulturwissenschaftliche Museumsforschung. Ihre Arbeit birgt darüber hinaus ein grosses Potenzial für weiterführende Forschungen sowie Denkanstösse für die Museumspraxis.

Joss leitet ihre Forschungsperspektive aus Ansätzen der historischen Wissenschaftsgeschichte her. Ihr Zugang schliesst zudem an Forschungen der jüngeren Mikrogeschichte und historischen Anthropologie an, die in Abgrenzung zu semiotischen Ansätzen das kreative Potential von Sammelpraktiken betonen (vgl. S. 20–24).

Mit ihrem Ansatz grenzt sich Anna Joss dezidiert von einem Forschungstrend ab, der Museumsgeschichte als Nationalgeschichte denkt und dadurch mitkonstruiert (S. 16). Die starke Kontextualisierung und Relativierung des Nationalen ermöglicht einerseits konkretere und differenziertere Einsichten in die Sammlungsgeschichte des Museums. Sie birgt jedoch gerade in dem von ihr gewählten Fall des Schweizerischen Nationalmuseums die Gefahr, wesentliche Denkkategorien der Museumsarbeit und deren «kulturpolitische Priorität» (S. 237) aus dem Blick zu verlieren. Eine moderatere perspektivische Verschiebung, die den Referenzraum des Nationalen in der Analyse des Wandels der musealen (Wissens-) Praktiken konsequenter berücksichtigte, würde es ermöglichen, dem von der Autorin formulierten Anspruch − «allgemeine Schlüsse zur Geschichte der Nationalmuseen im 20. Jahrhundert» zu ziehen und verschiedene Dimensionen von Geschichtlichkeit herauszuarbeiten (S. 12, 245f.) − noch grundlegender zu entsprechen.

Anna Joss ist es gelungen, ein sehr verständliches und anschauliches Buch zu verfassen. Dazu tragen auch der klare Aufbau, die Textgestaltung und die zahlreichen Fotografien bei. Die Autorin führt das interessierte Laien- sowie das sachkundige Fachpublikum durch ihr Werk, ohne es zu überfordern.

Das Buch ist eine wertvolle Ergänzung museumshistorischer wie -analytischer Arbeiten und füllt durch seine innovative Perspektive eine klaffende Lücke in der Forschungsliteratur.

1 Vgl. Chantal Lafontant Vallotton, Entre le museÅLe et le marcheÅL. Heinrich Angst: collectionneur,marchand et premier directeur du MuseÅLe national suisse, Bern 2007.

Zitierweise:
Anja Früh: Rezension zu: Anna Joss, Anhäufen, Forschen, Erhalten. Die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums 1899 bis 2007, Baden: Hier und Jetzt, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 256-258.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 256-258.

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