E. Eugster: Winterthurer Stadtgeschichte

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Titel
Winterthurer Stadtgeschichte.


Herausgeber
Eugster, Erwin
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
2 Bände, 463 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Weibel

Zu Winterthur wurde die Stadtgeschichte eifrig gepflegt. Bereits in den Jahren 1840 bis 1850 verfasste Johann Conrad Troll eine achtbändige (!) Geschichte der Stadt Winterthur, nach Urkunden bearbeitet, die schon recht viel Alltagsgeschichte enthält. In den Neujahrsblättern der Stadtbibliothek Winterthur sind sodann mehrere gute Arbeiten zu einzelnen Aspekten der Stadtgeschichte publiziert worden, und 1960 und 1979 erschien von Werner Ganz eine materialreiche Darstellung der Geschichte der Stadt Winterthur in zwei Bänden. Sie reichte allerdings nur bis zum Jahr 1922.

Zum 750-Jahr-Stadtjubiläum von 2014 ist unter der Projektleitung von Erwin Eugster eine ebenfalls zwei gewichtige Bände umfassende neue Stadtgeschichte herausgekommen, die bis zur Gegenwart reicht. Sie zeigt, welche grossen Fortschritte die Geschichtsschreibung in der Zwischenzeit gemacht hat und wie Geschichte heute präsentiert wird. Während die Darstellung von Werner Ganz noch recht trocken daherkommt und nur Text beinhaltet, ist die neue auch für das Auge konzipiert. Rund 700 sachbezogene Illustrationen und Graphiken beleben den Text, der häufig dazu einlädt, mittels Stadtrundgängen mit eigenen Augen das Gelesene zu vertiefen. Angesichts der vielen neuen Forschungserkenntnisse und Themenstellungen ist die neue Stadtgeschichte von einem Kollektiv von acht durch einschlägige Publikationen ausgewiesene Autoren/-innen geschrieben worden. Sie haben zumeist grössere Zeitabschnitte beziehungsweise ab 1850 mehrere Themen bearbeitet. Das ermöglichte es ihnen, Schwerpunkte zu setzen und Entwicklungen aufzuzeigen. Für den Leser ergibt das eine spannende Lektüre ohne ermüdende Wiederholungen, wie es hin und wieder der Fall ist, wenn der Stoff unter (allzu) vielen Autoren aufgeteilt wird.

Der erste Band, der die Zeit bis 1850 umfasst, ist chronologisch gegliedert. Renate Windler behandelt die Zeit bis 1300, wobei sie gekonnt die vielen bedeutsamen archäologischen Funde erläutert, die in den letzten Jahrzehnten zu Winterthur gemacht worden sind. Dazu gehört etwa die bereits um das Jahr 1000 angelegte Adelsgrablege in der Kirche.

Die Zeit von 1350 bis 1550 ist bei Peter Niederhäuser in besten Händen. Er macht verständlich, wie es den Habsburgern trotz verhältnismässig schwacher Präsenz gelang, die Stadt Winterthur im 13. und 14. Jahrhundert in die Landesherrschaft einzubinden und sich die Treue der Führungsschichten zu sichern. Das Ancien Régime bis 1750 schildert Martin Leonhard unter der Überschrift Blühend, aber ein politisches Leichtgewicht. Besonders deutlich äusserte sich das darin, dass die Stadt Zürich im 17. Jahrhundert wiederholt verhinderte, dass die Munizipalstadt Winterthur in der näheren Umgebung Gerichtsherrschaften erwerben konnte. Weil Zürich nach 1700 mit protektionistischen Massnahmen die freie Entwicklung protoindustrieller Produktionsformen ausbremste, verlagerten viele Winterthurer ihre Tätigkeit von der Textilproduktion auf den Garn- und Gewebehandel, der sich bis nach 1750 zum wichtigsten Wirtschaftszweig der Stadt entwickelte. Katharina Baumann zeigt in ihrem Beitrag über die Zeit von 1750 bis 1850 auf, dass es in Winterthur zur Zeit der Restauration schon früh Anzeichen einer liberalen Opposition gab. Schliesslich stellte Winterthur mit Jonas Furrer den ersten Zürcher Bundesrat. Noch immer bildeten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Handelshäuser einen entscheidenden Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Zu dieser Zeit machte aber auch schon Johann Jakob Sulzer erste Versuche im Eisenguss, und 1826 richtete der aus dem Handel kommende Johann Jacob Rieter in Töss eine Werkstatt ein, in der Spinnmaschinen hergestellt wurden. Geschildert wird auch die grosse Belastung der Stadt durch die französischen Besatzer, wenn auch die angegebene Zahl von 200’000 einquartierten Soldaten wohl nicht eine absolute Zahl, sondern Manntage waren. Auf ein halbes Jahr umgerechnet wären dann zu Winterthur durchschnittlich etwa 1100 Mann einquartiert gewesen; eine immer noch beträchtliche Zahl für eine Stadt von damals nur 3000 Einwohnern.

Der zweite Band ist thematisch gegliedert. Verena Rothenbühler befasst sich mit der Siedlungsentwicklung und dem Städtebau, der Religion und der Kirche, der Bildung und der Schule sowie der Kultur und Kunst. Im ersten Kapitel werden nicht nur die Entwicklung Winterthurs zur Gartenstadt und der Bau von Arbeitersiedlungen im Stil der neuen Sachlichkeit dargestellt, sondern auch die in den letzten Jahren erfolgte neue Nutzung des von der Industrie aufgegebenen Areals im Stadtzentrum. Aus dem ehemaligen Sulzer-Areal wurde ein durchmischtes Stadtviertel, das inzwischen den Rang eines internationalen Vorzeigeprojektes erreicht hat. Im Kapitel Religion und Kirche wird etwa der in der reformierten Kirche bis in die 1940er Jahre hinein geführte Kampf einer liberalen Richtung, welche aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit dem christlichen Weltbild zu verbinden suchte, gegen die sogenannten Biblizisten geschildert, die sich gegen die Relativierung der biblischen Botschaft wandten. Anschaulich werden auch der religiöse Wertewandel und die Individualisierung des Glaubens seit 1950 dargestellt. Den internationalen Ruf als Kulturstadt verdankt Winterthur einem ausgeprägten Mäzenatentum des unternehmerischen Bürgertums. Die Autorin bemerkt, dass die einflussreichen Familien nicht nur mit der Vermehrung ihres Vermögens beschäftigt waren, sondern einen grossen Teil ihres Geldes für gemeinnützige oder kulturelle Zwecke ausgaben. Es ist deshalb nicht zufällig, dass auch die neue Stadtgeschichte zu einem grossen Teil aus Geldern der von Adele Koller-Knüsli, der Tochter und Ehefrau von Unternehmern, 1924 ins Leben gerufenen Stiftung finanziert werden konnte.

Adrian Knoepfli ist der Autor der Kapitel Von der Herrschaft der Demokraten zu Rot-Grün und Vom Baumwollhandel zur Industrie – und zur Bildungsstadt. Es war eine gute Idee, denselben Autor mit der Darstellung der politischen und der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt zu beauftragen; beide hängen nämlich eng zusammen. So war etwa die Stadt massiv in die Gründung der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik involviert und an nicht weniger als an drei Banken beteiligt, unter anderem auch an der Bank in Winterthur, einer der Vorgängerbanken der heutigen UBS. Die Stadt beteiligte sich auch an der Eisenbahnlinie von Zürich nach Romanshorn. Als verhängnisvoll erwies sich indessen die Beteiligung der demokratisch regierten Stadt an der Nationalbahn. Das Debakel dieser Bahn lähmte die Finanzen der Stadt über Jahre hinweg. Die Entwicklung Winterthurs zu einer bedeutenden Industriestadt, vorwiegend der Metallverarbeitung, führte zum Entstehen einer Arbeiterbewegung. Diese stand anfänglich im Windschatten der Demokraten. Zwischen diesen und dem Grütliverein kam es erst in den späten 1890er Jahren zum Bruch. Nominell wurde eine SP erst 1911 gegründet. Anhand der Person von Albert Locher zeigt der Autor auf, wie die Grenzen um 1900 noch fliessend waren: Als Mitglied der demokratischen Bewegung sass Locher im eidgenössischen Parlament, wurde 1891/92 Präsident des Grütlivereins und amtete von 1907 bis 1911 als Vizepräsident der FDP Schweiz.

Samuel Studer beschäftigt sich mit den Themen Freizeit und Der Winterthurer Medienplatz. Das Thema Freizeit konzentriert er auf diese Aspekte: Vereine, Bäder, Ferienkolonien und öffentliche Feste. Er schildert, wie den oft über Jahrzehnte hinweg gleichbleibenden Vereinszwecken ein Wandel des Vereinslebens gegenübersteht, der interessante Einblicke in die Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens gewährt.

Andres Betschart war das Kapitel Verkehr und städtische Infrastruktur anvertraut worden. Er zeigt auf, wie der öffentliche Verkehr während der Zeit der Hochkonjunktur in den 1960er und 1970er Jahren gegenüber dem Individualverkehr den Anschluss verlor, sich indessen seit 1980 dank der S-Bahn wieder im Vorteil befindet. Aufschlussreich ist der Hinweis des Autors, auf welchen tiefgreifenden Wandel eine sechzigjährige Person im Jahr 1910 zurückblicken konnte: Das Wasser musste nicht mehr am Brunnen geholt werden, Abwasser floss durch eine Kanalisation und nicht einen stinkenden Ehgraben ab, und Gas und Elektrizität brachten saubere und russfreie Energie in die Wohnung.

Häufig wird von den Autoren auf das nicht immer problemfreie Verhältnis der Munizipalstadt Winterthur zur Hauptstadt Zürich hingewiesen. Mit durchaus berechtigtem Lokalpatriotismus können sie jedoch viele Punkte anführen, in welchen die Stadt Winterthur führend war. So befand sich die erste chemische Fabrik der Schweiz in Winterthur, mit dem Stadthaus steht eines der bedeutendsten Bauwerke des 19. Jahrhunderts in Winterthur, und die erste Zonenbauordnung wurde 1909 zu Winterthur erlassen. Die Stadt Winterthur hat nun auch eine neue, nach modernen Kriterien ausgearbeitete Stadtgeschichte, die sich auch mit dem Alltag, der Geschlechtergeschichte und der Bevölkerung befasst und deren exzellente graphische Gestaltung und gut lesbares Schriftbild das Lesen zur Freude machen. Die Stadtzürcher können die Winterthurer um diese neue gelungene Stadtgeschichte nur beneiden. Letztmals ist nämlich 1914 eine Geschichte der Stadt Zürich erschienen, die allerdings nur die Zeit von 1814 bis 1914 umfasst (Bilder aus der Geschichte der Stadt Zürich). Die von Sigmund Widmer in den Jahren 1975 bis 1986 publizierte Geschichte der Stadt Zürich bezeichnet sich sodann selber (nur) als eine Kulturgeschichte.

Zitierweise:
Thomas Weibel: Rezension zu: Erwin Eugster (Hg.), Winterthurer Stadtgeschichte, im Auftrag der Stadt Winterthur und der Adele Koller-Knüsli-Stiftung, 2 Bände, Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 450-452.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 450-452.

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