M. Gallati: Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920–1950

Cover
Titel
Entmündigt. Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920–1950


Autor(en)
Gallati, Mischa
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Janine Vollenweider

In Entmündigt gewährt Mischa Gallati den Leserinnen und Lesern seiner Dissertation einen vertieften Einblick in den Wandel der Vormundschaft über Erwachsene im Bern der 1920er bis 1940er Jahre. Besonders interessiert ist er dabei – in Anlehnung an Michel Foucault – an der «Mikrophysik» von Vormundschaft, die als «machtvoll gegliedertes Beziehungsgefüge» (S. 13) verstanden wird. Der Autor führt seine Leserschaft aus praxeologischer Perspektive durch die Entstehungsgeschichte der Vormundschaft. Dabei stützt er sich neben Foucault auf Ansätze und Konzeptionen von Max Weber (Macht, Gewalt und Herrschaft), Bruno Latour (Akteur-Netzwerk-Theorie) und Erving Goffman (Territorien des Selbst), die sich in der Forschung zum Fürsorgebereich durchgesetzt haben. Entlang herausgearbeiteter Entwicklungslinien nimmt Gallati eine Verortung des institutionellen Settings in Bern vor, um anschliessend den behördlichen Vollzug vormundschaftlicher Massnahmen zu betrachten sowie nach deren inneren Mechanismen zu fragen.

Die gelungene Einleitung mit dem vielversprechenden Titel «Der Historiker und der soziale Tod» weist feinfühlig auf die grundlegenden Besonderheiten der schwierigen Thematik und auf die damit verbundenen spezifischen Arbeitsaufträge für Historikerinnen und Historiker hin. Denn im Umgang mit Protokollbänden, Akten, Personendossiers oder Jahresberichten sei zwar analytische Distanz gefordert, erläutert Gallati, andererseits würden sich hinter den Quellen «handelnde, zum Handeln gebrachte, mitunter gezwungene, oft mit sich und der Welt hadernde Akteurinnen und Akteure» (S. 10) verbergen. Die Berücksichtigung dieser Aspekte gelingt dem Autor in seiner Forschung auf eindrückliche und vorbildliche Art und Weise. Die Einleitung skizziert weiter seinen fundierten Umgang mit Theorie und Methode.

Zu Beginn untersucht Gallati die Herausbildung der modernen Vormundschaft im 20. Jahrhundert und zieht den Faden dabei weiter bis zur neusten Reform des Vormundschaftsrechts im Jahr 2013. Eine der wichtigsten Veränderungen in den Praktiken der Vormundschaft betraf die Klientel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geriet nur ins Visier der Vormundschaftsbehörden, wer zu schützendes Vermögen besass. Danach wurde der Kreis der potentiell Betroffenen auf vermögenslose Personen ausgeweitet, die aus der bürgerlichen Perspektive der Gesetzgeber nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen und somit durch Entrechtung wieder auf eine für die Gesellschaft «unschädliche» Bahn zurückgebracht werden sollten. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem institutionellen Setting der Berner Vormundschaftsbehörden im Untersuchungszeitraum. Gallati zeigt, dass das Spektrum der in das gesamte Fürsorgesystem integrierten Akteurinnen und Akteure äusserst breit war; sowohl professionalisierte Personen, semiprofessionelle Milizorgane als auch private Gruppierungen betätigten sich in diesem Feld. Anschliessend steht die Arbeit der Behörden bezüglich des Vollzugs vormundschaftlicher Massnahmen im Zentrum. Mithilfe statistischer Daten weist Gallati auf allgemeine Entwicklungen und Tendenzen hin und charakterisiert die titelgebende Entmündigung auf diese Weise als ein spezifisches Phänomen des 20. Jahrhunderts. Des Weiteren thematisiert Gallati schliesslich die Handlungslogiken der entmündigten Personen und betont, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch im privaten Reagieren auf öffentliche Handlungen zum Vorschein kommen und immer wieder neu über polymorphe Interaktionsprozesse produziert und reproduziert werden. Er gelangt unter Bezugnahme auf Goffman zur Festlegung von drei Modi in den Verhaltensmustern Betroffener,
die er Dissens, Verschwinden und Mimikry nennt.

Jeweils am Ende der Kapitel erwartet die Leserschaft eine individuelle Fallgeschichte einer entmündigten Person aus dem Untersuchungszeitraum. Diese Erzählungen vermögen das Buch neben den inhaltlich-analytischen Kapiteln angenehm zu beleben. Sie bilden einen willkommenen Gegensatz zu den in den Hauptkapiteln zuweilen etwas breit ausgefallenen Theorieblöcken, bei deren methodischer Übersetzung in die Kernthematik die Leserinnen und Leser manchmal ein wenig allein gelassen werden. Bewusst spricht Gallati bei diesen Fallgeschichten, deren Nacherzählungen nur auf Fürsorge- und Vormundschaftsakten basieren, nicht von «Biografien» oder «Lebensgeschichten», da sie in ihren institutionellen und lebensweltlichen Kontexten belassen werden sollen. Auf diese Weise beabsichtigt Gallati, den konstruierten und gleichwohl konstruierenden Charakter des Quellenmaterials zu unterstreichen und den entmündigten Menschen etwas von der Handlungsmacht zurückzugeben, die ihnen seitens der Behörden vorenthalten wurde. Diesen lobenswerten Vorsatz vermag Gallati indes nur teilweise zu erfüllen, da die gewählte Präsentationsform aufgrund der berücksichtigten Quellenbasis zwangsläufig einseitig bleibt. Daher hätte man sich bei der Verfolgung dieses Anspruchs den Miteinbezug von Interviews mit Betroffenen und die Analyse allfälliger Ego-Dokumente von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gewünscht. Gallati unterlässt es aber nicht, in seinem Schlusswort auf dieses Forschungsdesiderat im Feld der Vormundschaft über Erwachsene hinzuweisen. Letztlich liefert seine Dissertation einen wertvollen und sehr lesenswerten Beitrag zur historischen Aufarbeitung fürsorgerischer Praktiken, in deren Feld bislang vor allem der Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge analysiert worden ist.

Zitierweise:
Janine Vollenweider: Rezension zu: Mischa Gallati, Entmündigt. Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920–1950, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 116-117.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 116-117.

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