A. Vatter: Vom Schächt- zum Minarettverbot

Cover
Titel
Vom Schächt- zum Minarettverbot.


Herausgeber
Vatter, Adrian
Erschienen
Zürich 2011: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Wilfried Marxer

Der Sammelband Vatters, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern, ist im Rahmen des Forschungsprojektes «Religiöse Minderheiten und direkte Demokratie» als Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft » entstanden. Er vereinigt in sich dreizehn Aufsätze, die teilweise von Einzelautoren, teilweise in Ko-Autorenschaft geschrieben wurden. Neben Adrian Vatter zeichnen Deniz Danaci, Christian Bolliger, Anna Christmann, Thomas Milic, Hans Hirter und Oliver Krömler für einzelne Beiträge, wobei die meisten als Autoren mehrfach in Erscheinung treten. Das NFP 58 widmete sich der Rolle von Religion und Religionsgemeinschaften in den modernen Gesellschaften. Beleuchtet wurden Aspekte der religiösen Vielfalt, die spezifische Lage der Muslime, Religion in öffentlichen Institutionen, der Themenbereich Jugendliche, Schulen und Religion, Formen religiösen Lebens sowie der Zusammenhang von Religion, Medien und Politik, in welchem auch das Projekt unter der Leitung von Vatter zu verorten ist.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Stigmatisierung einzelner Religionsgemeinschaften, akzentuiert noch durch die Volksabstimmung vom 29. November 2009 zum Bauverbot von Minaretten, drängte sich eine vertiefte Beschäftigung mit dem Verhältnis von Politik und Religion auf. Vatters Teilprojekt konzentriert sich auf die Rolle der direkten Demokratie in diesem Kontext, zugespitzt auf die zu untersuchende Frage, ob direkte Demokratie zu einer Tyrannei der Mehrheit beziehungsweise zur Unterdrückung religiöser Minderheiten führt. Diese Fragestellung ist nicht nur aus schweizerischer Perspektive hochaktuell. Forderungen nach einem Ausbau von direktdemokratischen Mitbestimmungsrechten nehmen ausserhalb der Schweiz zu. Da die Schweiz das Vorzeigeland direkter Demokratie ist, wird die Rolle von Volksabstimmungen in der Schweiz mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Der uralte Vorbehalt, dass Volksentscheide zur Irrationalität tendieren sowie potentiell Grund- und Menschenrechte verletzen, hat durch die Minarettverbotsinitiative, die mit 57,5 Prozent an der Urne und der Mehrheit der Stände angenommen wurde, Auftrieb erhalten.

Es ist daher als grosses Verdienst der Forschungsgruppe anzusehen, sich diesem Thema zu widmen. Der Vorzug des Forschungsprojektes besteht unter anderem darin, dass in der Forschungsstrategie vier verschiedene Zugänge definiert wurden, um die Determinanten für den Ausgang von Volksabstimmungen zu religiösen Minderheiten zu eruieren. Dazu wurden einerseits verschiedene Volksabstimmungen zu religiösen Minderheiten einem internen Quer- und Längsschnittvergleich unterzogen, es wurden Volksabstimmungen zu religiösen Minderheiten und anderen Minderheiten verglichen, ebenso Volksabstimmungen und parlamentarische Entscheide zu religiösen Minderheiten sowie schliesslich ein externer Querschnittsvergleich mit Deutschland hinsichtlich Minarett- und Moscheekonflikten angestellt.

Basierend auf den Befunden vergangener Abstimmungsforschung formulierte das Forschungsteam eine Leithypothese: «Die direkte Demokratie stellt nicht per se ein Instrument für die Mehrheit zur Tyrannei gegenüber einer religiösen Minderheit oder umgekehrt ein effektives Mittel zum Schutz von religiösen Minderheiten dar. Vielmehr hängt ihre Wirkung stark von den Konfliktkonstellationen der Akteure im politischen Entscheidungsprozess, den Haupt- und Nebeninhalten der Abstimmungsvorlage, den spezifischen Merkmalen und Anliegen der betroffenen Minderheit und dem jeweiligen sozio-ökonomischen und institutionellen Kontext ab» (24).

Die Abstimmungsgeschichte der Schweiz bietet eine Fülle an Urnengängen mit Bezug zu religiösen Minderheiten, sowohl auf kantonaler wie auch auf Bundesebene. Sie beginnt mit einer kantonalen Abstimmung über ein Verbot der Niederlassungsund Gewerbefreiheit für Schweizer jüdischen Glaubens im Kanton Basel-Landschaft 1851. Im Sammelband reicht die Reihe bis zur Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» 2009. Insgesamt werden für den gesamten Zeitraum sieben Volksabstimmungen auf Bundesebene und 21 auf Kantonsebene registriert. Grenzfälle wie etwa die Abstimmung über das Antirassismusgesetz von 1994, welches nicht explizit religiöse Minderheiten thematisiert, sowie Abstimmungen auf kommunaler Ebene – etwa zum Planungs- und Baurecht mit Wirkung auf Friedhöfe und religiöse Bauten oder die Ausgestaltung des Schulunterrichts – wurden ausgeklammert.

Im 19. Jahrhundert stand bei den meisten Abstimmungen mit Bezug zu religiösen Minderheiten der jüdische Glaube im Zentrum. Es ging dabei um Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, Glaubensund Kultusfreiheit bis hin zur Volksinitiative «für ein Verbot des Schächtens ohne vorherige Betäubung», die 1893 mit 60,1 Prozent angenommen wurde. Erst seit den 1960er Jahren sind weitere Abstimmungen zu religiösen Minderheiten zu beobachten. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei um kantonale Abstimmungen über die Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Dabei ging es zunächst je nach Kanton um die Anerkennung der römisch-katholischen oder der evangelisch-reformierten Kirchgemeinden, in weiteren Fällen oder auch gleichzeitig um die Anerkennung weiterer religiöser Gemeinschaften. Hinzu kamen Bundesabstimmungen über eine Lockerung des Schächtverbots (1973), die Aufhebung des Jesuiten- und des Klosterartikels in der Bundesverfassung (1973), die Aufhebung der Genehmigungspflicht für die Errichtung von Bistümern (2001) und schliesslich die Minarettverbotsinitiative (2009).

Danaci weist in seinem Beitrag darauf hin, dass seit den 1960er Jahren Vorlagen zur Gleichstellung der christlichen und jüdischen Gemeinschaften angenommen, den Islam betreffende hingegen abgelehnt wurden. Eine Schlüsselrolle spielt dabei nach dessen Analyse die Unterstützung einer Vorlage durch die politischen Parteien. Christmann zeigt auf, dass Parlamentsentscheidungen tendenziell minderheitenfreundlicher ausfallen als direktdemokratische Entscheidungen. Die direkte Demokratie wirkt jedoch als Drohung («Damoklesschwert») auch auf den parlamentarischen Prozess ein. In einem Vergleich mit Deutschland stellt sie auch fest, dass Volksrechte eingesetzt werden, um Moscheen und Minarette zu verhindern, in keinem Fall aber dazu genutzt wurden, die Rechte von religiösen Minderheiten auszubauen. In diesen grundrechtsrelevanten Fragen ist ein Links-Rechts-Konflikt ebenso wie ein Elite-Basis-Konflikt festzustellen. Rechte Parteien nutzen solche Konflikte nicht selten auch zur eigenen Profilierung aus.

Die Bilanz von Vatter fällt in der Synthese wie folgt aus: «Die Volksentscheide zu religiösen Minderheiten der letzten 160 Jahre sind kurz zusammengefasst eine Kaskade von Verzögerungs-, Ablehnungsund Verschärfungsbeschlüssen» (284). Dabei steht gegenwärtig der Islam im Brennpunkt, wobei in der Meinungsbildung Fragen der Religion, der gesellschaftlichen Integration und Eindrücke internationaler Ereignisse munter vermischt werden. Traditionalisten und Modernisierer treffen in Fragen der religiösen Toleranz hart aufeinander. Zu beachten sind einige zentrale Konklusionen von Vatter, die sich aus diesem kritischen Befund ergeben. So könnte mittels eines geeigneten Vorprüfverfahrens die Konformität von Volksinitiativen mit Grund- und Menschenrechten sowie dem Völkerrecht gewährleistet werden. Ebenso bedeutsam ist der Hinweis, dass sich ablehnende Volksentscheide insbesondere auf gesellschaftliche Outgroups beziehen. Dies kann als Auftrag verstanden werden, die gesellschaftliche Integration stärker zu fördern.

Der Sammelband ist eine reiche Fundgrube an Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Konfliktpunkten betreffend religiöse Minderheiten und die Rolle der direkten Demokratie in diesem Kontext. Die unterschiedlichen methodischen Zugänge, die breite empirische Datengrundlage, die Länge der Beobachtungsperiode und eine gelungene Synthese aller Teilberichte sind für den Leser eine Bereicherung. Sie helfen substantiell, eine Forschungslücke zu schliessen.

Zitierweise:
Wilfried Marxer: Rezension zu: Adrian Vatter (Hg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 475-475.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen