U. Emch: Die Berner Nydeggbrücke

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Titel
Die Berner Nydeggbrücke. Geschichte einer bautechnischen Pionierleistung


Autor(en)
Emch, Urs
Erschienen
Bern 2013: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Die Nydeggbrücke (erbaut 1840 – 1845) war die erste Hochbrücke Berns und sie ist auch die erste, der eine wissenschaftliche Monografie gewidmet wird. Sie wurde vom ETH-Bauingenieur Urs Emch verfasst, der 1976 – 2006 in Bern ein eigenes Ingenieurbüro führte. Emch ist sicher der beste Kenner der Nydeggbrücke, sein Büro war u. a. spezialisiert auf die Renovation von Steinbrücken (Nydeggbrücke, Alte Schwarzwasserbrücke, Scherlibachbrücke). Unter Zuzug von hochkarätigen Fachleuten als Koautoren entstand durch vorbildliche interdisziplinäre Zusammenarbeit eine faszinierende Brückengeschichte, die weit über die Baugeschichte hinaus in die politische Geschichte der Zeit hineinleuchtet und beispielsweise auch einen substanziellen Beitrag zur Verkehrsgeschichte Berns im 19. Jahrhundert leistet.

Der Aaregraben war in alten Zeiten politisch-militärisch Berns Segen, bis heute ist er verkehrstechnisch Berns Fluch. Erst seit ca. 1250 ersetzte an der Spitze der Aarehalbinsel eine hölzerne Brücke die Fähre. Sie wurde 1491 durch die heutige Untertorbrücke ersetzt. Seither schwitzten Fussgänger, Fuhrleute und Pferde an den Steigungen vom Aareniveau gegen die Oberstadt resp. gegen das Galgenfeld. Es nützte nichts, die steile Haspelgasse durch den Alten Aargauerstalden und diesen 1758 durch den heutigen Aargauerstalden zu ersetzen. Die Steigung blieb. Nur eine Hochbrücke konnte Abhilfe schaffen. Schon 1779 reichte deshalb Architekt Niklaus Sprüngli das Projekt einer doppelstöckigen Untertorbrücke ein. 20 Häuser an der unteren Gerechtigkeitsgasse cund die Nydeggkirche wollte er dafür opfern.

Um 1820 nimmt der Verkehr, bedingt durch die anlaufende Industrialisierung, massiv zu, sodass wieder über eine Hochbrücke nachgedacht wird. Der Altschultheiss Karl Anton von Lerber und der Bauingenieur Albrecht von Sinner ergreifen die Initiative. Zwischen 1829 und 1835 führen sie an der Untertorbrücke Verkehrszählungen durch, evaluieren Brückenstandorte. Das Richtige wäre eine Kornhausbrücke. Doch die würde die untere Altstadt, wo die meisten Patrizier ihre Wohnsitze haben, vom Verkehr abschneiden. Klar ist, dass die neue Brücke von Privaten gebaut und durch die zu erhebenden Brückenzölle finanziert werden soll. Also wird eine Aktiengesellschaft gegründet. Nun beginnt eine hektische Diskussion um verschiedene Varianten einer Nydeggbrücke, welche der Autor Urs Emch akribisch erforscht und dokumentiert hat. Schliesslich muss der Grosse Rat die Konzession erteilen. Zu reden gibt die Frage, ob auch Kinder, Arme, Krankentransporte und der öffentliche Verkehr für das Benutzen der Brücken einen Zoll zu entrichten haben. Nach internationaler Ausschreibung (wie modern!) wird der Auftrag dem Urner Unternehmer und Bauingenieur Karl Emanuel Müller anvertraut. Ihm widmet der Koautor Hans Stadler-Planzer (S. 84 – 86) eine informative Monografie.

Müller baute die Brücke zwischen 1840 und 1844. Sie stellt eine bautechnische Pionierleistung dar. Mit ihrer Bogenspannweite (Mittelbogen) von 46 m gehört sie zu den bedeutendsten Naturstein-Bogenbrücken der Welt. Erst nach 140 Jahren wurde eine Renovation fällig (abgeschlossen 1991), die fast ausschliesslich Verwitterungsschäden betraf. (Moderne Autobahnbrücken müssen in der Regel nach wenigen Jahrzehnten totalsaniert werden.) Die Nydeggbrücke wurde für Fussgänger und Pferdefuhrwerke gebaut, heute trägt sie problemlos 40-Tonnen-Camions.

Die vierjährige Baugeschichte wird von Urs Emch exakt und eindrücklich dargestellt. Das Erfahrungswissen der Brückenbauer stand bis ins 19. Jahrhundert über den theoretischen Kenntnissen. Es existierte ein enormes Wissen über Konstruktionsarten, Abmessungen, Baustoffe, Baumethoden, Vermessung und so weiter. Bei jedem Bauwerk stellen sich andere Probleme.

Bei der neuen Nydeggbrücke stellte sich die Frage, wie sie zu fundamentieren sei. In welcher Tiefe liegt die tragfähige Sandsteinschicht? Die Sondierlöcher (bis 12 m) werden damals noch mit Pickel und Schaufel gegraben, nicht mit dem Bagger. Der Baugrund ist instabil (was die Erbauer des Bärenparks im 21. Jahrhundert eigentlich aus dem Bau der Nydeggbrücke hätten lernen können), die Aare führt Hochwasser und flutet die Baugruben für die beiden Pfeiler des Lehrgerüsts, beim Graben der Fundamente für die Stützmauer rechts der Aare kommen Särge aus dem ehemaligen Klösterlifriedhof zum Vorschein, die Kegelbahn der Klösterliwirtschaft wird beschädigt, die Wassertemperatur der Aare beträgt im Winter fünf Grad. Woher ist ein Mörtel für Bauteile unter Wasser zu bekommen, der unter Wasser aushärtet? Zement im heutigen Sinn stand damals noch nicht zur Verfügung. Die Stützmauern bei der Nydeggkirche sind nach Hinterfüllen mit Schüttmaterial dem Druck nicht gewachsen. Es braucht zusätzliche Strebepfeiler. Kurz, die Probleme häufen sich und die Kosten laufen davon.

Ein weiteres Problem ist die Beschaffung des Steinmaterials für die Brücke. Jurakalk, Sandstein oder Granit? Woher kommen die Quader? Es gibt noch kein Eisenbahnnetz. Der Geologe Toni Labhart beleuchtet diesen Fragenkomplex (S. 139 – 144). Wer hätte gedacht, dass in der Nydeggbrücke sechs Gesteinssorten verbaut wurden (dazu Eichenpfähle, Beton und Schüttmaterial)? Es wurden rund 27 000 m3 Festgestein verbaut, davon 20 000 m3 Berner Sandstein, was 75 % der Baumasse entspricht. 15 % sind Kalksteine und 10 % Granit, aus dem die Balustraden der Brückenfahrbahn bestehen. Er wurde von Findlingen gewonnen, was Transportkosten sparte.

Karl Emanuel Müller meisterte diese enormen Schwierigkeiten souverän, und die Brücke ist ein eindrückliches Beispiel damaliger Ingenieurskunst. Trotzdem: Das Bauwerk wurde zur falschen Zeit am falschen Ort erbaut. Die hinderlichen Höhendifferenzen zwischen Theaterplatz, Aareniveau und dem Plateau des Galgenfeldes wurden zwar verkleinert, aber nicht zum Verschwinden gebracht. Die Zolleinnahmen genügten nicht, um das Unternehmen im finanziellen Gleichgewicht zu halten (die Untertorbrücke blieb ja als Ausweichmöglichkeit bestehen), und mit der Bundesverfassung von 1848 kam das Ende der Binnenzölle in der Schweiz. Die Zukunft gehörte den Hochbrücken aus Stahl. Sie ermöglichten das rasante Wachstum der Stadt über den Aaregraben.

Das Werk ist reich illustriert mit zeitgenössischen Ansichten, Plänen, Reproduktionen von Dokumenten, Fotografien und Grafiken. Besonders erwähnenswert sind die 20 ganzseitigen und farbigen Fotografien der heutigen Nydeggbrücke, die eine Grafikklasse der Schule für Gestaltung Basel beigesteuert hat. Sehr schön sind auch die Titelseiten der einzelnen Kapitel, die jeweils auf braunrotem Grund in Weiss eine Brückenansicht, die Reproduktion eines Dokuments oder eines Planes zeigen. So erfüllt der Band auch in ästhetischer Hinsicht höchste Ansprüche. Am Schluss bleibt eine Frage: Wann und durch wen bekommen die andern Berner Brücken ähnliche meisterhafte Monografien, wie wir sie von der Nydeggbrücke haben?

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Emch, Urs: Die Berner Nydeggbrücke. Geschichte einer bautechnischen Pionierleistung. Mit Beiträgen von Jörg Amport, Christine Bläuer, Hans Rudolf von Dach, Emil Erne, Daniel Flückiger, Christian Kissling, Toni Labhart, Dieter Schnell, Heinz Schürer, Hans Stadler-Planzer. Bern / Stuttgart / Wien: Haupt Verlag 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 52-55.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 52-55.

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